Einschulung

[25] An meine Einschulung, die eine Stunde später erfolgte, knüpfte das Schicksal bedeutsame Fäden. In der Wilhelmstraße, wo das Gymnasium gelegen war, gab es kein Alt-Tübingen mehr, sondern freien, lichten Raum, breite Bürgersteige, schmucke Häuser. Im Erdgeschoß wohnte der Direktor, wir kamen gerade zur Sprechstunde. Ein kurzer, rundlicher Herr; schon weißhaarig, mit einer Samtkappe, rasiert wie ein Pfarrer alten Stils. Freundlich ließ er meinen Vater Platz nehmen und setzte sich ihm gegenüber: »So so! Einen neuen Schüler bringe Sie mir? Ond woher denn?« Mein Abgangszeugnis wurde ihm gereicht, er prüfte es in kurzsichtiger Betrachtung, wobei er die Brille auf die Stirn geschoben hatte. »Aus Magdeburg komme Sie? Ond Kloschter Onser Lieben Frauen heißt die Schul? Ischt aber doch proteschtantisch, net wahr? Säkularisierter Kirchenbesitz ... I bin Hischtoriker, gelt? Aber jetzt wolle mer höre, ob onser Schüler imstand ischt, onserm Onterricht in der sechste Klass z' folge ... So heißt mer bei ons die Onter-Tertia.«

Er schlug ein Buch auf und gab mir einen lateinischen Text zum Uebersetzen. Es haperte, und der Direktor fand heraus, daß mir gewisse Kenntnisse der Grammatik noch fehlten. »I han mer's denkt. Onser Lateinpensom hat en Vorsprong vor em preußische. Die Lück muß Ihr Bub gschwind ausfülle,[26] gelt? Gut wär's, Sie ließe ihm Nachhilfe erteile.« – »Sofort, Herr Direktor! Wenn ich nur jemand wüßte! Vielleicht könnte ein Student ...?« – Der Direktor nickte: »Vorausgesetzt, daß Sie an den Rechten kommen. Vielleicht, daß Herr Präzeptor Bock ... Aber freili ... ha ...« Er wollte nicht mit der Sprache heraus. Als ihn mein Vater gespannt ansah, fuhr er fort: »'s wär bloß, daß e Student billiger käm! Soviel i weiß, nimmt der Bock einen Gulde für die Stond! I han's als Heidelberger Student billiger tan – zwanzik Kreuzer han i kriegt.«

»Ein Gulden – hm! Das ist allerdings viel für meine Verhältnisse. Ich lebe von meiner Pension. Möchte also lieber einen Studenten ausfindig machen. Ob ich im hiesigen Blatt inseriere?« – »Warom net? Uebrigens wüßt i en Studente für Sie. Nur brauchte Sie net grad den Bock merke z' lasse, daß i's gewese bin, der Ihne den Kandidaten Hainlin empfohle hat. Der Bock hat e Vorurteil gegen studentische Nachhilfestonde. Besonders gegen den Kandidaten Hainlin.« – »Heißt so der Herr, den Sie mir empfehlen?« – »Ja, den Hainlin kann i empfehle – mit beschtem Gewisse. Wenn's Ihne recht ischt, könnt i ja mit dem Kandidate rede. Den muß mr vorsichtik behandle. Was der net mag, dees tut er halt net. Aber vorerscht gilt's ja Ihren Sohn eiz'schule, gelt? I bitt um Geburts-ond Taufschei!« Als ihm diese Urkunden gereicht waren, begab er sich zum Schreibtisch, schlug ein Hauptbuch auf und war mit Eintragen beschäftigt. Ich sah dem langsam tickenden Pendel der großen Kastenuhr zu, verstohlene Blicke glitten über Büchergestell und Bilder.

Der Direktor unterbrach sein Schreiben: »Ha, deescht mir sähr interessant! I les auf dem Schein da, daß Ihre Frau eine geborene von Kotze ischt. Da regt sich in mir der Hischtoriker.[27] Ischt sie verwandt mit dem Kotze, der an der hiesigen Stiftskirch den Grabstei hat?« – »Grabstein? Wir haben die Stiftskirche heute zum erstenmal gesehen, ganz flüchtig.« – »Ein Junker Jakob Kotze aus Groß-Germersleben liegt drin begraben.« – »Groß-Germersleben bei Magdeburg? Das war ein Schloßgut des Kotze-Geschlechts, wie der Familienstammbaum ausweist. Darin kann ich ja nachsehen, ob der Junker Jakob erwähnt ist.«-»Maas? e Buch hänt Sie über die Vorfahre? Derf i dees glegentlich durchblättre? Dees trifft sich gut! Jetzt wüßt i, wie mr den Kandidate zum Onterricht bestimme könnt. I will Ihne verrate, daß dr Hainlin, e talentierter Hischtoriker, über die Grabdenkmäler von Sankt Georgen schreibt. Jetzt, wenn er hört, daß Ihr Sohn blutsverwandt ischt mit dem Junker Jakob, und wenn er in Ihrem Familienbuch nach m Junker forsche derf – dees wird den Hainlin begeischtere, so tut er Ihne wohl den Gfalle ... Ein ausgezeichneter Pädagog! Dem Uli Ritter, der mit saumäßigem Zeugnis vom Stuckrter Gymnasium komme ischt, dem hat er Nachhilf erteilt – mit beschtem Erfolg. Da fällt mer übrigens ei, i könnt den Hainlin geschwind holen lasse – gelt?« Und die Klingel zog der Direktor – ein Dienstmädchen erschien: »Spring, Mädle, nüber zom Pfleghof! Beim Fechtmeischter Wühscht ischt der Hainlin – en schöne Gruß von mir, ond ob er net geschwind mal komme möcht – wegen eines Buches, das ihm arg lieb wär ... Diplomatisch muß mr verfahre,« nickte der Direktor lächelnd, als die Magd gegangen war.

Das Gespräch kam auf Vaters Augenleiden. Der Direktor bot meinem Vater eine Prise. Nicht lange, so ging draußen die Flurtür – es trat ein junger Mann herein, der vom Direktor als Kandidat Hainlin vorgestellt wurde. Eine hohe, schlanke Gestalt – blonder Christuskopf, träumerische Blauaugen,[28] eingehöhlt unter einer lichten Stirn. »Es wird Sie interessiere, Herr Kandidat,« – sagte der Direktor – »daß die Gattin dieses Herrn der Familie des Junkers Kotze von der Stiftskirch ahnghört. Ond ein Ahnenbuch, das vom ganze Kotze-Geschlecht handelt, dürfe Sie durchlese – gelt, Herr Wille?« – Mein Vater stimmte verbindlich zu: »Sobald ich es mit meinem Gepäck erhalten habe, soll's mein Junge dem Herrn Direktor und Ihnen bringen.« – »Ja, dieser Knabe«, sagte der Direktor, »ischt soebe von mir ins Gymnasiom aufgnomme, in die sechste Klass. Ischt aber ebbes rückständik im Latei. Es fehlt net arg viel – fünf bis acht Nachhilfestonde könnte ihm die paar Regele geläufik mache. Die Sach ischt bloß die, daß mer niemand wisse, der ... das heißt, empfehle könnt i schon jemanden ... i weiß bloß net, – ob er mag!«

Hainlin hatte begriffen. Er sah mich prüfend an, ich fühlte, daß ich errötete. »Wenn's Herr Wille wünscht,« sagte Hainlin bescheiden – »so wär i bereit, mich des Knaben ahnzunemme. Er könnt glei morge zu mir komme.« Dankend war mein Vater einverstanden. Ich schrieb mir Hainlins Wohnung auf und die Schulbücher, die ich brauchte. – »Und wo wohne Sie, Herr Wille?« sagte der Direktor. »Dees müeßt mr doch ins Schülerbuch eitrage.« – »Augenblicklich im Gasthof zum Lamm. Erst gestern abend sind wir hier angelangt. Ich bin auf der Suche nach einem Heim. Wir sind allerdings sehr darum in Verlegenheit.« – Hainlin schien zu überlegen. »Eine Wohnung wüßt i schon – aber bloß drei Zimmer sind's. In Luschtnau – das ist ein Dorf, ein freundliches, nur e halbe Stond entfernt ...« – »Luschtnau?« fragte der Direktor. »Bei wem wär dees?« – »Beim Kuttler.« – »Dem Rosen-Kuttler? Dem sein Enzio Schüler in meiner Anstalt ischt? Dann wär der ja Klassekamerad vom Bruno. Und könnt ihm in dr[29] Grammatik zeige, wie weit die sechste Klass komme ischt. Also, Herr Wille, 's könnt sich Ihne verlohne, nach Luschtnau zu spaziere.« – »Ich könnt Sie führen,« meinte Hainlin, »wenn's Ihne gfällik wär. I möcht ohnehi nach der Richtung.«

»Also!« ermunterte der Direktor und blinzelte vergnügt meinem Vater zu. Dann zu Hainlin gewandt: »Wie komme denn Sie an die Bekanntschaft mit dem Kuttler? Hänt 's die schöne Rösle tan?« Errötend lächelte Hainlin: »Die Rösle net – aber daas Rösle! Nemmlich Rosel Funk, mei Spielkameradin. Ihr Mutter ischt die Schulmeischterswitwe von Lauffe an der Eyach. Net weit drvon ischt mei Heimatsdörfle glege. Seit eme Jährle ischt die Frau Funk wieder verheiratet, ond zwar mit dem Rose-Kuttler.« – »Ond gelt, Herr Kandidat? Alte Liebe roschtet net!« schmunzelte der Direktor. Dann nickte er meinem Vater zu und scherzte: »Dies Kind, kein Engel ist so rein, soll eurer Huld empfohlen sein.« Nun verabschiedete sich mein Vater – alle waren wir sehr befriedigt von dieser Einschulung.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 25-30.
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