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[74] So lagen in meiner Seele verschiedene Elemente durcheinander wie Kraut und Rüben, und ich litt darunter, daß ich keinen Ausgleich fand. Der Gegensatz zwischen dem Nixenschloß und dem Schlamm des Frosches wurde täglich von mir erlebt, wenn ich aus der wundervollen Landschaft in die öde Schulstube kam. Die Gabe, daselbst mich anzupassen, war meiner Kindheit derart versagt, daß der Unterricht verschlossene Ohren fand. Ich lebte zu sehr innen. Wo ich nicht in freier Teilnahme den äußeren Einwirkungen entgegenkam, stießen sie auf Gleichgültigkeit oder auf Ablehnung. Bereits als ich die Schulbank der Sexta gedrückt hatte, war mir die alte Linde auf dem Klosterhof, wie sie knospete und blühte, wie sie im Herbst gelb wurde und das Laub verlor, ein würdigerer Gegenstand der Teilnahme als der Lateinlehrer mit seinem mensa- und amo-Geschwätz.
In Tübingen zog ich mich während des Unterrichts in mich selbst zurück wie eine Schnecke in ihr Haus, sobald man ihre Fühler anrührt. Auf den Lehrstoff der Klasse pflegte ich weniger zu achten als auf die Mundart der Mitschüler und Eigenheit der Lehrer. Mit ihrer graugrünen Fläche lud mich die Schulbank ein, Gestalten darauf mit Tinte zu kritzeln – den Glasberg mit der Prinzessin und dem emporsprengenden Ritter. War ich aber zu spöttischer Beobachtung aufgelegt, so malte ich den borstenköpfigen Wursterle mit seinen abstehenden Ohren, den schnupfenden[75] Naso, den feisten Saubock. Sobald ich annehmen durfte, der Lehrer würde mich nicht mit Aufrufen belästigen, ergab ich mich dem Verseschmieden und schuf Gestalten meiner eigenen Welt. In meinen Schulbüchern lagen Zettel, denen Zeilen meines »Epos« anvertraut waren. Zu Hause fügte ich die Entwürfe in den Zusammenhang des Ganzen, und solcher Betätigung wie auch dem Lesen von Märchen und Indianergeschichten widmete ich meinen Eifer, während Schularbeit übers Knie gebrochen wurde.
Hainlin, der meine Art ausgespürt hatte, sprach mit meinem Vater darüber, als er gekommen war, sich für das Kotze-Buch zu bedanken. In der Weinlaube saßen die beiden, ohne zu merken, daß ich mir in der Nähe zu schaffen machte.
»Ihr Sohn ist ein Sinnierer und Eigenbrödler – einer von denen, die ihren Gang nicht durch die Schule nehmen, sondern nebenher. Gelingt solchen Naturen ihre Entwicklung, so ist's gut – aber sie kann auch mißlingen, und jedenfalls haben sie viel Widrigkeit und Seufzen durchzumachen.« Sorgenvoll nickte mein Vater: »Sie haben den Jungen durchschaut. Ich kenne seine Kuriosität. Ich selber habe etwas davon – habe mich nie recht einschmiegen können ins Getriebe der Leute. Bei mir hat sich verständiges Wesen einigermaßen erst eingestellt, als ich die Schwelle zur Mannbarkeit überschritten hatte. Vorher weiß man kaum, was man ist und was man im Leben soll.«
Der Kandidat spann den Faden weiter – ich konnte nicht alles hören, und manches blieb damals noch dunkel – allein später, als mir Hainlins Ansichten klarer wurden, war ich imstande, das belauschte Gespräch zu deuten. Es sei herkömmlich – so meinte er – einen jungen Menschen mit einer frisch aufgeblühten Blume zu vergleichen – doch er gleiche eher einem Schutthaufen, darauf allerlei Gewächs durcheinander wimmelt: Nesseln und[76] Grashalme; neben giftigem Nachtschatten blüht das heilkräftige Johanniskraut, die himmelblaue Zichorie, süßduftend die Königskerze. Wohl haben Kinder glatte Gesichter und klare Augen, während der alte Mensch durchfurcht von Leidenschaften erscheint und vom Schicksal zersplissen wie ein Weidenstumpf. Doch trügt der Schein. Mancher Alte birgt unter den Runzeln eine abgeklärte Seele, und manch äußerlich hübsch blühendes Menschenkind ist innen wüst. Ein Neugeborener bedeutet kein unbeschriebenes Blatt, eher ein vielbändiges Buch, eine uralte Historienbücherei; oder auch ein Papier, das zwar weiß ist, aber geheime Schriftzeichen trägt, mit einer Tinte geschrieben, die anfangs unsichtbar, erst durch längere Belichtung Deutlichkeit erlangt. Was dem Neugeborenen solche verstohlene Ueberlieferung beigebracht hat, ist sein Vorleben, das er innerhalb seiner Ahnen geführt hat. Mit dem Blute haben sie ihm Gefühle, Tüchtigkeiten und Laster vererbt. So kommt es, daß ein Kind zuweilen eine ganze Rotte wilder Triebe darstellt. Mit Bestürzung entdeckt es in sich ein heftiges Durcheinander, wie wenn eines Vielgespanns Pferde unverträglich hierhin und dorthin zerren. Arme Jugend, die ihr Inneres noch nicht begreifen kann und nicht weiß, was sie anfangen soll mit den erwachenden Anlagen und Trieben! Kläglich verlassene Jugend, die in solcher Hilfsbedürftigkeit nicht verstanden wird! Eltern und Lehrer, die ihre Ueberlegenheit über die Unreifen wohltätig machen sollten, indem sie in deren seelische Gründe ordnend, entwickelnd eingreifen, haben dazu selten Beruf. Sie beschränken sich dann darauf, rauh zu unterdrücken, was ihnen unpassend erscheint, und Heranwachsendes in Schablonen zu pressen. Statt mit den Kindern jung zu sein, wie die Katzenmutter mit ihren Jungen tollt, setzen sie die Miene einer Ueberlegenheit auf, die sie schroff scheidet von der unteren Stufe, so daß sich Kinder und Erwachsene wie zwei[77] einander fremde Welten gegenüberstehen. Der Erwachsene befiehlt, tadelt und straft. Gestattet sauersüß oder gönnerhaft. Läßt oft nur deshalb die Jugend gewähren, weil ihm das Gängeln lästig ist. Seine Sonderinteressen gehen ihm vor, er fachsimpelt mit seinesgleichen und überläßt die Kinder jener Heranbildungsfabrik, die sich Schule nennt.
»Um nun wieder auf Ihren Knaben zu kommen,« so wandte Hainlin seine Darlegung an, »möcht' ich fast raten, Sie sollten ihm unter Anleitung eines geeigneten Privatlehrers möglichst freie Entwicklung lassen. Neigungsstudien, die allein passen für ihn. Aber freilich, wo den Pädagogen hernehmen?« – »Ich wüßte schon einen,« sagte mein Vater, »doch den zu honorieren, gebricht es mir an Mitteln ...« Abermals machte Hainlin die freundlich ablehnende Gebärde: »Wenn Sie mich meinen, so muß ich gestehen, daß ich nur Gelegenheitspädagog sein kann, Dilettant – dies Wort meint einen, der etwas bloß aus Liebhaberei treibt – bloß! sagt mr – als ob Liebe ein geringes Motiv wär – komisch sind die Leut! Nun also, die Nachhilf hab ich Ihrem Bruno gern erteilt. Aber die muß nun ein End haben. Zum Oktober gang i nach Stuggart ...« – »Was? Sie wollen fort von hier? Und Fräulein Rosel? Und Uli Ritter? Was fangen die ohne Sie an? Wir alle werden traurig sein ...« Während mein Vater so sprach, fühlte ich, wie mir heißes Bangen zur Kehle stieg, und ich war versucht, weinend hinwegzuschleichen.
»Ja, ja!« fuhr Hainlin fort, »den bunten Rock will ich anziehn – einmal muß der Militärpflicht genügt werden. Auch für Rosel wird's gut sein, wenn i jetzt geh' – da mag sie sich besinnen. Und der Uli? Er muß lernen, ohne mich zu arbeiten. Nun fragen Sie mich nach Ihrem Sohn. Wie die Dinge liegen, wag' ich nicht zu raten, den Bruno von der Schule wegzutun.[78] Lassen Sie ihn ruhig im Drill bei den anderen Schülern – er wird net erheblich hinter ihnen zurückstehen, wenn er auch mal kleben bleibt – wie möglicherweise demnäkscht. Ihre Uebersiedelung von Norddeutschland in die hiesigen Schulverhältnisse stellt an seine Anpassungsfähigkeit Ansprüche, wie sie bloß ein Knabe bewältigt, der sich ganz in die Hände seiner Exerziermeister gibt. Dees aber tut er net, der Bruno net!« – Mein Vater tat einen Seufzer: »Ach ja! Wie man's anfängt – es hapert überall! So ist die Welt! Ein Rezept haben Sie also nicht für mich?« – »Nach einem Rezept kann der Poet, der Maler, der Tondichter nicks Lebendiks zustandebringe. Ebensowenik der Pädagog, dessen Beruf ich Erziehungs kunscht nenne möcht.«
»Wie hoch, Herr Hainlin, fliegt Ihr Idealismus! Die Wirklichkeit kann da nicht mit! Bedenken Sie, daß der Lehrstand nicht aus Künstlernaturen bestehen kann.« – »I weiß! Fabrikwerker sind die weischte. Wer's net sein möcht, wird's mit der Zeit. Das Getriebe macht ihn zu eme Rädle an der Maschin.« – »Die Schüler tragen auch nicht wenig dazu bei, einem Pädagogen den Idealismus zu versauern,« – meinte mein Vater – »als Außenstehender hat man's leicht, sich idealen Träumen hinzugeben. Steht man aber vor der Aufgabe, die Rotte Korah zu bändigen ... Herr Kandidat, Hand aufs Herz!« – »O freili! I selber würd verzage, begab i mich ins Fabrikgetrieb.« – »Das wollen Sie also nicht? Sind Sie vom Theologen zum Lehrer umgesattelt? Ich meine gehört zu haben, daß Sie eine Anstellung an der Töchterschule erstreben? Oder was möchten Sie werden?«
Wie ein verlegenes Kind sah Hainlin aus, als er zögernd erwiderte: »Ha, auf der Flöte spiel i gern – mach au Verse – halte Gespräche mit den Ideen, die mich besuchen, wenn ich über Büchern und Papier brüte. Weil aber onsereins davon net lebe kann, ond weil i vollends net auf diese Art mei liebs Rosel[79] ernähren könnt, so muß i halt schaun, wie ich das Brotmachen lern. Am liebschte möcht i zur Gärtnerei omsattle. Ob mir's glingt, ob überhaupt ebbes Leidlichs aus mir wird, dees weiß der Himmel.« Betroffen hielt mein Vater das Auge auf den seltsamen Kandidaten gerichtet: »Gärtner? Hm! Nun ja, ein schöner Beruf! Aber dafür brauchten Sie nicht auf die Universität zu gehen.« Nicht ohne wehmütigen Spott war Hainlins Lächeln, als er erwiderte: »I hab halt mei Studiom ganz und gar net als Mittel zum Broterwerb betrachtet, sondern als mei geischtiks Bedürfnis. Verloren ischt's also net, wenn i schließlich zu der Einsicht glang, daß es mir besser paßt, Pflanzen aufzuziehen, als Menschenkinder im Drill zu peinigen und zu verhunzen.« Mitfühlend, als ob er ihm Halt geben möchte, ergriff mein Vater des schwärmenden Jünglings Hand: »Mein lieber Herr Hainlin! Möchten Sie Kraft finden, die Entsagung zu bestehen und die Enttäuschungen, die Ihnen ein so seltsamer Lebensweg nicht ersparen wird!«
Seine Rührung konnte Hainlin nicht verhehlen. Er schwieg und sann. Dann kam noch ein Hauch seines Geistes: »Net um mich handelt es sich, sondern um Ihren Knaben. Wenn ich nun fort bin, könnten Brunos Freunde ihm beistehn. Vom Segen der Freundschaft halt i viel. Im Umgang mit Altersgenossen, zu denen er begeischtert emporschaut, wächst der junge Mensch Ond selbst, wo's auf Studiom ahnkommt, können ihm Mitschüler Lährmeischter sein, wofern sie herzlichen Willen dazu hänt. Wo junge Leute mitsammen schwärmen, sind sie wie ein Kriegshaufe im heroischen Erstürmen einer Bergfeste – es wetteifern die Knappen, ond einer hilft dem andern. Kein Volk hat solch erzieherische Freundschaft so vorgelebt wie Athen und Sparta. Das preisen nun zwar unsre Schulmeischter – doch ach, wie kläglich sind sie vom Geischt der Antike entfernt. Wenn sie mit[80] ihren Pennälern Griechisch büffeln, haben sie keine Ahnung von der freien Natürlichkeit und Kraft derer, die Plato schildert. Helenas Gewand haben sie in Händen, während die Göttin ihnen entschwunden ist – mit den alten Lappen treiben sie einen lächerlich traurigen Götzendienst, indem sie die Nähte studieren, auftrennen und wieder zusammenflicken. Wenn i mich zu dem Ohnfug hergebe soll, den mir onsre Bildungspfaffe zumute, Himmel Herrgott! Dann werd i Rebell.« Bei diesen unwirschen Worten war Hainlin aufgesprungen. Nun nahm er Hut und Stock: »Nicks für ungut! Bin halt kei Normalmensch! Was aber den Bruno betrifft, so seien Sie wegen der Schul net arg in Sorg! Es genügt, wenn er leidlich mit ihr fertik wird. Im übrigen halten Sie darauf, daß er Ihnen Vertrauen schenkt – ond daß er sich zum Wendelin Flammer hingezogen fühlt. In dem lodert Begeisterung – er hat ebbes Emporreißendes. Der Uli Ritter ischt aue Kerle. Der Enzio ...« Hier machte Hainlin eine Pause des Bedenkens ... »Ha no! Der Enzio möcht wohl! Eine Art Nobleß ischt ohnverkennbar am Enzio. Doch am albernen Ich hangt er – ond hat in seim Blut e gefahrvolle Erbschaft.«
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