Musik der Dinge

[331] Abschluß dieser Szene war ein Stutzen am Stammtisch, ein Schweigen der Verlegenheit. Den Stadtrat schien es zu gereuen, durch seine foppende Derbheit den reizbaren Gesellen vertrieben zu haben. Wie ein Erwachender fragte er: »Han i ebbes gsagt?« – »Hihi!« nickte die Mumie. – »Macht nicks!« sagte die Wirtin. »Der Herr Oberamtssegredähr kommt wieder – morge abend sitzt er da am Stammtisch!«

In der Küche wurden jetzt die Stühle gerückt, und der Tenor sagte: »Prost, Frosch!« – »Prost Rest, Strolch!« gluckste der Baß – »ja ja, morgen ist auch ein Tag. Die Zeche, Frau Pepita!«

Ich beschloß ebenfalls zu gehen. Nachdem ich dem Stadtrat und dem Schulrat etwas Höfliches gesagt, verabschiedete ich mich. Der Wirtin schüttelte ich die Hand und versprach, nächstens mit ihr weiter zu plaudern. Die beiden Freunde kamen aus der Küche und gingen, von mir gefolgt.

Als wir auf die Gasse traten, überraschte uns ihr verändertes Aussehen. Der Regen war vorbei – nicht mehr in dumpfigen Nebel ragten die Giebel, sondern in hellen Mondschein. Durch die Lücke zwischen den Häuserzeilen lugte dunkelblauer Himmel mit Silberwölkchen. Der in die Gasse flutende Mondschein schied sich grell von den wunderlich gezackten Riesenschatten der Dächer und Schornsteine. Entzückt blieb der Tenor stehen und deutete auf das Bild: »Spitzweg!«[332]

Der Name dieses Malers, den auch ich liebe, bildete den Anlaß, daß ich mit den beiden Männern noch ein Stück Wegs gehen wollte. »Sie haben recht,« sagte ich, »an Spitzweg erinnert dies abenteuerliche Verwobensein von Licht und Schatten. Solche Spießernester schildert er gern – in ihrer ... wie soll ich's nennen? Romantik sagt nicht genug ... In ihrer Magie!«

»In ihrer heimlichen Musik,« meinte der Tenor. – »Recht so, Allmusikus!« brummte der Pfarrer. »Und da fällt mir auf, daß der Ausdruck »heimlich« einen Doppelsinn hat. Einerseits meint er etwas Verborgenes, das geheimnisvoll befremdet, andererseits etwas vertraut Heimisches – wir spüren darin unser Eigenstes – die Liebe.«

»Stimmt!« sagte ich. »Und dies hat auch mich alten Knaben nach Tübingen getrieben. Ein Traum von süßer Heimlichkeit hat mir auf einmal Heimweh erweckt nach dem, was mein einst war.« – »Ich dachte mir so etwas,« antwortete der Pfarrer. »Wir haben – ich will's gestehen – ein wenig zugehört, als Sie dem ehemaligen Schulkameraden das Herz zu öffnen suchten. Aber dieser Spießer hat sein Herz verschrumpfen und verfilzen lassen – im Stumpfsinn der Gewöhnlichkeit.« – »'s Rheumadiesle!« lachte der Tenor und ahmte nach: »Leg di, mei Rheumadiesle!« – »Haha!« schmunzelte der Pfarrer. »Rheumadiesle ist ein Sinnbild der Spießerseele; im Eugen, Dumpfen ist sie versauert, steif und griesgrämig geworden. Gleichwohl hängt der Spießer an ihr und hätschelt das vertrackte Vieh.«

»Und doch«, wandte ich ein, »hat Spitzweg mit Vorliebe das Spießertum dargestellt. Es kann also doch nicht ganz ohne Liebenswürdigkeit sein.« – »Dargestellt!« betonte der Pfarrer. »Spießer darstellen ist ja auch was anderes als Spießer sein. Wer künstlerisch schaut, steht über seinem Gegenstande.« – »Und doch auch wieder drin!« versetzte ich,[333] »Spitzweg hat sich eingefühlt in den Antiquar, in den Kakteenfreund und den Bücherwurm, in all solche Spießerseelen, die er in ihren dunklen Gassen und staubigen Winkeln beobachtet hat. Mit Liebe hat er sich hineingelebt.« – »Na ja,« brummte der Pfarrer, »für den Schauenden kann jeder Halunke, jeder Tropf reizvoll sein. Als Studie lasse ich den borniert anspruchsvollen Oberamtssekretär und den verschimmelten Schulrat gelten – aber sonst ...« – »Laß gut sein!« sagte der Kapellmeister, »auf die Musik der Dinge mußt du lauschen, nicht auf ihre störenden Geräusche. Alle Wesen machen heimliche Musik. Wie nach uralter Ansicht die wandelnden Sterne. Bloß daß die Leute gewöhnlich nichts davon spüren. Ihre seelischen Sinne halten sie eben verschlossen.« – Ich nickte: »Musik der Dinge! Wer sich darauf versteht, ist ein Adept.« – Bescheiden erfolgte die Antwort: »Lieber Gott! Ich bin noch weit entfernt, mich darauf zu verstehen. Nur daß mich die heimliche Musik würdigt, ihr Student zu sein.«

»Oh!« sagte ich bewundernd. »Sie haben die schönste aller Fakultäten erwählt, Herr Studiosus der Sphärenmusik.« – Und er, im Eifer der Begeisterung: »Ja, es ist wundervoll, der Allsymphonie nachzuspüren – anfangs summt es wie verhüllt, wird aber deutlicher, je mehr man sich hinein vertieft ... Kennen Sie das?« – »Ich glaube!« gab ich zur Antwort. Ich dachte daran, wie mich einst im märkischen Kiefernwalde ein Wacholderbaum zu einem Erlauschen von Allmusik erweckt hat. Davon sagte ich aber nichts – nähere Erörterung wollte ich vermeiden.

»Als Jakob Böhme im Sterben lag,« raunte der Allmusikus, »erklang ihm Musik – aus dem Innern – aus seinem reinen Herzen.« – »Weil er ins Pleroma tauchte!« fügte der Pfarrer hinzu – »Pleroma, der Schatz ewigen Lebens, umgibt uns beständig ... Die Geisterwelt ist nicht verschlossen, dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot! Auf, bade, Schüler, unverdrossen, die[334] irdische Brust im Morgenrot!« – »Eine Riesenorgel ist der Makrokosmos,« schwärmte der Allmusikus. »Drin klingen alle Töne, die es gibt, – alle Zusammenklänge, die erfindbar sind.« – »Nicht erfindbar!« meinte der Pfarrer, »sondern entdeckbar. Ein Beethoven hat seine Herrlichkeiten nicht ausgeklügelt, sondern entdeckt – wie Kolumbus die Neue Welt. Tonmeister befahren die Meere der Ewigkeit, und daselbst harren paradiesische Inseln des Entdeckers.«

»So ist es!« bekräftigte ich. »Und dieser Ozean enthält alles, was jemals war, und was sein wird. Es kann überhaupt nichts erfunden werden, was nicht zur Ewigkeit gehört. Die schöpferischen Geister schöpfen aus dem Ewigen, weil sie Anschluß ans Ewige haben. Uns alle umgibt das ewige Leben – aber für gewöhnlich verschließen sich ihm die Leute.«

Der Allmusikus blieb stehen, versunken in Schauen, in Lauschen. »Lazare!« raunte der Begeisterte – und man wußte nicht, meinte er die schlafende Stadt oder das Leben überhaupt – »Lazare! Stehe auf!« – Es war an einem Platz, wo eine düstere Kirche ihren stumpfen Turm in die Mondnacht erhob. Am veilchenfarbenen Himmel zogen zerrissene Wolken, silbern umrandet. Auf freien Flächen lag das Mondlicht wie frischgefallener Schnee – es blinkerte in den Regenlachen. Rings die Häuser waren eine schweigsame Versammlung von Sonderlingen – wie Zipfelmützen sahen die Dächer aus. Alle Häuser kehrten den Giebel nach der Straße, und ihre oberen Stockwerke waren vorgekragt – manche hatten dunkles Fachwerk, und oben unterm Dach eine Winde. Hinter geschlossenen Fensterläden schlummerten die Handwerker und Ackerbürger.

In einer dumpfigen Seitengasse stand ein Wagen mit Grünfutter – eine Stallkuh brummelte. Neben dem krüppeligen, hinfälligen Häuschen, das eine spitzbogige Haustür und einen[335] Treppenvorbau hatte, war allerlei Gerumpel, Stangen, Zuber, ein Karren. Dahinter Nebengebäude, im Dunkeln kaum zu unterscheiden. Durch das Schweigen der Nacht raunte das Geplätscher eines lebendigen Brunnens. Stumm reichte mir der Pfarrer die Hand – desgleichen der Allmusikus. Wir fühlten, daß wir einander nahe standen, obwohl ein gewisses Fremdsein uns äußerlich trennte. Der Allmusikus hatte ein letztes Wort, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen: »Wissen Sie, was auf dem Kasten einer alten Dorfkirchorgel geschrieben steht?


Wenn einst in der letzten Zeit

Alle Ding' wie Rauch vergehn,

Bleibet in der Ewigkeit

Noch die Musika bestehn –

Weil die Engel insgemein

Selbsten Musikanten sein.«


Einsam durch hallende Gassen schritt ich meiner Herberge zu. Ueber Häuser, die wirr den Berg hinan klettern, ragt in bläulichem Dämmer die alte Burg. Dort in Türmen und Kellern haben den Knaben Träume der Romantik durchschauert. Auch das war heimliche Musik.

Ueber die Gasse huscht ein schwarzes Tier – eine Katze –, nun hockt sie zwischen Gerümpel, grün funkeln die lauernden Augen. Im Kämmerlein eines fernen Giebels glimmt eine Lampe. Vielleicht haust da ein Mensch, wie Hainlin einer war. Der verstand sich auf eine Musik, die verstohlen aus dem Monde zittert, aus diesen Gärtchen und Hofwinkeln, aus den Seelen der Dinge. Hainlin hatte Heimweh nach Glastelfingen – das Pleroma der Allmusik in der Seelentiefe suchte er. Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Nicht der Ton macht die Musik, sondern das Herz, und Engel sind ohne weiteres Musikanten.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 331-336.
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