Alte Liebe rostet nicht

[360] Ein paar Wochen hindurch war ich täglich zu Tante Berta gegangen und hatte mit ihr die Vergangenheit besprochen, auch Hainlins schriftlichen Nachlaß durchforscht. Nun lockte mich beständig klares Wetter, die aufgeschobene Albfahrt zu unternehmen. Um von Wirtshäusern, wo in der Kriegszeit oft Schmalhans Küchenmeister war, möglichst unabhängig zu sein, gedachte ich Mundvorrat im Rucksack mitzuführen. »I besorg Ihne Schinkewurscht!« – »Aber, Tante Berta, meine Fleischmarken sind zu Ende.« – »Na ganget mr zur Metzgerei von Gackenheimer – die Meischterin gibt ohne Fleischmarke – zumal Ihne!« – »Mir? Wie sollte sie dazu kommen?« – Tante Berta lächelte schalkhaft: »Ha no – Frau Gackenheimer ischt ja Ihre Jugendflamme: selles Rickele, mit dem Sie konfirmiert send.« Ich stutzte – fühlte, daß ich rot wurde: »Aber Fräulein Schneckle! Zu seiner Jugendflamme kann man doch nicht gehn, um ein Stück Wurst zu kaufen?« – »Warum net? Alte Liebe roschtet net! Wenn Sie aber zu schenierlich sind, um von der Schinkewurscht aazfange, na könnt i's ja tun.« Da sie sah, daß es mir recht war, machte sie sich zum Ausgehn bereit.

Als die kleine, gebeugte Gestalt im faltigen Umhang, ein altmodisch Hütchen auf dem grauen Lockenhaar, an meiner Seite hinhuschte, dachte ich lebhaft an die ferne Vergangenheit. Den verkrümmten Rücken hatte Bertale schon damals gehabt, auch[361] den ältlichen Zug im schmalen, blassen Gesicht. Ihre Seelenheiterkeit hatten die Jahre nicht getrübt – noch immer blühte aus den etwas wehmütigen Zügen jenes Lächeln auf, dessen Kindlichkeit damals, als ich mit der Sechzehnjährigen Schlittschuh gelaufen war, nebst ihrer munteren Unterhaltung einen Zauber auf mich ausgeübt hatte. Sie verstohlen von der Seite betrachtend, sah ich in den Altersfältchen, die dem Gesicht aufgeprägt waren, nur ein Zeichen innerer Vertiefung – ich dachte an die goldklare Feierstille des Altweibersommers. »Wissen Sie, Tante Berta, wie Sie mir jetzt vorkommen? Fast wie jenes Mädle, mit dem ich gern auf der Eisbahn war. Eigentlich verändert sich doch der Mensch im Leben fast gar nicht.« Sie schien verwirrt, mich streifte ein sonniger Blick: »Ja damals! Im Herzen lebt mir noch alles, Sie hänt sich meiner ahngenomme, obwohl mit eme buckligen Mädle kein Staat zu machen war. Hänt sich um mich ritterlich bemüht, mir die Schlittschuh getrage, gelt? Wie schön, so ebbes erlebt zu haben! Dees hat mr na in seiner Säl' wie e netts Schmuckstück – ond nimmt's bisweile aus m Käschtle, sich dra zu erquicke.« Da war nun wieder die hervorblühende Heiterkeit. – »Sagen Sie bloß, Tante Berta, wie bringen Sie es fertig, immer so jung zu bleiben?« – »Jung?« staunte sie. »Ha, wie wär denn dees? Sechzik bin i.« – »Die echte Jugend bleibt dem Menschen treu bis ins Alter. Und merkwürdig! Damals kamen Sie mir manchmal mütterlich vor wie ein gutes Tantchen; jetzt aber sind Sie jung geworden, sind geradezu kindlich! Sie haben neulich gesagt, eine Alteweibermühle hätten Sie. Sogar zum Jungbrunnen wissen Sie den Weg. Ich möchte auch ein wenig mithalten. Wo versteckt sich denn Ihr Jungbrunnen?«

Sinnend blickte sie auf: »Bei meine Patiente!« Weich war das gesprochen, dabei voll Ueberzeugung. »Meine Patiente soll[362] i gsund mache – aber die tun m i gsund mache. Zum Exempel heut morge – wien i zur Frau Kielwein bin, ihr krankes Herz zu massiere, damit's Blut besser zirkuliert – ganz behutsam muß mer dees ... kommt also ihr Mann, wo vorher immer so sorgevoll gwä ischt – kommt Meischter Kielwein auf emal freudestrahlend: Mei liabs Freilein Schneckle! Ihre Kur schlagt ahn! Die ganze Nacht hat mei Fraule durchgschlafe ... Ha, wisse Sie, Herr Wille, wemmr so Erfolg sieht ond sich sage derf, daß mr net umsonscht schaffe tut – daß mr Bedürftige ebbes Guets erweise ka, – na wird mr so froh – oder wie Sie sage, so jung!«

»Sie sind ein guter Mensch, Fräulein Schneckle – das macht's.« – »Den Titel derf i mir net ahnmaße. I bin net gut – tun Sie lieber sage: Es tut mir gut! Dees ischt älles. Schaue Sie: Neulich komm i zum Marthale. Sie ischt e zwölfjähriks Mädle, hat en arg böse Fuß. Jetz, wien i's Marthale massier, nimmt sie mich om den Hals ond drückt ihr Bäckle an meins. Aus ihrem Aug leuchtet's, als ob durchs Schlüsselloch der Himmelstür ein goldiger Strahl zu mir käm ... Ha, wem's so guet geht, der freili hat e Jungbrunne ... Aber tun mr net von mir rede! I schau net gern in den Spiegel. Ond Sie, Herr Wille, sollten Ihre Gedanke jetzt lieber em Rickele zuwende. Denn es bleibt dabei: alte Liebe roschtet net!« – »Wenigstens will ich sehn, ob von dem Glanz, den Rickele damals für mich hatte, noch etwas zu finden ist.«

Träumerisch meinte Fräulein Schneckle: »Ha ja! 's Rickele war ja auch beim Schlittschuhlaufen! Wisset Sie noch, wie dr Gräter mit Ihne hat Händel ah'fange?« – Ich nickte: »Ach richtig! Dr Gräter!« – Neckisch fuhr sie fort: »Ond daß i onbedeutends Dingle der Ahnlaß sein konnt zu so eme Streit, wo beinah übel ausgange wär! Wisset Sie noch? Mit dem[363] Rickele sind Sie Hand in Hand gelaufen. Dicht vor Ihnen aber bin i gfalle. Wie das dr Gräter sieht, lacht er schadenfroh. Dees tut Sie aufbringe – dr Gräter wird giftik, ond – die Rauferei geht los. Gelt? So isch gwä!«

»Ja, wie Pfeffer scharf und giftig war der Gräter. Er packte mich, ausgleitend schlug ich lang hin. Ich höre noch Gräters Hohngelächter. Was mich aber am meisten gewurmt hat, war Rickeles Benehmen. Ihr bot Gräter die Hand, und was tat sie? Nahm die Hand und lief mit ihm davon ... O Bertale! Diese kaltschnuppige Art Rickeles wirkte auf mich abstoßend, obwohl ich sonst in sie verschossen war.« – »Verschossen, ja! Glühende Bäckle hat sie ghätt ond leuchtend braune Aeugle unterm Pelzbarettle – zwei dicke dunkle Zöpf vorn über die Schultern.« – Sinnend nickte ich: »Ja, sie war hübsch – wie ein holdes Wunder berührte mich ihr Blick – ich dachte dabei an das Märchensprüchlein: Was macht mein Kind, was macht mein Reh? Anmutig war jede Regung des Köpfchens und ihr leicht wiegendes Hinschreiten. In ihrer Altstimme bebte etwas – wie soll ich's nennen? Ich möchte sagen: Gemütstiefes. Glaube aber, das hatte sie gar nicht. Sogar ihre Tübinger Mundart war mir reizvoll. Eine neue Welt hatte Rickele mir erschlossen, süße Schauer bebten durch mein Herz ...«

»Da wären mr!« sagte Fräulein Schneckle. Vor einem Schaufenster, das zwar keine Fleischwaren zeigte, aber durch ein Schwein von Porzellan die Metzgerei andeutete. Weil die Ladentür durch einen Rollvorhang geschlossen war, traten wir in den Hausflur, und Fräulein Schneckle schellte an der Nebentür des Ladens.

Nun erschien eine weibliche Gestalt. Obwohl sie nichts Mädchenhaftes mehr hatte, sah sie dem Rickele von damals ähnlich – nur war die Knospe jetzt zur vollen Rose erblüht.[364] »Aber nein!« dachte ich, »Rickele kann das unmöglich sein. Ihre Tochter wohl.«

»Ah? Fräulein Schneckle!« sagte sie knicksend. »Grieß Goot! Wie schade, daß Sie nach Ladeschluß komme! 's ischt mir arg leid. Aber ahn Verordnunge muß mer sich halte, gelt?« Auch die Stimme erkannte ich wieder – sie hatte etwas vom alten Reiz.

»Dooch net!« entgegnete Fräulein Schneckle. »Net daß mr gschäftlich komme! Prifaat! Der Herr da, aus Norddeutschland, ischt e Jugendfreind Ihrer Großmutter.«

Großmutter! Mein Gott ja! Also nicht Rickeles Tochter ist das, schon ihre Enkelin! Ich war so verwirrt, daß ich nicht mehr genau weiß, wie die Szene sich abspielte. Bloß daß ich Fräulein Schneckle reden hörte: »Er möcht sie halt wiedersähe, nach so langer Zeit! Bitte, holet Sie die Frau Meischterin, gelt?«

Wir standen in halber Dämmerung. Vor einem Ladentisch, auf dem Schüsseln waren. In blanken Messinghaken hingen Schwarzwurst und Schwartenmagen, es roch nach geräuchertem Fleisch.

Das Ladenfräulein war gegangen – nun kam sie wieder – mit einer Matrone von bedeutender Körperfülle. Unter einer geräumigen, weißen Schürze hochgewölbt das Busengerüst. Das volle Gesicht rot, das Haar weiß, das Auge dunkel.

»Grieß Goot, Frau Meischterin!« Fräulein Schneckle sprach's – und rückte nun heraus mit einer umständlichen Darlegung, die sich auf mich bezog. Sie erwähnte das Schlittschuhlaufen, brachte sogar ein Gedicht in Erinnerung, das ich damals meinem verehrten Fräulein Rickele gewidmet hatte. Schließlich kam eine leise Hindeutung auf die Albfahrt, die ich vorhätte, ohne unterwegs auf einen Bissen Schinkenwurst rechnen zu können.

Obwohl diese Darlegung schüchtern und bittend herauskam, war sie mir peinlich. Doch unterbrach ich nicht. Fühlte mich[365] wie gelähmt – außerstande, zu begreifen, diese Fülle von Fleisch sei mein Rickele von damals. Allerdings glaubte ich die braunen Augen wiederzuerkennen. Aber nichts Märchenhaftes hatten sie – fremd, mißtrauisch begegneten sie meinem zagen Blick. Etwas eingeengt waren sie durch die feisten Backen. Rickeles Haar, obwohl jetzt silbergrau, hatte die starre Kraft von damals bewahrt. – Fräulein Schneckle brach ihre Rede ab, und nun entstand ein Schweigen, das den schnarchenden Atem der Meisterin auffällig machte.

Unschlüssig schien Frau Gackenheimer, wie sie sich stellen solle zu meinem Besuch. Bald lächelte sie verlegen, bald zog sie ein saures Gesicht, bald zuckte sie die Achseln. Und zögernd kam das Geständnis: »Ha no! Waas soll mr da sage? Von dem Gedichtle woiß i nix. Mr kann halt net älles im Kopf behalte, waas eim passiert ischt. Mit dem Schlittschuhlaufe hat's seine Richtikkeit! Ha jo! Damals ischt mr e Backfischle gwä – jetzt aber hat mr andres zu tun als ahn so Firlefanz zu denke. Und von wege der Schinkewurscht muß i leider sage, mr hänt koine mähr. Aber Schwartemage könnt i dem Herre ablasse.« Meine Verlegenheit mißverstehend, fügte sie mit gnädigem Lächeln hinzu: »Ha no – diesmal geht's ohne Floischmarke – mr send ja onter ons!« Und mit der Linken ergriff sie den Schwartenmagen, während die Rechte das Aufschneidemesser hielt. Verwirrt schlug ich die Augen nieder. Auf die feisten Arme starrte ich, auf die roten, rundlichen Finger.


*


Als wir auf der Gasse waren, atmete ich leichter. Schweigsam gingen wir nebeneinander. Endlich stammelte Tante Berta: »Mein Goot! Han i doch gmoint, jeder Mensch muß e Herz haben für seine Jugend, müsse sie drin bewahren wie e Kleinod. Aber jetzt ... Waas hat sie gsagt? Sie wiß[366] nicks mähr von alledem! Also hat sie ihr Kleinod verlore?« – Ich zuckte die Achseln. »Verloren? Wie ich sie jetzt kenne, hat sie es kaum je besessen.«

Die grauen Gassen kamen mir auf einmal öde vor – erloschen war ihr heimlich Schimmern, das Altgold, das ich sonst wahrgenommen hatte. Da hausen nun, dachte ich, nicht wenig solcher Menschen, die nichts mehr wissen wollen von ihrer Jugend. Eine Lücke haben sie in der Brust, ein Vakuum – oder, wenn da ein Herz ist, hat es sich verfetten lassen vom Speck der Gewöhnlichkeit. Sollte innen mal was geflackert haben, so ist es traurig ausgebrannt, an Stelle des Herzens haben sie einen Klumpen Schlacke.

Planlos gingen wir zur Neckarbrücke, dann die Treppe hinab zur Platanenallee. Hier ergriff mich besonders die Erinnerung an meine knabenhafte Schwärmerei für Rickele. Mein Freund Wendelin hatte mich damals halb scheu, halb warnend gefragt, was ich eigentlich im Sinne hab' mit dem Mädle. Ich hatte gestutzt – sehr unklar war mir, wonach ich mich sehnte. Erschauernd hatte ich mir ausgemalt, wie süß es sein müsse, mit Rickele durch das Seufzerwäldchen zu wandeln – bei Mondschein – meinen Arm um ihren Nacken gelegt, so daß ihr Köpfle an meiner Schulter ruhte ...

»Ist es wirklich wahr?« seufzte ich und empfand etwas wie Beschämung – »ist es möglich, daß Rickele mich einst begeistern konnte? Was bin ich doch für'n Schaf gewesen!« Nach diesem erlösenden Wort fand ich ein Lächeln.

»Ha no!« meinte Tante Berta – »wenn mr e grüner Fratz ischt, gibt mr ebbes aufs Lärvle! Später wird mr anders. Die Blüte verweht, auf die Frucht kommt's ahn. Ond im September gibt's welke Blätter. Freilich auch Altweibersommer. Die goldklare Feierstille lieb i mähr als den unruhigen Frühling.«[367]

Und nach dem Uhland-Denkmal, das unweit der Platanenallee steht, deutete sie hin: »Der Uhland drübe auf seim Poschtamentle tut mir aus der Säl' spreche in eme Gedichtle, das mir arg gfallt: ›Ich bin so hold den sanften Tagen – wann ihrer mild besonnten Flur gerührte Greise Abschied sagen – dann ist die Feier der Natur. Sie prangt nicht mähr mit Blüt' und Fülle, all ihre regen Kräfte ruhn – sie sammelt sich in süße Stille, in ihre Tiefen schaut sie nun. Die Säle, jüngst so hoch getragen, sie senket ihren stolzen Flug – sie lernt ein friedliches Entsagen – Erinnerung ist ihr genug.‹« – Sie war stehen geblieben, um mit Innigkeit diese Verse zu sprechen.

Es löste sich etwas von meinem Herzen, wie wenn von Lenzodem ein gefrorener Born auftaut: »Ja, gutes Bertale: Alte Liebe rostet nicht! Nur Menschen können rosten. Liebe, wo sie echt, bleibt ein blankes Kleinod. Oder ist sie nicht noch mehr als Diamant? Ist sie nicht, wie Sie sagen, ein Strahlen aus der Himmelspforte?«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 360-368.
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