Uli

[275] Unglück kommt nie allein. Diese Volksweisheit bestätigte sich. Als ich von der Schule heimkam, empfing mich die Mutter kummervoll und blickte forschend: »Du weißt es noch nicht?« – »Was denn?« – »Ach Gott!« sagte sie weinerlich und wandte sich ab, als wolle sie nicht mit der Sprache heraus. »Aber es muß ja gesagt werden! So fasse dich! Dein Freund – Uli Ritter ...« Aufschluchzend brach sie ab.

»Was ist mit ihm? Ist er etwa auch –?« Sie nickte und griff nach meiner Hand: »Ja – tot! Vor zwei Stunden hat er sich ... drüben im Seufzerwäldchen mit der Pistole ... Vorhin haben sie ihn geholt – mit der Tragbahre ... Ach, Bruno! Laß dir's nicht zu nahe gehen – es ist nun mal so!«

Mein Vater, der soeben kam – bei Bolkendorf und Rosel war er gewesen –, hatte Neues erfahren: Wie's um Pia stand, hatte Uli bis zum gestrigen Tage nicht gewußt. Das in frommer Unwissenheit erzogene Mädchen hatte nicht fassen können, sie solle Mutter werden. Als sie es endlich begriff, wollte sie Uli schonen – er sollte, solang er Schüler wäre, nichts erfahren. Nach ihrer schweren Stunde hatte sie mit wehmütiger Freude ihren gesunden Knaben betrachtet. Und den Wunsch geäußert, er solle Wendelin getauft wer den. Sterbe sie, so wolle sie bei der Kapelle ruhn. Hierauf müde geworden, sei sie entschlummert,[276] ohne wieder wach zu werden. Durch Blutverlust infolge ungeschickter Pflege war ihre Kraft erschöpft.

Was Uli betrifft, der ja in Reutlingen war, so hatte er von Wendelin ein Schreiben erhalten, das die bevorstehende Niederkunft meldete, und zwar unter leidenschaftlichen Vorwürfen. Infolge eines Zufalls war dieser Brief um Tage verspätet in Ulis Hand gelangt. Obwohl er nun sofort nach Wurmlingen reiste, kam er zu spät – im Abendschein grüßten ihn die weißen Rosen, die Wendelin auf Pias Hügel gesteckt hatte.

Von Seelenqual zerrissen, war Uli nachts umhergeirrt und vormittags nach Tübingen gelangt. Hatte die Pistole gekauft und sich in die Schläfe geschossen. Auf jener Bank war's, wo er mit Wendelin und mir das Gespräch über Liebe gehabt hatte. Man fand bei der Leiche den Brief Wendelins – darunter von Ulis Hand geschrieben:


»Hab all mein Tag kein gut getan,

Kommt mir auch nicht in Sinn.

Die ganze Freundschaft weiß es ja,

Daß ich ein Unkraut bin.«


*


Ulis Vater war aus Stuttgart gekommen – in Tübingen sollte Uli begraben werden. Der Direktor meines Gymnasiums war weitherzig genug, die Beteiligung der Schule am Begräbnis zuzulassen. Es erfolgte mit Musik, lang zog sich der Zug hinterm Sarge, der hoch mit Kränzen bedeckt war. Ich ging neben Jahn, wir schwiegen. Wendelin war nicht dabei – ich habe ihn überhaupt nicht wiedergesehen.

Beethovens Trauermarsch erscholl. Als wir zum Gymnasium kamen, stand da mein Vater – hatte den Hut vor dem[277] Sarge gezogen. Ich vergesse nicht seinen Gesichtsausdruck – ehrerbietig schien er den Toten zu segnen. Am Grabe blies die Musik den Choral: »Ruhe ist das beste Gut, das man haben kann.« Und nun kam die Rede des Herrn Dekans. Was er sagte, klang salbungsvoll, ich konnte aber nicht folgen, der Schmerz hatte mich zu sehr aufgeregt. Zuletzt sangen Schüler: »Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?« Bei diesen Worten fiel mein Blick auf meinen Vater, der sich dem Zuge angeschlossen hatte und nun wieder versunken blickte. Mit seiner schwarzen Binde vor der Augenhöhle, mit den Falten, die ein herbes Geschick in die hagern Wangen gepflügt hatte, sah er wie ein narbiger Kriegsveteran aus, ein müder Lebensinvalide.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 275-278.
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