Pia

[272] Mein Verkehr mit Wendelin war fast eingeschlafen. Seit uns nicht mehr dieselbe Klasse umschloß, besonders aber seit Hainlin und Uli uns verlassen hatten, war ein Band gelöst, das zuvor den Hauptanteil an unserm Zusammenhalten hatte. Von Belang war noch, daß die Knabengruppe, die mir im Neckarbade nahe gekommen war, nicht Wendelins Teilnahme fand. Auch durch sein sorgenvolles, immer scheues Wesen hatte er sich mir entfremdet. Wie ernsthaft sein Inneres gestört war, verriet das Zurückgehen seiner Lernfähigkeit. Nach Aussage von Mitschülern war er in den letzten Monaten unaufmerksam und zerstreut, den fremden Sprachen gegenüber gleichgültig, ja mürrisch.

Einmal fragte ich ihn, warum er so verändert sei. Düster loderten die Augen im blassen Gesicht, sein Mund zuckte, blieb aber verschlossen. »Ist es, weil Pia nun wirklich ins Kloster soll?« Er kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Endlich kam es dumpf heraus: »Jetzt gang i selber ins Kloschter!« Ich wußte nichts zu erwidern – irre war ich an ihm. Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, seufzte ich: »Ach ja, Wendelin! Aus den Augen, aus dem Sinn! In Reutlingen hat uns der Uli, scheint's, vergessen.« Da verzerrte sich sein Gesicht, und heftig kam die Entgegnung: »Von dem – red mir nicks!« Erschrocken war ich – stumm gingen wir[273] nebeneinander durch die Gassen, bis zu Wendelins Wohnhaus, wo er mit einem Händedruck schied.

Der Sommer war wieder da, und es hatte sich entschieden, die Tübinger Tage der Familie Wille seien gezählt. Die Uebersiedlung nach Aachen war beschlossene Sache. Meine unrastige Mutter begann bereits mit dem Packen. Da ging die Wohnungsklingel – Jahn war's, der mich sonst durch einen Pfiff von unten zu rufen pflegte. Sein verstörtes Gesicht verriet, er habe eine Hiobspost. Im Stübchen mit mir allein, rang er nach Worten: »Wendelins Schweschter ... ischt ...« – »Pia? Ist sie im Kloster?« – Düster schüttelte er den Kopf. – »So sprich doch! Was ist mit ihr?« – Er stierte vor sich hin, preßte die Faust an die Stirn und stöhnte: »Tot!« – Ich war sprachlos, erstarrt – konnte nicht fassen, was er nun zögernd berichtete:

Wendelin war seit Tagen nicht zur Schule gekommen. Jahn, der ihn hatte besuchen wollen, war von Frau Häfele empfangen, und weinend hatte sie gesagt, Wendelin sei zur Pia nach Wurmlingen; krank sei sie, bedenklich. Soeben nun – fuhr Jahn fort – hab er von Pfeilstickers Bruder, dem Mediziner, gehört, Pia Flammer sei vorgestern gestorben – an Herzschwäche, nachdem sie einem Kind das Leben gegeben.

»Was? Pia? – hat ein Kind?« – »Vom Assischtente der Geburtshilflichen Klinik hat's der Pfeilsticker erfahren. Ja, die Pia! Das Kindle sei am Leben!« – »Aber wie ist denn das – möglich? Pia – ein Kind? Sie wollte doch ins Kloster gehn!« Jahn zuckte die Achsel, zog sein Taschentuch und wischte sich die Augen – worauf auch mir die Tränen kamen.

Gemildert wurde mein Leid durch einen Zug von Fremdheit, der jetzt in Pias Bilde aufgetaucht war. Ihr Mutterwerden hatte sie mir entfernt – wie eine Kluft lag zwischen uns etwas Unfaßbares. Meine Trauer war nun hauptsächlich Mitgefühl[274] mit Wendelin. Welch ein Schmerz mußte es für ihn sein, der so innig an seiner Schwester hing! Dann bedachte ich, wie hart Uli von diesem Schicksal getroffen sei. Und grübelte über die heimlichen Beziehungen, die ihn mit Pia verbanden – ich hatte manches beobachtet. Schließlich sagte ich mir: Ein Kind hat nicht bloß eine Mutter, sondern auch einen Vater. Wer ist denn nun hier der Vater? Hat jemand Pia verführt, dem Uli abspenstig gemacht? Oh! gräßliche Dinge können sich verbergen hinter dem sanften Namen »Liebe«! Meine Mutter, die mich nachts hatte schluchzen hören, war besorgt, ich könne krank werden. So hielt sie mich von der Schule zurück.

Jahn besuchte mich wieder und brachte die Nach richt, übermorgen werde Pias Sarg nach Tübingen überführt. Kaum waren wir unter vier Augen, so raunte er: »Das Kind ist – von Uli!«

Ich fuhr zusammen – atmete dann auf. So war Pia nur ein Opfer ihrer Zärtlichkeit. »Und er?« fragte ich. – »Mr weiß nicks von ihm – ond vielleicht weiß er nicks von Pia.« – »Was? Man hat ihn nicht benachrichtigt? Sie ist gestorben, ohne daß er –?« Schweigend zuckte Jahn die Achsel.

Als ich andern Tags zur Schule kam, hieß es, heute bei Sonnenaufgang sei Pia begraben. Nicht in Tübingen, sondern bei der Wurmlinger Kapelle. Als ihr das Sterbesakrament gereicht worden sei, habe sie den Wunsch geäußert, auf dem Bergfriedhof zu ruhen, der ihr besonders lieb. – Ich fühlte, wie ein Zucken über mein Gesicht ging – die Kehle war mir zugeschnürt – dann faßte ich mich und sagte weich: »Piale! da bist du nun auf deinem Glasbergle!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 272-275.
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