Justinus und Rickele

[81] Spätnachmittags wollte ich mit meinem Vater einen Spaziergang unternehmen. Wir standen vor dem Hause, warteten nur auf einen Brief, den meine Mutter noch unter der Feder hatte – in den Postkasten wollten wir ihn befördern. Fräulein Rosel kam aus dem Haus, auf dem Kopf einen leeren Korb. Ihre rotgeweinten Augen erinnerten mich an Scheltworte, die ihr Stiefvater wieder einmal herausgepoltert hatte. »Noch fleißig, Fräulein Rosel?« fragte mein Vater freundlich. – »Kohlräble muß i hole – vom Haseläckerle.« So ging sie. Ich empfing nun Mutters Brief, aus dem Fenster warf sie ihn.

Als wir ihn zum Postkasten gebracht hatten, wurde auf der Dorfstraße Herr Hainlin sichtbar. Da er auf Kuttlers Haus zuging, erlaubte sich mein Vater die Bemerkung: »Fräulein Rosel ist eben fortgegangen, zum Haseläckerle.« Sein Gesicht drückte Enttäuschung aus. Dann meinte er: »Und wo ischt sell Aeckerle?« Ich wußte das, und mein Vater bot unsere Führung an.

Unter dem waldigen Hange des Dentzenbergs war der Acker gelegen, bei Haselgebüsch. Vom Fußpfade sahen wir auf Gemüsebeete, und da hantierte Rosel gebückt. Hainlin rief sie an – sie richtete sich auf: »Grieß Goot! I komm glei.« Mein Vater war im Begriffe, sich zu verabschieden. Aber der Kandidat schaute, in Sinnen versunken, auf die im Tale liegenden[82] Gebäude: »Also da beim Kloschterhof ischt sell Ackerle? Sonderbar!« Was er meinte, blieb vorerst dunkel. Träumerisch fuhr er fort: »Drunten die dicke Währmauer und die zwei Türm stammen aus dem Mittelalter. Seit der Reformatio ischt's e wirtschaftliche Gütle, ond jetzt werden Waisenkinder drin verpflegt ... Aber schau, mei Rosel kommt.«

Ihren mit Gemüse gefüllten Korb hatte sie auf den Kopf genommen und kam de.. Pfad zur Halde herauf. Als sie vor uns stand, hatte ihr Gesicht noch immer Spuren von Leid. – Hainlin schien das sofort zu bemerken und meinte sanft: »Sitz nieder, Rosel! I möcht dem Herrn Wille und dir e Gschichtle verzähle, gelt? Also – vor etlichen Jahren ischt's Rickele verstorbe – als Greisin ... von ihrer Jugend aber will i verzähle ...« Am kleebewachsenen Hange saßen wir und blickten auf den Klosterhof, ins dunkelnde Tal des leise rauschenden Goldersbaches.

»In eme Gütle da in der Näh hat dr Oberamtmann wohnt mit seiner Tochter Rickele. Des liebe Mädle ischt emal bei em Ausflug zur Reutlinger Achalm gwä. Munter hat die Gesellschaft vom Berg ins prangende Land gschaut. Aber's Rickele hat e wehmütigs Gsichtl gmacht – grab wie jetzt mei Rosel – als wär's Leben nicks als Trauerspiel ...« – »Ischt's net so?« seufzte Rosel.

Unbeirrt fuhr Hainlin fort: »Trat zum Rickele e junger Mann, seines Zeichens Student, ond sprach zur Schönen, die ihm noch fremd:


Wie kommt's, daß du so traurig bist,

Da alles froh erscheint?

Man sieht dir's an den Augen an:

Gewiß, du hast geweint.
[83]

Nicht als Zudringlichkeit, sondern als Teilnahme hat's Mädle solche Ahnnäherung empfunden – und, vertraut mit ihrem Goethe, die schlagfertige Antwort gegeben:


Und hab' ich einsam auch geweint,

So ist's mein eigner Schmerz;

Und Tränen fließen gar so süß,

Erleichtern mir das Herz.


Hinfort hat den Jüngling innik verlangt, es solle Rickeles Herz sich auftun ond ein ander Herz in sich aufnemme – wie's dr altdeutsche Sänger meint: Ich bin dein, und du bist mein, des solltu gewiß sein – du bist beschlossen in meinem Herzen, verloren ist das Schlüsselein, nun mußtu ewik darinnen sein.«

»Ond ischt's denn so bliebe?« fragte Rosel bewegt – »hat er's Rickele in seim Herz behalte?« – »Er hat's! Abends hat er oft gelauert beim Haus von Rickeles Vatter – ond sälik ischt er gwä, wenn er nur's Lichtle hat sehe könne ins Mädles Kämmerle, ihren Schatten am Vorhang. Ond allerlei zärtlich Geschreibsel hat sell Liebespaar zu tausche ghätt. In einer zerfallenen Kapelle beim Haus, unter eine lose Stein hat der junge Mann seine Briefle niedergelegt, ond's Rickele hat auf die gleiche Weise geantwortet. Drei Jahr hernach hat sie e Ringle von ihm trage dürfe – ond wie er seine medizinische Prüfung bestanden hat, na ischt's Rickele die Frau vom Juschtinus worde.« – »Also Arzt ist er gewesen?« fragte mein Vater – »und Justinus hieß er?« – »Ja, Juschtinus Kerner.« – »Wie? Der berühmte Dichter?« – »Ha freili! Sie aber ischt selles Reckele gwä, des mit ihm in d Literaturgschicht kommen ischt. Wie der Kerner später als Arzt in Weinsberg ghaust hat, ischt beim Rickele mancher berühmte Gascht gwä – zum Beispiel dr Lenau. In äußerlichen Dingen[84] sind die Ehejahre des Kernerpaares zunäkscht dürftik gwä. Im Dorfe Welzheim hat es beim Ochsenwirt bloß zwei Zimmer ghett ond e winzige Küch. An den größeren Raum, der Schlafzimmer gwä ischt, hat dr Wirt die Bedingung knüpft, an Markttagen, bei Hochzeiten, Kindtaufen und Tanzvergnügen sei er zu räumen, um als Tanzsaal zu dienen. Aber glücklich wie Kinder sind Juschtinus und sei Rickele gwä zwischen weiß getünchten Wänden, hinter dene blinde Bleifenschterle. Rickele hat als Beistand e Laufmädle ghätt, zum Wasser und Holz bsorgen, hat aber sonscht älls selbscht tan – und der Kerner, besonders auch jeder Gascht, hat net gnug rühme könne, wie schmackhaft und wie vergnügt mr beim Rickele könn tafle.«

Rosel war aufgeheitert: »Ha, warom au net? Viel braucht mer net, um froh zu sei.« Beifällig bemerkte mein Vater: »Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar. Humor muß man haben – dann wird das Enge, Dürftige weit und reich.« Hainlin nickte: »Heitre Laune, Schelmerei hat ihm net gfehlt. Ischt übrigens e rechter Träumlesschwob gwä, den Kopf alleweil im Wolkenkuckucksheim. Spaßik ischt dees manchmal gwä. Zom Beispiel bei seiner Hochzeit. Sei Bruder, e Pfarrer, hat ihn wolle traue. Wie aber der Bräutigam mit der Braut vor dem Altar gestanden – ond jetzt des Pfarrers entscheidende Formel kommen ischt: ›Ich frage dich, Justinus Kerner, ob du ...‹ – da ischt där so in Rührung aufgelöst gwä, daß er einfach fortglaufen ischt vom Altar. Die Braut aber ischt stehn bliebe – ond jetzt hat der spröde Bräutigam gestutzt – hat sie beobachtet und ist, wie sie ihm immerfort zugewinkt hat, schließlich wieder, wenn auch zögernd, an ihre Seite getreten. Nochmals allerdings hat er sich einen Verstoß gegen die Form zuschulden kommen lassen.« Nämlich, wie jetzt der Pfarrer von neuem seine Frage gestellt hat, ist der Kerner[85] in seiner Scheu verblieben – hat net geantwortet, wie's vorgeschrieben ischt: ›Ja, ich will‹ – vielmähr verstockt gschwiege ond hat's em Rickle überlasse, von Herze laut zu versichern: ›Er will scho!‹ Später hat ihm's Rickele oft im Spaß vorghalte, ihre Ehe sei eigentlich ongültik, er hab net ja gsagt. Dann hat er sich verteidikt: »Dees ischt mir halt zu dumm gwä, zu sage, wie jeder hausbackene Ehema', als ob mei Glück nicks weiter sein sollt als eins unter Millione.«

»Echt ist das empfunden,« meinte mein Vater – »einem Liebhaber, wie er sein soll, kommt seine Liebe immer wie ein Wunder vor, das nie dagewesen ist.« – »Und ischt's dees net?« bemerkte Hainlin ernsthaft. »Ischt Liebe net erhaben über alle Zeitlichkeit, Erlebnis des Ewigen?« – »Scho recht!« seufzte Rosel – »aber wir Menschekinder hänt unser Leben halt in der Zeitlichkeit. – Jetzt, Jergle, tu uns au sage, wie's dem Kernerpaar weiter gange ischt in der Zeitlichkeit.«

»Ha, woisch du dees net? Die Formel, die dr Juschtinus verfehlt hat bei seiner Trauung in Enzweihingen?« – »Wo?« fragte mein Vater belustigt, und auch ich stutzte über den seltsamen Ortsnamen. »Enzweihingen – so heißt's Dörfle, wo die Ehe gschlossen worden ischt, noch dazu unter Verstößen gegen das Herkommen. Entzwei ischt sie aber keineswegs gangen – treu und schön ischt sie bliebe – bis über die goldene Hochzeit naus. Da ka mer sehe, worauf's ahnkommt, Rosel, gelt?«

Mein Vater bemerkte: »Es wäre wunderschön, wenn auch dieser Ausgang der Liebesgeschichte als ein Typus gelten dürfte, auf den Ihre Worte, Herr Kandidat, passen: Erhaben über alle Zeitlichkeit ein Ausdruck des Ewigen. Leider jedoch bleiben die Ehen solcher Art recht vereinzelt.« Als spräche er besonders zu Rosel, erwiderte Hainlin: »Zu so me Vorbild sollt jedes Paar gläubik aufschaue, wie zu me Stern. Und wenn's au im[86] Leben oft anders kommt, als wir Menschen hoffen, dees bleibt sicher – Onkel Guhl hat mir's verraten: Von allem Haben in der Welt macht bloß eins glücklich: das Liebhaben.«

Forschend sah ihn Rosel an: »Jetzt aber, Jergle, sag mer au: warom tuscht uns dees verzähle? Worom grad jetzt?« Nicht ohne Schelmerei war Hainlins Lächeln: »Weil grad an dieser Bergeshalde der Juschtinus gsessen ischt – zum Kloschterhof spähend – eben da hat's Rickele gewohnt. Ihr Vatter ischt Verwalter vom Kloschterhof gwä – und der Stein, wohin das Paar seine Liebesbriefle tan hat, im Kapelleturm drunte liegt der Stein – Trohscht und Wahrzeichen für eine Liebe, die noch gar keine Aussicht hat, 's Neschtle zu baue – gelt, Rosel?« – Sie lächelte wehmütig.

»Ich danke Ihnen, Herr Hainlin! Wenn man hört, was sich in solcher Landschaft Schönes zugetragen hat, vertieft und verklärt sich die Landschaftsseele.« Mein Vater gab den beiden die Hand, wir überließen sie ihrer Zwiesprache. Der Abendhimmel war erblichen – im Tälchen rauschte der Goldersbach, ein Grillenkonzert scholl von den Apfelbäumen. Da der Weg schon etwas dunkel war, stolperte ich über eine Wurzel. »Junge!« mahnte mein Vater – »stolperst ja über deine eigenen Beine.« – »Weil ich noch an die Geschichte denke. Weißt du, wie mir Herr Hainlin und die Rosel vorkommen? Wie Justinus Kerner und seine Braut.«

»Möchten sie sich finden wie das Paar vom Klosterhof!« – »Finden? Wieso? Gefunden haben sie sich, schon als Kinder! Jetzt brauchen sie bloß noch zu heiraten.« – »Bloß? Du scheinst dir das Heiraten recht einfach zu denken.« – »Na ja, etwas Geld ist nötig. Aber der Kerner und seine Frau haben mit ganz wenig angefangen, und es ist ihnen doch geglückt ... Ach, sieh mal, Papa, da ist der Abendstern! Wie 'ne weiße Rose. Ist[87] es wahr, daß Abend- und Morgenstern dasselbe sind?« – »Es ist die Venus. Wenn sie im Sonnenuntergang steht, heißt sie Abendstern, im Osten Morgenstern.« Ich hielt inne und starrte hin: »Das also ist die berühmte Venus?« Mein Vater lachte kurz auf: »Ja, das ist sie – von der du deinen Kusinen und den Dienstmädchen gepredigt hast: die allergrößte Nuß, dicker noch als die Kokusnuß, sei die Weh-Nuß. Hast gar nicht unrecht! Um so eher solltest du begreifen, warum es keine einfache Sache ist zu heiraten. Mancher stolpert dabei über seine eigenen Beine – wie du vorhin! Und daß es welche gibt, die vom Altare weglaufen, statt ja zu sagen, hast du gehört. Der Hainlin ist auch so einer. Dazu auch ein Sterngucker. Starrt nach der Venus gen Himmel, statt mit der Nase zum Erdboden zu zielen. Oben, wo die ewigen Sterne leuchten, hat er herrlichste Aussicht – hienieden aber tappt der Träumlesjörg und kann mal böse hinpurzeln. Ach ja, das Reich der Guten ist nicht von dieser Welt.«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 81-88.
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