Knospen

[278] Und zum dritten Male hab' ich den Vater so gesehen, als er selber im Sarge lag. Ein Jahr nach Ulis Tode war's, und die Hälfte dieser Zeit hatte der arme Vater auf dem Krankenbette zugebracht, wo er nur im Morphiumrausche Ruhe finden gekonnt vor den folternden Beinkrämpfen. Nun aber brauchte er kein Betäubungsmittel mehr – lag im Sarge, jenseits von Qual und Lust.

Die vier schwarzen Kuttenmänner, Alexianerbrüder, denen in Aachen die berufliche Pflicht oblag, die Toten zu bestatten – flüsterten ihr Gebet, um dann den Sarg zu schließen. Als ob mein Vater heimlich alles beobachte, stahl sich in seine feierliche Miene ein mildes Lächeln. Es kündete mir, daß er nun auf seinen Glasberg gekommen war, zum heimlichen Friedensdörfchen Glastelfingen.

Als Vaters Sarg in kühle Erde sank, taumelten ein paar vergilbte Blätter hinterdrein – von der Esche, die sich drüber neigte. Diese Blätter – so ging es mir durch den Sinn – waren im Frühling zarte Knospen gewesen, sehnsüchtig schwellend. Und nun?

Vom Begräbnis heimkehrend, sann ich dem Rätsel nach, wie das Leben vom Knospen zum Welken drängt. Und ich dachte an jene Verse, die ich in der Frühlingsnacht am Neckar geformt hatte. Was damals bangsüß hervortrieb aus meinem lenzigen Herzen, hatte gestockt beim Schrei des Mädchens, das erstickend[279] rang in dunkler Flut ... Ja, auch Knospen können ersticken – nicht alle geraten zu sommerlicher Entfaltung. Wo ist Pia? Wo mein Uli? Was wird aus all unserer knospenden Jugend? Aus den Wolkenstürmern, die hinaufbegehren zur Glasberg- Prinzessin? Nichts weiter, als daß sie ein Weilchen drängen und stürmen in wogender Luft? Durch Sonnenschein und Wetter – um schließlich ein Modergrab zu finden? Mich schauderte ...

Und wie ich einsam spät bei der Lampe saß, nahm ich mein Versbüchlein und dichtete zu Ende jenes Gedicht, das unterbrochen worden war, als Gassenmaiers Mädchen im geschwollenen Flusse schaurig ertrank:


Es harft die hauchende Lenznacht

Im knospenden Weidenbaum. –

Vorüber wallen die Wasser

Und raunen

In meinen Traum.


Von fern ein Flötenseufzer

Zittert das Tal entlang –

Da beichtet wer im Dunkeln

Süßtraurigen Seelensang.


Ich selber möchte beichten –

Und kann nur lauschen stumm.

Ein stammelnder Knabe bin ich –

Weinen möcht ich – weiß nicht warum.


Bin wohl der Knospen eine

Und bebe vor dem Blühn:

Wird meine Blüte weiß sein?

Oder düster glühn?
[280]

Soll Hagel mich zerschmettern?

Oder küßt mich Sonnenschein?

Tu, wie du willst, mein Frühling!

Erschauernd bin ich dein!


Bin dein – wie dieses Mondlicht

Im Windgewölk verweht –

Bin dein, wie nun die Flöte

Im wogend weiten Dunkel

Schluchzend untergeht.


Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 278-281.
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