Am Stammtisch

[316] Nicht selten soll's geschehen, daß in einem entlegenen Weltteil ein Schwab dem andern begegnet – dann schütteln sie einander die Hände und sprechen: »Klein ischt die Welt!« In seinem kosmopolitischen Liede erzählt Bruder Straubinger, auf seiner Wanderschaft in Indien hab' er einmal, an einem Wirtshaus vorüberkommend, auf gut Glück hineingerufen: »Ischt koiner von Böblinge do?« Drauf sei hinten von der Bierbank, wo ein alter Brahmine gesessen, das schwäbische Echo erklungen: »Noi, dees net! Aber von Ellwange!«

Diese Geschichte ließ mich hoffen, Enzios Spur in Tübingen ausfindig zu machen, zumal mit der Art einer Kleinstadt gerechnet werden durfte, wo jede fremde Persönlichkeit neugierig beobachtet und besprochen wird. Nun geh' aber gleich vor die rechte Schmiede! sprach ich zu mir, nämlich – wie Bruder Straubinger – ins Wirtshaus! Nachmittags war ich einziger Gast in der Gaststube, konnte frei mit der Kellnerin plaudern. »Hören Sie, Liesel! Hier in Tübingen soll ein Amerikaner weilen – ist in meinem Alter – hat kohlschwarze Augen – nennt sich Tobias oder so ähnlich. Wo könnte der wohnen?« – Die Kellnerin blickte nachdenklich und zuckte lächelnd die Achsel: »Onsereis kommt wenik naus.« Aber aus dem Schubfenster, das zur Küche ging, erscholl der Köchin Stimme: »Ameriganer? Dees könnt dr Hallelujah-Mister sein.«[317]

Begierig griff ich die Andeutung auf – sie paßte zu dem Worte des alten Kuttler: Aemörriken-Mister. »Hallelujah-Mister sagen Sie? Weshalb nennt man ihn so?« – Und durchs Schubfenster lugend, schmunzelte die Köchin: »Nicks für unguet, Herr Dooktr, daß i so vorlaut bin. Gnaues weiß i selber net. Aber e Student aus meiner Bekanntschaft tut über den Ameriganer schimpfe. Jeden Morge stör ihn der im Schlaf, indem daß er Choräl sing – ond ameriganische Hallelujah-Liedle – wie so Leut von dr Heilsarmee.« – »Amerikanische? Das wird er sein!« Auf Enzio war um so eher zu raten, als dem Zögling der Jakobskindle fromme Lieder zuzutrauen waren. Auf meine Erkundigung, wo der Student wohne, erfolgte der Bescheid: Das wisse sie nicht, auch nicht seinen Namen. Aber darüber könne ich Auskunft erhalten in der Weinwirtschaft zur Pepita, wo der Student verkehre.

Nach dem Abendessen machte ich mich zur Pepita auf. Es regnete, dunkel war die mir bezeichnete Gasse, nur eine Laterne glomm. Die alten Häuser brüteten mürrisch, ihre Giebel verloren sich im Nebel, und weil die unteren Fensterläden geschlossen waren, kam nur hin und wieder ein Lichtschimmer aus den Wohnungen. Vergebens sah ich mich nach der Wirtschaft um – niemand war da, den ich hätte fragen können. Endlich nahten Schritte – es kam jemand mit einem Regenschirm. »Entschuldigen Sie – wo ist die Weinstube der Pepita?« – »Bitte, kommen Sie mit – i gang selber zur Pepita.«

Ich folgte dem Bürger; schwerfällig schritt er voran. Nicht lange, so wandte er sich, auf ein krüppeliges Haus deutend: »Dem sieht mer's net ahn, was für e guts Tröpfle da lauft.« Durch die niedere Haustür traten wir in einen Flur, der elektrisch erleuchtet war, im übrigen nach ältester Kleinbürgerzeit aussah. Steinfliesen – in den Ecken standen Fässer und Geräte herum – zum Keller führte eine Falltür, hochgeklappt.[318]

Das Gaststüble, in das wir kamen, war klein, ohne Gäste, hatte nur drei Tische aus rohem Buchenholz, an den Wänden Bänke. Die Decke sah vergilbt aus wie angeschmauchte Meerschaumpfeife. Während wir Schirm, Hut und Mantel ablegten, scholl aus dem offnen Nebenraume Bratengeprutzel und eines ältlichen Weibes Stimme: »Grieß Goot, Herr Stadtrat!« Dann kam eine Matrone, grauhaarig, faltigen Gesichts. Dem Stadtrat ohne weiteres einen Schoppen Rotwein hinstellend, blickte sie mich prüfend an: »Neu oder alt?« Ich entgegnete: »Vom Neckar soll immer der Neue ratsam sein.« – »Neuen also!« Und die Frau ging.

»Ist das die Mutter der holden Pepita?« raunte ich – worauf er lächelte: »Sähr gut! Ha jo! Wenn ein Fremder herkommt ond bloß den Namen Pepita kennt – ond wenn alsdann dees Weible da erscheint, so zwische Fufzik ond Siebzik, na fragt er, wo die Tochter sei – unter der Pepita stellt er sich halt ebbes vor wie jene aalglatte Donna, wo einschtmals der Welt den Kopf verdräht hat mit ihrem Tanzbein, gelt?« Schelmisch nach der Alten blinzelnd, die mir jetzt meinen Schoppen brachte, fuhr er fort: »Mir wär's au lieber, wenn die Pepita e Schlange wär!« – »E Schlange?« fragte wieder eintretend die Wirtin. – »Ha – weil die Schlange alle Jahr efrische Haut kriegt – dees wär onsrer Pepita zu gönne.« – Die Wirtin parierte den Hieb schlagfertig: »Wenn i e Schlängle wär, an den Herrn Stadtrat tät i mei Gift net verschwende – – der ischt selber giftik gnueg.«

Belustigt zwinkerte der Stadtrat: »Von Ihne will i au koi Gift – sondern e guets Tröpfle – ond jetzt Maultasche, gelt?« – »I werd so guet sein!« entgegnete sie schnippisch und kehrte zur Küche zurück.

»Also das ist die Pepita! Hat sie diesen Namen wenigstens in ihrer Jugend gerechtfertigt?« – Lächelnd schüttelte der[319] Stadtrat den Kopf: »Daß i net wüßt! Aber ihr Mann, der verstorbene Beck, hat Paul Pita gheiße – gschriebe: P. Pita – drauße auf'm Schild steht's.« Gemütlich trank er mir zu, und ich tat Bescheid. Mir mundete das sanfte Feuer des jungen Rotweins.

»Bloß dr Wecke fehlt,« sagte er – »Weißbrot erhöht den Wohlgeschmack. Schon um wieder Wecke zu kriege, sollt mer endlich Friede schließe. Ond all die Sächle, wo mr vor dem Krieg gschleckt hänt – Rührei, Leberspätzle, Milchreis ... o jerum, älls futsch!«

»Sie! Pepita!« rief er nach der Küche. »Für wen soll denn der Brate da sei?« Wieder eintretend, sagte die Wirtin geheimnisvoll, als schenke sie uns besonderes Vertrauen: »Für zwei Herre aus Norddeutschland! Vor dreißik Jahr hänt sie in Tübinge studiert – Pfarrer ischt der ein, der andre, scheint's, Kapellmeischter. Im vierte Kriegsjahr hänt sie Sehnsucht nach dem Ländle verspürt. Hänt brieflich bei mir gfragt, ob da ebbes Guets zu kriege wär, wenn sie zu mir kämen – Ripple mit Kraut, Maultasche ond so Schwabefressa. Om älls in der Welt möchtens dees noch mal schmause. Aufs End des Kriegs möchten se lieber net warte – dees könnt gar zu lang ausbleibe, ond immer schlimmer könnt's komme ... Ha, waas sollt i mache? Den Wunsch han i net abschlage könne. Na sind se halt komme. Heut sind se zum Frühschoppe da gwä, alsdann nach Burg Entringe gwalzt, da wollten se zu Middaag speise – ond für den Abend sollt i ebbes Guets aschaffe. In der Kuch han i arichte lasse – damit hier kein Gascht futterneidik wird ... Heuer hat's sogar Denunziante, gelt? Zom Dank dafür, daß onsereis aus guetem Herze ...« Grunzend nickte der Stadtrat. Und zur Küche zurückkehrend – seufzte die Wirtin: »Ja, 's ischt scho so!«[320]

»In der Zeit könnt eim der Humor vergehe!« brummte der Stadtrat. »E Menscheschlachthaus ischt Europa. Höre Sie die Granatemädle?« – »Sie meinen die Weiber, die drüben singen? Kriegsindustrie?« – »Ja, drüben beim Mekanikus! Zum Mord wirt heuer älles abgrichtet – sogar die Mädle – höre Se, wie se Granateröhrle schleife? Zuwid'er ischt mir dees Quietsche: uii – hii – äh!' – Das fatale Geräusch war mir schon auf der Straße aufgefallen. Die Arbeiterinnen suchten's durch ein Lied zu übertönen:


»Wenns im Felde blitzen

Bomben und Granaten,

Weinens die Mädchen

Um ihre Soldaten.«


»Waas sagt mr denn bei Ihne über den Krieg? Sie send von Norddeutschland, gelt?« – Ich hielt es für angebracht, zu bemerken, ich sei vor mehr als vier Jahrzehnten Schüler des Tübinger Gymnasiums gewesen, in der Stiftskirche konfirmiert, also mit einem gewissen Heimatgefühl für Tübingen behaftet. Bei dieser Gelegenheit stellte ich mich vor.

Verblüfft war ich, als jetzt die Wirtin, aus der Küche kommend, fragte: »Wille heißt der Herr? Vielleicht Bruno?« – »Allerdings! Wie kommen Sie darauf?« – »Ha,« sagte sie vergnügten Gesichts: »I bin halt mit Ihne konfirmiert. Oschtern Vierondsiebzik, gelt? I hol Ihne dees Täfele

Sie hastete fort – und brachte etwas unter Glas Gerahmtes, ein Druckblatt: »Da stehn die Konfirmanden – dees bin i – ond dahier steht Ihr Name: Wille, Bruno.« Jugendlich lachten die Augen aus dem alten Gesicht, während ich sie anstarrte.

Nicht die leiseste Erinnerung dämmerte in mir. Rickele, meine erste Liebe, war sie nichtdie hatte ja braune Augen, Rehaugen ...[321]

»'s ischt scho so!« wiederholte Pepita. »Ond Sie send mir deutli in der Erinnerong – graad mir zwei hänt ja bei der Prüfung dieselb Frag bekomme ... Wisset Sie noch?« – Ich entsann mich: »Wer bist denn du?« hatte der Dekan gefragt. Wie damals antwortete ich jetzt: »Ich bin ein Christ!« – »Ha freile!« jubelte sie – »graad so hänt Sie's gsproche! Krißt! Ich – bin – ein – Krißt! Die norddeutsche Sprach hat mir arg gfalle, ond so han i au spreche wölle, wann die Reih an mi käm. Aber wie der Herr Dekan mi gfragt hat: Wer bischt denn du? han i mi gschämt – nicks gholfe hat mei Vorsatz, ond groob wie mir der Schnabel gwachse ischt, han i gsproche: Ich bin ein Krischt

Belustigt nickte der Stadtrat: »Der Frosch hüpft wieder in den Pfuhl – ond säß er auch auf goldnem Stuhl ...« – Aufgeräumt plauderte Pepita weiter: »Ond wisset Sie noch, wie mer onsern Konfirmandespaziergang gmacht hänt? Nach Schwärzloch war's – an der Halde han i Batenke pflückt ond's Sträußle an mei schwarz Kleidle steckt. Nachher, in der Wirtschaft, hänt mr mitsamme Moscht trunke ond hänt gsunge: Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht ... Ja – schö ischt die Jugend – sie blüht nicht mähr ... 's ischt scho so!« Seufzend nickte sie – ich schaute in ihre wasserblauen Augen – die ergrauten Wimpern bebten – ein Zucken ging durch die Fältchen ihrer Schläfe ...

Das also ist deine Jugend! sprach ich still zu mir. Als ein blühendes Mädle – so hat deine Träumerei geschwärmt – werde sie in Tübingen dich begrüßen – und da ist sie nun: vertrocknet, grauhaarig, das Gesicht verhutzelt, die Stimme wie eine knarrende Tür. Aber – in diesem alten Gesicht ist noch etwas Schönes, ein mattes Abendrot.

Die Granatenmädle drüben sangen das Fuhrmannslied:
[322]

»Hab mei Wage voll gelade,

Voll mit alte Weibe –

Als mr in die Stadt nei kamen,

Huben s' ahn zu keife –

Hüh, Schimmel, hüh!«


Nach einer Pause brachte ich meine Anfrage vor: Ob hier ein Student verkehre, der mir Auskunft geben könne über den sogenannten Hallelujah-Mister – wo der wohne. »Die Auskunft kann i selber gebe,« entgegnete Pepita – »in dr Haaggaß wohnt dr Hallelujah-Mister, ond e Kriegslieferant aus dr Schweiz ischt er. Näheres weiß dr Herr Gräter.«

»Gräter?« fragte ich – »ist das etwa mein Schulkamerad vom hiesigen Gymnasium?« – »Freile! Er ischt so alt wie wir – ond auf'm Gymnasiom ischt 'r gwä!«

Der Stadtrat sah nach seiner Uhr: »In achtzehn Minuten kommt 'r! Hier zom Stammtisch gehört ja der Podex.« – »Podex?« rief ich belustigt – »wenn Sie ihn so nennen, ist's der Gräter – den Spitznamen haben wir ihm in der Klasse gegeben. Den hat er also noch?« – »Freili!« entgegnete der Stadtrat – »seit ich ihn kenne, heißt mr ihn den Podex – wenn auch bloß hinter seinem Rücken – er hat's net gern, wenn er's hört. Also schon in dr Schul hänt sie ihn so gheißen? Warom denn? Verrate Sie mir dees!«

»Das kann ich Ihnen sagen, Herr Stadtrat, aber erst befriedigen Sie meine Neugier! Was ist aus Gräter geworden?« – »Ha! waas soll aus eim werde, der in Tübinge hocke bleibt? Waas anders als e eingefleischter Philischter? Zum Oberamtssegredär hot er's bracht – jetzt lebt er außer Dinnscht, von seiner Pensio' ond eme Kapidal, das er geerbt hat.« – »Verheiratet?« – »Alter Junggesell – mit seim Köter – dees kontrakte Viech kommt heut natürli[323] mit em. Angle tut der Podex – Freimarke sammle – abends geht's zur Kneip. Om Neun sitzt 'r da beim Schöpple – so pünktlich zur Sekunde ... Aber jetzt tun Sie mir verrate, warom er Podex heißt.« – »Dees kann i mir scho denke!« meinte Pepita listig lächelnd.

Mit stillem Schmunzeln griff ich ins Archiv meiner Erinnerungen: »Also! Beim Naso war's, in der Lateinstunde. Der neue Direktor des Gymnasiums hatte den ersten Tag seiner Amtierung dazu bestimmt, den Unterricht zu inspizieren und gelegentlich zu prüfen, was die Klasse leistet. So kam er auch zu uns. Der Naso komplimentiert vor'm neuen Direktor, und dieser meint: »Ich will nicht stören, Herr Kollega – bitte fahren Sie fort im Unterricht!« Und so hört der Direktor ein Weilchen zu. Dann aber verfällt er darauf, die Schüler zu examinieren. Vom Katheder, wo er Platz genommen hat, späht er über die Klasse hinweg nach der zweiten Bank, die fast hinten an der Wand war: ›Du da!‹ so greift er sich einen Schüler heraus, der sich nun pflichtschuldigst erhebt. ›Wie heißt der Fisch?‹ ›Piscis‹, lautet die Antwort. ›Welch Geschlecht hat piscis?‹ – ›Masculini generis!‹ – ›Gut, der näckschte! Sag du mir, wie heißt das Brot?‹ – ›Panis, männlich, das Brot!‹ – ›Gut! Weiter! Jetzt du da, der Hinterschte!‹ Der Direktor meint den Schüler, der hinten auf der letzten Bank sitzt, und das ist Gräter. Dieser versteht falsch, springt militärisch auf und antwortet schlagfertig: ›Podex, podicis, der Hinterschte!‹« – »Haha!« lachte der Stadtrat. Die Wirtin schien nicht zu begreifen, obwohl sie lächelte. Der Stadtrat wollte ihr die Sache erklären – aber sie winkte: »Pscht! I glaub, er kommt! Lasse mr net merke, daß mr von ihm gsproche hänt!«

Gespannt sah ich nach der Türe – es war zu hören, daß jemand kam. Aber nicht Gräter trat ein – dieser große,[324] massige Mann im Havelock hatte mit Podex nicht die geringste Ähnlichkeit. Was dem Gesicht einen würdevollen Ausdruck verlieh, waren die schwungvollen, buschigen Brauen, unter denen blaue Augen rollten. Für einen Schauspieler hätte man ihn halten können, wäre nicht die Hornbrille gewesen und der Knebelbart. »Gueten Abend, Herr Stadtpfarrer!« knickste Pepita. Hinter der riesigen Gestalt erschien noch eine zweite – aber das konnte Gräter ebenso wenig sein. Ein hageres, bewegliches Männchen. Sein zierlicher Kopf mit dem Spitzbärtchen und dem schwärmerischen Blick hatte etwas von Don Quixote, bloß daß hier nichts Einfältiges war, sondern sprühende Geistigkeit. Der schief sitzende Kneifer und die nachlässige Kleidung ließen auf zigeunerhaft unbekümmertes Wesen schließen, wie's bei Künstlern vorkommt. Im Vorbeigehn hatte er für mich eine freundliche Verneigung, für die Gaststube einen verzückten Blick. Die Wirtin nannte ihn »Herr Kapellmeischter« – und führte die Ankömmlinge in den Nebenraum, die Küche, wo sie ihr Gebratenes bereit hatte. »Wein her!« bestellte der Pfarrer. Dann rückten Stühle, klapperten Teller, und der Kapellmeister, ein zarter Tenor, trällerte:


»Der liebste Buhle, den ich han,

Der liegt beim Wirt im Keller,

Er hat ein hölzin Röcklin ahn

Und heißt der Muskateller ...«


»Jetzt aber kommt wirkli dr Herr Oberamtssegredähr Gräter – ond sei Rheumadiesle bringt er mit,« sagte Pepita. Ein Winseln wie von einem Hunde hatte sich draußen vernehmen lassen. Und abermals waren's zwei Männer, die eintraten. Ein gebückter Greis von schlaffen, verschwommenen Gesichtszügen – den zahnlos lächelnden Mund umstarrten weiße Bartstoppeln. »Grieß Goot, Herr Schulrat!« knickste Pepita.[325]

Der zweite Eintretende war offenbar Podex. Feiste Backen, darüber ein Paar Schweinsritzen, unter breitem Munde ein Doppelkinn. Etwas Rundliches war schon dem Schüler eigen gewesen.

Daß Herr und Hund Wahlverwandtschaft haben, bestätigte sich wieder einmal: Der Moppel, richtiger eine Kreuzung von Mops und Bulldogge, war dem Podex ähnlich. Ein mürrisch stumpfes Wesen hatte das Tier – nur daß es sich das Maul leckte zum Zeichen etlichen Behagens, als ihm Pepita den prallen Körper klatschte und dann einen leeren Sack in die Ecke breitete: »Da hoscht bei Bettle, gelt du, Rheumadiesle?« – Auf diese Unterlage, die er erst beschnüffelt hatte, streckte sich der Moppel, nachdem er, um die genehme Position zu finden, sich im Kreise gedreht hatte. Den Nilpferdkopf zwischen den Pfoten, richtete er die Augen auf seinen Herrn, der am Stammtisch Platz genommen hatte, und seufzte tief.

Ich erhob mich, stellte mich in aller Form vor – ein Benehmen, für das Podex nur Gemurmel hatte. »Sie werden sich meines Namens vielleicht nicht mehr erinnern, Herr Gräter,« fuhr ich fort und brachte vor, daß ich mit ihm dieselbe Klasse besucht habe. – »I hab nicks mähr übrik für die Pennälerzeit,« knurrte er.

Der Greis, den Pepita Schulrat genannt hatte, blinzelte beobachtend. Da ich schwieg, entstand eine Verlegenheitspause – nur daß Pepita seufzte: »s' ischt scho so!« – »Uh ju ju!« stöhnte der Stadtrat, und die Mumie bewitzelte das eingetretene Schweigen, indem sie lallend deklamierte: »Es bildet ein Talent sich in der Stille ...«

Der Hund winselte, als ob er Schmerzen habe – ihn suchte Gräter zu beschwichtigen, indem er bedauernd sagte: »Sei still, mei Rheumadiesle!« Erläuternd raunte der Stadtrat: »Dr[326] Neckrnebel ischt dem Viech in die Knoche gfahre, dieweil's seim Herrle beim Angeln fleißik assischtiert.«

Etwas verschnupft über Gräters abweisende Art, entgegnete ich: »Jeder nach seinem Geschmack, Herr Gräter! Aber Sie werden hoffentlich verstehn: wenn man nach vier Jahrzehnten einem ehemaligen Mitschüler begegnet, möchte man ein klein wenig von der alten Zeit sprechen und hören, ob der oder jener noch am Leben, und was aus ihm geworden ist. Von Ihnen, Herr Gräter ...«

Er unterbrach mich, indem er sich erhob und mit einer steifen Verbeugung grunzte: »Gestatten Se! Ober-Amts-Segredähr Gräter!« – »Ah so! Na ja! Bitte um Entschuldigung! Meine Gedanken stecken noch in der alten Zeit, ich vergesse, daß sich die Welt seitdem entwickelt hat. Mit Ihrer Entwicklung zu Amt und Würde werden Sie gewiß zufrieden sein. Manchem Klassengenossen ward solcher Erfolg nicht beschieden – obwohl ich auch Erfreuliches gehört habe. Drei sollen sogar Universitätsprofessoren geworden sein. Und drei haben, wie wir schon damals, in der sechsten Klasse, stolz erlebt haben, das Landexamen bestanden. Es sind gewiß auch große Tiere geworden. Einer saß ja neben mir auf der ersten Bank, der Lutz – ist was Tüchtiges aus ihm geworden?« – »P!« entgegnete Gräter geringschätzig – »e Narr ischt aus'm Lutz geworde – im Idiotehaus hat der geendet.«

»Ah! wie traurig! Und auf welche Weise hat er sich die Geisteskrankheit zugezogen? Sein Vater – ich erinnere mich dessen – war gesundes Bauernblut. Und der Sohn ist doch sicher so brav geblieben, wie er auf der Schule war.« – »Brav, das war er – war halt zu brav! Ueberstudiert hat sich der Lutz.« – »Der Aermste! Das war ihm allerdings zuzutrauen. Er war ja wohl einer von denen, die das Landexamen[327] bestanden?« – »Mit Note Eins! Ond die Eins ischt sei Verhängnis worde. In Maulbronn – nachher auf'm Stift – immer hat er die Eins habe wolle – net emal Eins bis Zwei hat ihm genügt. Schließlich, beim Hauptexamen ischt er zusammebroche von all der Büffelei – ond Streberei! Ja, e Streber ischt 'r gwä – hat durchaus Dekan werde wolle.« – »Ha ja!« nickte die Mumie, »freili, freili! Wenn er Dekan hat werde wolle, – bloß mit Note Eins wird mr Dekan oder Repetent.« – Der Stadtrat erläuterte: »Bei ons in Württeberg hangt dem Akademiker sei Schulzeugnis fürs ganze Leben ahn.«

»Ha! Ond wo liegt die Wurzel dieses Uebels?« krähte Gräter. »Der einfache Mann ischt ohngnügsam – will zu hoch hinaus. Jeder Dorfschulmeister meint, sei Sohn, der müss Karrjähr mache in Staat oder Kirch. Ond's Tübinger Stift tut solchen Größenwahn begünschtige. Kei Wunder, daß der Vatter seim Buebe tagtäglich predikt, aus Landexamen soll er denke und jedesmal die Eins durchsetze – soll beileib mit keiner geringern Note heimkommen ... So war's beim Lutz – den hat sei Vatter alleweil gespornt – sei Vatter hat ihn auf'm Gwissen.«

»'s ischt scho so!« seufzte Pepita, und ich meditierte: »Ehrgeiz – Aufstieg – Absturz!« Indem ich mir den kleinen Lutz vorstellte, wie ich mit dem zur Schule ging, wenn er von Pfrondorf herunter gekommen war, dachte ich an Enzio – und fragte lebhaft: »Ja, und nun Enzio Kuttler?« – »Wie komme Sie auf den?« stutzte Gräter. – »Im Hause seines Vaters wohnte ich mit meinen Eltern. So war er wenigstens ein paar Monate hindurch fast täglich mein Gefährte.« – »Stolz dürfe Sie darauf net sein!« – »Stolz? Das bin ich auch nicht – zumal ich heute morgen die traurige Geschichte gehört habe. Nein,[328] stolz bin ich durchaus nicht auf ihn – aber Mitgefühl hab ich mit ihm – und möchte ihn aufsuchen.«

Unter Tabakswolken schien Gräter die gewichtige Antwort vorzubereiten: »Ahngnomme, e nodorischer Lump ischt im Zuchthaus gwä, ond i sag dees laut, – na kann er mi deshalb verklage! Oder e Mörder wird vom Landjäger transportiert – ond i spuck dem Mörder ins Gsicht vor moralischer Entrüschtung – na kann mi dr Landjäger verhafte, gelt? Ond dees, dees nennt mr – Humanidäd!« Während wir Zuhörer in schweigendem Sinnen die Folgerung aus diesem Worte zu ziehen suchten, schloß Gräter seine Rede: »Drum – sag i nix über so Kerle wie den Kuttler.«

Betreten schwieg ich. Bah! Welch aufgeblasener und hartherziger Spießer war Gräter geworden! Nun verstand ich, weshalb er mir schon als Schüler gar nichts Erquickliches hatte.

Mein Interesse an Enzio veranlaßte mich noch zu der Frage: »Können Sie mir nicht wenigstens sagen, wo Enzio Kuttler wohnt? Er soll zurzeit in Tübingen sein – ich möchte ihn besuchen.« – Kalt abweisend blickte Gräter: »Nicks von dem Kerle! Dees Kapitel ghört eifach net an den ährsamen Stammtisch da!«

Verächtlich blickte der Stadtrat und hatte ein bitteres Lächeln. Pepita trat zu mir und raunte: »Wo dr Kuttler wohnt, dees kann i net gnau sage. Aber in der Haaggaß brauche Sie nur zu frage, in der Wirtschaft zum Maierhöfle. Hier heißt mr ihn den Hallelujah-Mister.«

Während ich mit Pepita über diese Angelegenheit flüsterte, war der Stadtrat ausfallend gegen Gräter geworden. Wegen des Spitznamens Podex hatte er gestichelt – und dann rund herausgesagt, ich habe soeben erzählt, wie der Spitzname aufgekommen sei. Giftig blickte Gräter und spuckte verächtlich unter[329] den Tisch. Pepita wollte beschwichtigen: »Ha, Herr Oberamtssegredähr! Net respektlos hänt mr von Ihne gesproche – noi! Im Gegeteil! Bisher han i mir die Sach schlimmer denkt.« – »Welche Sach?« fragte die Mumie, und der Stadtrat antwortete: »Die Gschicht, weshalb mr den Herrn Oberamtssekredähr Podex heißt! Also Pepita! Wie hänt Sie sich die Sach denkt? Tun Se uns dees verrate!«

Unter verlegenem Lächeln gestand Pepita: »I han mir denkt, den Herrn Oberamtssegredähr heiß' mr Podex, weil 'r – weil 'r halt so aussieht

Verblüfft starrte einer den andern an – die Mumie kicherte – der Stadtrat, krebsrot im Gesicht, bekam einen Erstickungsanfall, um plötzlich in brüllendes Gelächter auszubrechen.

Im selben Augenblicke ging ein klägliches Geheul los: Der Hund war aufgesprungen – nun taten ihm die rheumatischen Glieder weh: »Au au! huhuh!« In Wut versteinert war Gräter – dann schnellte er empor, als ob er losplatzen wolle – schien aber keine Worte zu finden. Weil der Hund fortfuhr zu jammern, trat Gräter zu ihm und redete mit einem Ausdruck, als ob er meine: Ja, mein Tierle, das ist eine rohe Gesellschaft! Wir zwei passen da net nein! »Sei still!« beschwichtigte er – »still, mei Rheumadiesle! Leg di aufs Bettle! Bischt mei Rheumadiesle, gelt?« – Der Hund antwortete mit leisem Gewinsel, wedelte ein wenig und kringelte sich seufzend auf seine Decke.

Von diesem Erfolge seiner Autorität gehoben, suchte Gräter nun auch am Stammtisch Eindruck zu machen und zischte verbissen: »Wissen Se, Herr Stadtrat, wie mr so Benehmen nennt? Rücksichtslos nennt mr dees! Ha ja! So zu brülle! Mei Rheumadiesle so zu verschrecke! Dees ischt Tierquälerei!«[330]

»Uff!« stöhnte der Stadtrat, und mit spitzigem Spott kicherte die Mumie: »Pihihi!« Von der Küche her, wo die zwei Freunde saßen, kam Gläserklang, – es summte der Tenor eine Burschenweise. All das reizte Gräter aufs neue, und seine Lippen bebten: »I verbitt mir so Roheite!«

Nun reckte sich der Stadtrat: »Ond i – verbitt mir – daß Sie ons hier tyrannisiere! Lasse Sie Ihr Rheumadiesle gfällikscht derhoim! Verlange Sie doch net, daß kneipende Männer zarte Rücksicht nemmen auf die Nerve Ihres drecketen Köters!« – Jetzt geriet Gräter wieder außer sich. »Waas? Dreckete?« – »Hier tut mer deutsch rede!« – Giftig rollte Gräter die Augen: »Aber net gogisch

Das war nun allerdings eine faustdicke Beleidigung. Die Gogen, wie man die Tübinger Weingärtner schimpft, sind wegen ihrer Rauhbeinigkeit berüchtigt. Kein Wunder, daß der Stadtrat mit der Hand auf den Tisch schlug: »Herr!« – Und abermals heulte der Hund: »Au, huhu!« – Diesmal sagte sein Herr nicht: »Leg di, mei Rheumadiesle!« sondern sprang auf – schlüpfte hastig in seinen Mantel und warf die Zeche auf den Tisch. Umsonst, daß Pepita ihn zu halten suchte. Er hatte nur ein barsches: »Komm daher, mei Rheumadiesle!« Grüßte summarisch die Gesellschaft und ging, gefolgt von seinem ächzenden Köter.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 316-331.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon