Zwischen Himmel und Erde.

[256] Gegengewicht gegen solche bangschwülen Grübeleien war ein Schaffensdrang, wie ihn gesunde Jugend in den Jahren des Wachstums und der beginnenden Mannbarkeit entfaltet. Wendelin betätigte ihn besonders als Mathematiker. Sich in die Schauungen reiner Logik zu vertiefen, war ihm Beruhigung. Ueber Zahlen und Formeln konnte er brüten bis in die tiefe Nacht, und Bücher der Mechanik, der Physik durchflog er, wie man Romane liest. Daß es nicht ohne Erfolg geschah, bewies seine Fähigkeit, die mathematischen Aufgaben der obersten Klassen spielend zu lösen. In die Philosophie Spinozas, deren mathematische Fassung schon begeisternd auf ihn wirkte, führte er mich gesprächsweise ein, und ich konnte ein wenig folgen, wenn auch mehr fühlend und schauend, als auf dem Wege begrifflichen Beweises. Der »unbekannte Gott«, den ich ahnungsvoll verehrte, wurde nunmehr spinozistisch benannt: Substanz, Natur. Ich spürte ihn im Naturgefühl, im Raunen des Waldes, in den erhabenen Schauern stürmischen Wetters, im Flockengewimmel der Winterwolken und im Aufblick zur Sternenunendlichkeit.

Während meine Art, die Natur zu lieben, versöhnlich wirkte, selbst wo Peinvolles vorlag, kam Wendelin trotz seines Spinozismus nicht hinweg über den Gegensatz, der zwischen Heiligkeit und Gemeinheit klafft. »Aber alles ist doch schließlich natürlich,«[257] entschuldigte ich. – »Stimmt,« erwiderte Wendelin, »indessen gibt es neben der Gottnatur auch Teufelsnatur – diese beiden sind bloß in der Folgerichtikkeit einik, sonscht aber derf mr die Gemeinheit net in einen Topf werfe mit dem, was ideal ischt. Ssaumäßik kann's Irdische sein!« Ich hatte den Einwand: »Vielleicht läßt sich das Irdische verklären, ohne daß man sich gleich von ihm loslöst. Ich möchte mich erst mal herumtummeln auf dem irdischen Schauplatz.«

Solche Tummelfreudigkeit wurde begünstigt durch die Wohnung am Neckarbad. Den Sommer und Herbst über hatte ich im Garten zu schaffen. Ein paar Beete mit Tisch und Bank unter der ragenden Tanne hatte mein Vater gepachtet; da wurden Erbsen und Bohnen, Salat und Blumen gezogen. Mir war's Freude, das Gewächs zu pflegen mit Hacke und Gießkanne. Das Wasser schöpfte ich hinter den Weiden aus dem Neckar, und dies stille Plätzchen gefiel mir. Kauernd starrte ich in den Fluß, der hier glatter war als draußen, und beobachtete die Fische, die als dunkle Stäbchen im flüssigen Braungold schwammen und, wenn ich mich regte, forthuschten.

Zuweilen wurde die Lauschigkeit jählings unterbrochen durch ein Floß Schwarzwälder Stämme, zu langem Zuge gereiht, von wasserstiefligen Kerlen stromab gelenkt mit Stoßstange und Hemmklotz. Rechtes Hemmen, genannt »Sperren«, war von Belang; konnte doch das Floß infolge einer Ungeschicklichkeit gegen einen Brückenpfeiler prallen oder eine Zickzackform bilden, einen Ailaboga (Ellenbogen). Diese Kunstausdrücke waren von den übermütigen Studenten aufgegriffen, um die rauhen Schwarzwälder zu foppen, während sie vom Strom an der Musenstadt vorbeigetrieben wurden, ohne sich wehren zu können. Das war eine Art Spießrutenlaufen durch einen Hagel von Spott. Kaum war das nahende Floß von einem Studenten gesichtet, als er schon aus[258] dem Fenster brüllte: »Jockele spee – a – ee – a – ee – ar!« Dieser Ruf war für die benachbarten Burschen das Signal, ebenfalls zu brüllen, und so gereichte jedes vorbeifahrende Floß den Tübingern zum närrischen Zeitvertreib. Aus allen Häusern der Wasserfront, aus fast jedem Fenster des Stifts, von der Burg her, von der Platanenallee und der Neckarbrücke, von überall her scholl es: »Jockele spee – a – ee – a – ee – ar!« Ein Dröhnen von Gelächter, ein Summen, als ob Bienen stechlustig schwärmen. Auch durch Gebärden suchten die Musensöhne den Zorn der »Knoten« anzufachen. Wer Schaftstiefel besaß, winkte damit aus dem Fenster oder hing sie heraus – eine foppende Anspielung auf die gewaltigen Flößerstiefel. Die Söhne des Schwarzwaldes vergalten den Spott, wie ihnen der Schnabel gewachsen war.

Vom Uferplätzchen behorchte ich die Wortgefechte, die an geschwollene Reden homerischer Zweikämpfer gemahnten. »He Jockele!« rief ein Studio, mit der Pfeife winkend – »gebb mr gschwind bei Pfeifle her – i han koi Fuir!« Grimmig versetzte der Flößer: »Gang zu deim Professer – laß dir von seim Pfeifenröhrle de Hintre verschlage – na hoscht Fuir!« Vorübergeflogen war die Erscheinung, und neue Baumstämme kamen. Drauf stand einer, der trotz seines grauen Bartes noch hitzköpfig schalt: »Saufa, dees könnet 'r! Schulda macha! De Vatter bestehla! Gelt?« – »Hoho, Jockele! Obacht! 's geiht en Ailaboga!« – »Red du net vom Handwerk, elend fauler Bua! Nicks bischt – so kommt an nicks derzua!« Doch wie er sich anstrengte, die Musensöhne zu verletzen, unverwundbar lachten sie, und ihre Renommierhunde bellten dazu. Uebrigens bildete die Aufregung einen Zeitvertreib, den die Flößer so wenig missen mochten wie die Studenten.

»Solch ne Wasserreise – vom Schwarzwald nach Holland – möcht ich mal mitmachen!« sprach ich zu Wilhelm Hebsacker, und[259] er antwortete: »Ha freile! Weil mr aber dees net könne, soll's wenikschtens e Kahn sein, auf dem mr Wasser fahre. Mir will net aus'm Sinn, was dr alte Faulhaber gsagt hat: aus den Balke, wo unterm Schuppen liegen, könnt mr e Kahn baue.«

»Wir bauen ihn! Hurra!« Und nun waren wir erpicht auf das Unternehmen. Ich schwärmte abermals von Robinson, und Wilhelm phantasierte davon, mittels der »Arche«, wie er unser künftiges Fahrzeug getauft hatte, eine Art Flußpiratenleben zu führen. Das Schönste an der Sache war das hoffnungsfrohe Durchführen des Planes. Die Holztrümmer wurden ausgemessen, Zeichnungen entworfen, Materialien beschafft, wie Bretter, Nägel, Werg und Teer, auch Säge, Axt, Bohrer, Hobel. Wochen hindurch verwandten wir unsere freie Zeit auf das Werk, und wenn wir Schularbeit versäumten, gewannen wir andererseits allerlei handwerkerische Fertigkeit, die so beglückend war, daß ich in der Schülerzeitung den pädagogischen Grundsatz vertrat, es solle eigentlich jede Stadt, jedes Dorf Werkstätten einrichten, wo die Jugend frei basteln dürfe.

Unser Fahrzeug wurde ein plumper, doch fester Kasten. Nachdem er geteert war, erhielt er in roter Farbe die Aufschrift »Arche«. Schließlich gab's noch Bänke herzurichten, ein paar Ruder und eine Stoßstange. Sogar von einem Segel schwärmten wir, hatten aber kein Segeltuch. Rat wußte der Müllergesell Gassenmaier, der aus der Nachbarschaft, wo seine Mutter wohnte, unser Treiben beobachtete. »I verkauf euch Säck – die tut ihr verschneide, zsamme nähe ond mit Teer bestreiche – gelt?« Als wir einwandten, das Geld hätten wir nicht, lachte er höhnisch: »E rechter Bue muß alleweil wisse, wie mr Geld schafft.« Etwas Widerwärtiges hatte dieser Bursch mit seinem grauen, pockennarbigen Gesicht und den entzündeten Augen. Gleichwohl[260] duldeten wir, daß er vertraulich mit uns plauderte. Konnten sogar über seine Rüpeleien schmunzeln. An unserer Arbeit beteiligte sich Gassenmaier kaum auf andere Weise, als indem er alles besser wissen wollte. Aber Hebsacker und mein Klassengenosse Fuchtmann wurden durch ihn angeregt, ein Fangeisen zu beschaffen für einen Iltis, den man hatte schleichen sehen. Als das Wild gefangen war, brachte sein Fell einen Erlös, und für den gab Gassenmaier die Sackleinewand zum Segel her.

An einem Novembertage schleppten wir die fertige Arche zum Neckar. Sie schwamm gleichmäßig und war fähig, drei Knaben zu tragen. Da Ostwind blies, konnten wir unser Segel erproben. Es war kurz und breit, fing auch die Luft, schlappte aber des öftern, weil im Tal der Wind nur stoßweise ging. Fortan nutzten wir jede freie Stunde zum Kahnfahren und waren bald gewandt im Rudern und Lenken, auch in der Ausnutzung des Segelwindes. – Unfälle blieben nicht aus, verliefen aber harmlos. Weil ich im Stehen stoßen wollte, glitt ich aus und fiel hin – nicht ins Wasser, aber derart in die Arche, daß ich mir die Hand verstauchte. Einmal kam ein Schwarzwälder Floß den Neckar herabgeschwommen, während Hebsacker die Arche mittels eines Steines verankert hatte. Daß sie in Gefahr war, über den Haufen gerannt zu werden, merkte er erst, als aus den vordersten Hängen der Neckarhalde Studenten brüllten: »Jockele, sperr!« Mit Geistesgegenwart schnitt er den Ankerstrick entzwei und wollte mit der Stange das Ufer gewinnen. Aber schon traf das Floß die Arche krachend in die Flanke. Obwohl nun der Insasse nicht in den Fluß geschleudert wurde, füllte sich das gekippte Fahrzeug mit Wasser. Der Floßführer hatte die Geschicklichkeit, es mit einem Stoß seiner Stange ans Ufer zu drängen. Hebsacker kam mit nassen Kleidern davon.[261]

Das Fischen und Fallenstellen reizte meine Gefährten, da es sowohl abenteuerlich als auch einträglich war. Für die Beute fanden sich zahlende Abnehmer. Ein dem Iltis- und Marderfang günstiger Jagdgrund waren die Hänge und Gräben an der Burg. Fuchtmann, dessen Wohnhaus mit dem Garten die Burgmauer berührte, konnte leicht den Schleichpfad seines Wildes erreichen. Einmal hatte er mich mitgenommen, wies in der Abenddämmerung auf die Iltisspur und stellte das Fangeisen. Als wir im Versteck lauerten, kam ein Tier in katzenartigen Sprüngen gehuscht – vermied aber die Falle und ließ sich nicht mehr blicken.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 256-262.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon