Lustnau

[30] »Bitte, links!« sagte Hainlin, als wir auf die Straße kamen. Er ging zwischen Vater und mir. Ich beobachtete ihn verstohlen. Er war noch größer als mein Vater, von einer graden Haltung. Ein edelschöner Mensch. »Wenn's Ihne paßt, gange mr's näckschte Wegle nach Luschtnau – dicht unterm Oehschterberg – Oesterberg,« verbesserte er seine schwäbische Mundart. – »Sie sind der Führer,« antwortete mein Vater, und wir bogen von der Wilhelmstraße ab. Steil erhob sich über uns eine Bergwiese mit Obstbäumen.

»Ist der Oesterberg hoch?« fragte ich schüchtern – worauf Hainlin den Bescheid gab: »Bei Tübingen sind die Berge überhaupt net hoch, und der Oesterberg ist hier net grad die höckschte Erhebung. Hat aber umfassende Aussicht. In langer, blauer Kette sieht mr da die Alb – au ebbes vom Schwarzwald. Du kennscht ›Des Knaben Berglied‹, gelt? Ich bin vom Berg der Hirtenknab, schau auf die Schlösser all herab ... Dees hab d'r Uhland, sagt mr, auf dem Oehschterberg gmacht.« – »Oh!« staunte ich – »dann muß es wunderschön da oben sein! Aber wo sind denn hier die Schlösser, auf die man herabschaut?« – »Ha, Büble!« lächelte Hainlin. »Net grad die Aus sicht vom Oehschterberg hat der Uhland schildre wolle – bloß daß ihn dieser Berg in Stimmung versetzt hat. Uebrigens sieht mr drobe Schlösser gnug. Da wär vor allem unser Tübinger[31] Schloß, gelt? Aus der Ferne winkt das Zollernschloß – auch der Neuffen – die Achalm – auf der andern Seite die Weilerburg und noch andre Ruinen.«

»Das muß ja großartig sein,« bemerkte mein Vater. »So recht was für uns! Naturfreunde sind wir, der Junge schwärmt auch noch für Romantik.« – »Recht so!« meinte Hainlin. Und meinen Vater teilnehmend von der Seite betrachtend, fügte er hinzu: »Es ist nur gut, daß Ihr Augenleiden Sie net allzu arg stört!« – »Na ja, in die Ferne sehe ich leidlich, der Blick ins Grüne tut mir sogar wohl. Nur daß im Bild ein Flimmern ist, das beunruhigt. Immerhin! Meines einen Auges will ich mich freuen, solange es noch brauchbar. Wie lieblich ist nun dieses Bild!« Mein Vater blieb stehen, wie er gern tat, wenn er betrachten wollte. Nach links deutend, fuhr er in wehmütiger Freude fort: »Oh, diese blumige Wiese – und der Bach, hindurchgeschlängelt – mit den silbernen Weidenbüschen! Drüben der Baumweg führt also nach Lustnau? Oh, und dahinter die sonnigen Berghalden! Obstgärten, Weinberge mit niedlichen Laubenhäuschen. Alles so duftig zart ...«

Trunkenen Blickes nickte Hainlin: »So zart, als wär's kein Erdenstoff – als wär's eitel Himmelsglascht!« – »Glas?« fragte ich. – »Du denkst wohl an deinen Glasberg?« scherzte Vater. – »Nicht Glas,« sagte Hainlin in norddeutscher Aussprache, »sondern Glast – das bedeutet bei uns Glanz. Ich meine, wie körperloser Himmelsglanz wirkt dieses Bild.« – »Paradiesisch!« schwärmte mein Vater. »Recht hat Ihr Uhland, seiner schwäbischen Heimat mit den Worten zu huldigen: Man sagt, du seist ein Garten, du seist ein Paradies.«

»Sie brauchten den Ausdruck Glaasberg, Herr Wille – was meinen Sie damit?« – »Der Junge faselt vom Glasberg. Dichtet ihn sogar an. Kennen Sie nicht die Sage?« – »Im[32] alten Gedicht Titurel kommt ein Glasberg vor,« erwiderte Hainlin. »Und irre ich nicht, auch im Märchen von den sieben Raben, das die Brüder Grimm aus Volksüberlieferungen geschöpft haben. Unsere Urväter meinten, das Firmament sei aus Glaas. Ein Wipfel der Esche, die nach germanischem Glauben das Weltall bedeutet, heißt Lichtelfen-Heim – es glastet hoch über der Menschenwelt und hat eine Götterhalle namens Gladsheim.« – »Sie sind wohl Germanist?« sagte mein Vater bewundernd. Hainlin lächelte: »Es gibt hier noch Studenten, die auf Uhlands Pfaden wandeln. Ihr Glaasberg – möcht ich zusammenfassend sagen – bedeutet das Himmelsgewölb – eine Glast-Elfenburg – auf gut schwäbisch könnt mr sage: Glaschtelfingen. Sie wissen ja, im Ländle enden die Ortschaftsnamen gern auf ingen: Tübingen, Reutlingen, Böblingen ...«

»Glastelfingen!« sagte mein Vater und nickte den sonnigen Berghalden zu. »Ich möchte die Weinberge erklimmen, nur sind sie mir zu steil – es würde mir gehn wie den Abenteurern, die den Glasberg hinabrutschen. Aber köstlich müßt' es sich droben hausen, in solch einem Laubenhäuschen zwischen Reben und Apfelbäumen.« – »Sind die Häuschen bewohnt?« fragte ich, und Hainlin erwiderte: »Die Wengerthäusle? Dooch net! Das Erdgeschoß dient zum Verwahren von Frucht und Gerätschaft. Darüber ischt bloß e Stüble, eng wie e Schneckehäusle. I denk allweil dabei an des Reimle: Waas ischt das im Schnützelputzhäusel? Da pfeifen ond tanzen die Mäusel.« – Gemütlich lachte mein Vater vor sich hin: »Schnützelputzhäusel? Der Ausdruck erinnert mich an meine Kindheit. Damals putzte man die Talglichte mit der Schnützelputzschere, und diese hatte für den abgeschnützelten Docht eine Art Kasten, ähnlich allerdings einem Haus für Mäusel.«[33]

»In solch einem Schnützelputzhäusel«, schwärmte ich, »möcht' ich hausen.« – »Warom au net? Ond manch e Tübinger Studio hat so denkt. Der Wieland – wisse Sie, der den ›Oberon‹ gedichtet hat – er hat in einem Wengerthäusle gewohnt – auf dem Oeschterberg!« – »Schon wieder ein Dichter auf dem Oesterberg!« scherzte mein Vater. »Das scheint ja der hiesige Musensitz zu sein, der schwäbische Parnaß.« – »Ha freili!« lachte Hainlin. »Und dr Wieland, so geht die Sage, der hab drobe die Verse gschriebe, mit dene sein Heldenmärle ahnhebt: Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen – zum Ritt ins alte, romantische Land!« Ich war in heller Begeisterung. Mein Bruder hatte ein Bild aus einer »Oberon«-Ausgabe abgezeichnet, das hatte mir Gelegenheit geboten, die Dichtung durchzupeitschen. Das Flügelroß der Musen war auch meine Passion, und mit dem alten romantischen Land schien mir eigens das Schwabenland gemeint zu sein. Welch ein Zauberland war das, und was für ein Glück für mich, da hinein versetzt zu sein! Ueberall Wälder von Obstbäumen, Weinberge, blaue Höhen mit Burgen – man träumt von Rittern und Märchenhelden, von Dichtern, die im Schnützelputzhäusle unsterbliche Heldengedichte gereimt haben.

»Wie heißt der Berg dort links?« fragte ich ehrerbietig. Hainlin wußte es nicht. »Vielleicht hat er gar keinen Namen!« Mein Vater spähte hin. »Wo die drei Pappeln stehn, scheint die Spitze zu sein.« – »Dees ischt bloß e Vorsprung, dahinter geht's noch höher. Dann kommt, hinter Obstgärten versteckt, e winziks Dörfle, bloß e Weiler – i bi noch net drobe gwä ...« – »Wie heißt es?« – »Ha, wie mag's gheiße sein? Dees heimlich Neschtle droben im blauen Himmelsglascht?« – »Sagen wir also Glastelfingen!« scherzte mein Vater, und Hainlin freute sich über die Verwendung seines spielerischen Einfalls:[34]

»Wissen Sie, Herr Wille, wie ich mir Glastelfinge vorstelle tu? Aehnlich wie mei Albdörfle am Lochstei' – bloß daß es in Glastelfingen Traube habe müßt ond Kaschtanie wie am Südhang der Alpen. Ein Freund von mir ischt in Friaul gwese. Ha, dort ischt das wahre Glastelfingen. Ein Berg in Friaul soll Dante als Modell vorgeschwebt haben, um das Paradies zu schildern. In den Südalpen hat's au en Berg Monte Cristallo, zu deutsch Glaasberg – und da sieht mr, wie innik die Sinnbilder der Völker zusammenhängen. In den verschiedenen Menschen schlägt halt im rund einziks Herz.«

Gedankenvoll nickte mein Vater: »Und darin ist was, das immer ins Weite schwärmt. Um so feuriger, jemehr es unter der Enge leidet. Zum Glasberg will's empor, die Prinzessin zu erlösen. Oder wenn's Herz nicht so sehr dem stürmischen Abenteuer als dem Sanften geneigt ist, seufzt es nach dem Höhendorfe Glastelfingen, als ob das heimlich seine Heimat wär'! Doch ach, wer weiß, ob solche Sehnsucht erfüllbar ist, ob nicht vielmehr der Pilger bei Schiller recht hat: Der Himmel über dir kann die Erde nie berühren, und das Dort ist niemals hier.«

»Er hat recht!« meinte Hainlin – »dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück! Aber was folgt draus? Daß mer besser tät, den Himmel net über sich zu suche.« – »Wo denn aber sonst?« fragte mein Vater, worauf Hainlin zögernd, schüchtern, wie verschämt antwortete: »Net drauße! Da wird mr alleweil enttäuscht. Es bleibt nicks übrik, als im eigenen Innern zu suche – wie der Bergmann nach den Schatz der Tiefe schürft.« In feierlichem Ernst blickte mein Vater auf den jungen Mann: »Sie sind früh reif! Und es scheint, Sie haben das bessre Teil erwählt. Ja, schürfen Sie innen! Aber ganz verachten soll man die Umwelt nicht. Sie kann ja dazu beitragen, daß man den Himmel im eignen Innern findet. Oder[35] freilich: ihn verfehlt!« In stiller Beschaulichkeit schritten wir nebeneinander her. Nur daß Hainlin noch die Bemerkung fand: »Am beschte wär's scho, wenn mr sich ohn abhängik mache könnt von dr Außenwelt!«

Mein Vater schwieg und sann – lächelte hierauf wehmütig: »Ich sonderbarer Schwärmer! Rede da vom heimlich holden Dörfchen, unserer wahren Heimat – und weiß nicht mal, wo ich mit Frau und Kind morgen das Haupt niederlegen werde. Von Glastelfingen träumen wir – und haben nicht mal unser bescheidenes Ziel Lustnau erreicht.« – »Da liegt es!« sagte Hainlin hindeutend. Hinter Wiese, Bach und Obstgärten ragte ein schmucker Kirchturm inmitten freundlicher Bauerndächer. Nebst den Weinbergen blickten waldige Höhen hernieder. »Welch reizende Lage!« bemerkte mein Vater. Als wir den Bachsteg überschritten und durch Wiesen mit Obstbäumen kamen, kreuzte den Weg ein zweiter Bach, er rauschte ziemlich breit über steinigen Grund, wo Forellen huschten. »Der Goldersbach,« sagte Hainlin, und wir gingen übers hölzerne Brücklein.

Nun waren wir in der Dorfgasse. Enten schnatterten, im Dünger scharrten Hühner, braune, barfüßige Kinder gafften. Die Häuser waren leidlich sauber, wenn auch Misthaufen davor nicht fehlten. An einer breiten Gasse lagen ein paar Häuschen, die nichts Bäurisches hatten. Das eine, von einem Rebstock umschlungen, enthielt einen Kramladen mit der Aufschrift: Josua Kuttler. »Daß hier der Rosen-Kuttler wohnt,« bemerkte mein Vater, »erkennt man sofort an den Rosen im Garten. Welche Pracht!«

Aus dem Garten kam ein junges Mädchen; es stutzte bei unserm Anblick, blickte zärtlich auf Hainlin und sagte errötend: »Mei Jörgle!« Freudestrahlend ergriff er ihre Hand: »Grüß di Gott, Rosel! Was treibscht? Ischt dei Stiefvatter[36] daheim? Net? Dr Herr da möcht ...« Indem trat aus der Ladentür, die unter Anschlag einer Klingel aufging, ein andres Mädchen. Sie hatte glühend schwarze Augen und konnte für hübsch gelten. »Deescht aber nett, Herr Kandidat! Ond waas verschafft mir die Freid?« Hainlin stellte meinen Vater vor und bezeichnete das Mädchen als Fräulein Kuttler. »Der Herr möcht die Wohnung ahnschaue, wo bei Ihne zu vermiete ischt – net wahr?« – »Zu vermiete hänt mr scho!« erwiderte Fräulein Kuttler. »Wenn's gfällik wär, ganget mr nauf! Durchs Lädle da!« Als Hainlin mit Rosel zur Seite trat, fügte sie etwas spitz hinzu: »Ond Herr Hainlin? Wolle denn Sie net mitkomme?« – »I möcht derweil mit dr Rosel rede.«

Wir traten in den Laden – hier gab es Waren, wie sie ein Dorfkrämer feil hat: Kleiderstoffe, Werkzeuge, Zucker, Briefpapier; es roch nach Essig, Tabak und Seife. Von da ging es in einen schmalen Flur und die Treppe hinauf zum Oberstock. Die leerstehende Wohnung war klein, doch zur Not ausreichend. Uns fesselte besonders der Blick in den Rosengarten und über Obstbäume hinaus auf gelbes Korn und grünes Hügelland. Der Mietspreis war billig, und so erklärte mein Vater, er werde voraussichtlich am Nachmittag mieten – nur müsse seine Frau die Wohnung erst besehn.

Im Garten wandelte Hainlin mit Fräulein Rosel zwischen Gemüsebeeten. Mit Vergnügen hörte er, daß uns die Wohnung zusage. Dann bat er meinen Vater, sich gleich beurlauben zu dürfen. Er wolle im Gasthof einen Imbiß nehmen, dann nach Einsiedel spazieren, wo sein Onkel wohne. Wir begaben uns zur Gartenpforte, und hinter den beiden Mädchen hergehend bemerkte ich, wie die Schwarzäugige ärgerlich der Blonden etwas zuraunte. Mein Vater dankte Herrn Hainlin, und wir verabschiedeten uns. Diesmal wollten wir den andern[37] Weg nach Tübingen gehen, die breitwipflige Allee. In der Mittagsonne tat es wohl, von den Kastanien- und Ahornbäumen beschattet zu sein. Uns begegneten Fuhrwerke und Fußgänger, vom Tübinger Markte heimkehrend. Den Korb auf dem Kopfe, schritten Landmädchen und ältere Frauen wacker daher. Keine unterließ »Grüß Gott« zu sagen, und jedesmal erwiderten wir diese Höflichkeit, als ob wir uns schwäbisches Wesen rasch zueigen machen wollten. »Grüß Gott – das klingt so treuherzig,« sagte ich und blickte schwärmerisch zur Glastelfinger Höhe hinauf – dort war ja mein Wunderland.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 30-38.
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