Der Zusammenbruch

[478] Hainlin hatte den Abend und die ganze Nacht im Eisenbahnwagen zugebracht und morgens Berlin erreicht. Nachdem er sein Gepäck der Aufbewahrungsstelle überliefert hatte, fuhr er mit der Pferdebahn zur Charlottenstraße. Uebermüdet freute er sich auf behagliches Ausruhn daheim.

Mit dem Schlüssel, den er bei sich hatte, öffnete er die Flurtür. Als er seinen Reisemantel an den Keiderpflock hängte, sah er da einen Herrenhut – es war ein breitkrämpiger Samthut. Doktor Starke? trug der nicht solch einen?

Indem Hainlin stutzte, trat aus der Küche das Stubenmädchen. Wie sie ihn sah, erstarrte sie offenen Mundes: »Ach – äh! Herr Hainlin kommen schon? Bitte, hierher! Treten Sie einstweilen – in die Küche! Einen Augenblick – ich, äh ...«

»Waas?« fragte Hainlin befremdet – und wollte, ihrem Drängen entsprechend, in die Küche gehn. Da fiel ihm auf, daß sie Miene machte, an ihm vorbeizuschlüpfen. Sie verhehlt etwas! schoß es ihm durch den Kopf. »Halt!« gebot er, das Mädchen am Arm ergreifend – »ischt hier wer?« – »Ach nein! Bloß die gnädige Frau hat ... äh ...«

»Waas hat sie?« Hastig trat er in den Salon – ging ins Studierzimmer. Niemand da! Also weiter! Er ahnte, es sei etwas vorgefallen![479]

Der schmale Flur führte zu Mariankas Schlafzimmer. Sie wird doch nicht krank sein? Sollte Doktor Starke? Sein Hut, sein Hut!

Die Schlafzimmertür, innen verriegelt, gab dem Drucke nach – und wie sie aufsprang, vernahm Hainlin Mariankas leisen Aufschrei.

Wie ein Blitz in der Nacht dem Wanderer enthüllt, daß er vor einen Abgrund geraten ist, so genügte der rasche Blick, um die Situation zu erfassen. Wie gelähmt stand Hainlin. Dann – trat er zurück und – drückte die Tür zu.

Wie er in seinem Studierzimmer stand, brach ein Stöhnen aus tiefer Brust – ineinander krallten sich die Hände. Dabei bemerkte Hainlin den Ring an seinem Finger – zog ihn ab und legte ihn auf den Schreibtisch. Einem Zettel vertraute er die Worte an: »Dies Glied unserer Kette nimm zurück! Und wenn's der andre haben will, mag er's nehmen! Leb wohl!« Aus der Küche lugte scheu das Stubenmädchen – er warf die Tür ins Schloß.


*


Straßengetümmel umgab ihn – Wagen rollten, die Leute hasteten zu ihrem Tagewerk, als wäre die Welt noch im alten Gleise. Aber für Hainlin war sie ein Haufen Scherben.

Zerschlagen fühlte er sich – sein Herz zuckte, der Kopf tat ihm weh. Ratlos sah er sich um: Was beginnen? Wohin? Nur fort von diesen Menschen, den treulosen! In irgendeinen Versteck!

»Hotel« las er auf einem Schilde – es war ein bescheidenes Haus. Hainlin ging hinein – zum Portier sprach er heiser: »Ein stilles Zimmer!«

Der Kellner kam – musterte den neuen Gast und legte das Fremdenbuch vor. Hainlin trug seinen Namen ein. Hier stand[480] gedruckt: »Kommt von – reist nach –« Bitter lächelnd schrieb er: »Von Berlin nach Glastelfingen«. Der Kellner, der ihm über die Schulter sah, mochte denken, Glastelfingen sei ein süddeutsches Städtchen.

Dann war Hainlin in einem Zimmer, dessen Bett vom Stubenmädchen mit frischer Wäsche bezogen wurde. Das dauerte ihm endlos. Als er dann allein war, warf er sich, nur halb entkleidet, aufs Bett. Es wimmelten die Gedanken durcheinander – er schloß die Augen, wollte nichts sehen. Aber innerlich sehen mußte er: Mariankas Schlafzimmer, ihr Bett ... Hören mußte er ihren leisen Aufschrei. Dazu hier das Straßengeräusch – Steinsetzer verrichteten Pflasterarbeit – unter ihren Handpicken wimmerte der Stein – das klang fast wie Mariankas Aufschrei.

Nun trällerte auf dem Flur das Stubenmädchen einen Gassenhauer: »Fischerin, du kleine, fahre nicht alleine auf die hohe See hinaus – in das wilde Sturmgebraus!« Es schrillte die elektrische Klingel – auf dem Flur lief man hin und her.

Trotz solcher Störungen mußte Hainlin genickt haben – verworrene Bilder waren ihm durch den Kopf gegangen. An Burdinski hatte er gedacht, an Grünheide, an Garten und Haus. An die Hochzeit, – wie Mariankas Bruder gewitzelt hatte: »Zwei glückliche Tage gibt's in der Ehe – den einen, wenn man seine Ehehälfte erworben hat – den andern, wenn man sie wieder los ist.«

Stöhnend richtete sich Hainlin auf. Nur der Gedanke an Burdinski und Frau Klein war etwas Mildes in seiner Seele. Sie bildeten ja eine Ausnahme unter den Menschen, die sonst so rohgierig sind, so schonungslos. Hainlin stand auf und machte sich fertig. Drückte den Knopf der Klingel und verlangte die Rechnung. Als er bezahlt hatte, tauchte er abermals ins Straßengewühl.[481]

Am Bahnhof Alexanderplatz ersah er aus dem Fahrplan, daß bis zum Zug, mit dem er nach Fangschleuse fahren wollte, noch zwanzig Minuten waren. Da kam ihm der Wunsch, erst Frau Klein aufzusuchen – zur Linienstraße war's ja nicht weit.

Als er in den Schusterkeller hinabgestiegen war, saß auf dem Schemel ein fremder Mensch, der eingestellte Geselle. Frau Klein trat gerade aus der Küche – ihr Anblick befremdete – denn sie trug ein schwarzes Kleid und einen beflorten Hut. »Sind Sie in Trauer, Frau Klein?« – »Mein Mann ist tot.« Sie preßte die Lippen zusammen: »Die Ausweisungen haben ihn mürbe gemacht.« Mit dem Taschentuch wischte sie die Augen – brach aber plötzlich in Empörung aus: »Und nu das mit Glaser!«

»Glaser? Was ist mit dem?« – Es sprühte aus ihrem Auge: »Verleumdet hat man ihn! Ein Spitzel sei er, sagt Patzke. Gemeine Lüge! Der Spitzel ist Patzke!« – »Spitzel?« sagte Hainlin dumpf. »Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede! Mag Glaser ein Ehrengericht von Genossen beantragen!«

Verächtlich winkte Frau Klein ab:

»Ach die Genossen! Die sind rasch fertig mit ihrem Urteil! Eben hab' ich das erlebt. Komme ja von Glaser. Bei dem war die ganze Stube voll Genossen – und alle schäumten vor Wut. Ueber Glaser, den Unschuldigen! Mich haben sie vor die Tür gesetzt, wie ich ihn verteidigt habe. Aber Sie, Herr Hainlin, Sie haben Ansehen bei den Leuten, durch Ihre Vorträge. Reden Sie den Aufgeregten vernünftig zu! Bitte, gehen Sie sofort zu Glaser! Schützen Sie ihn! Weichen Sie ihm nicht von der Seite. Ich kann mich jetzt nicht um ihn bekümmern. Muß Burdinski hier erwarten – hab' ihm nach Grünheide telegraphiert, er soll sofort kommen.«[482]

Hainlin tat einen Seufzer – aber nicht schwerer war ihm das Herz, eher leichter. Hatte er doch einen Gefährten im Unglück – und eine Aufgabe. »Ich gehe zu Glaser! Und wenn Burdinski kommt, treff' ich den bei Ihnen, gelt? Nicht in der Charlottenstraße – da wohn' ich nicht mehr.«


*


In der Buchdruckerei Ahlert & Glaser war es still, man schien die Arbeit eingestellt zu haben. Als Hainlin an Glasers Tür klopfte, hörte er eine zankende Männerstimme. Weil das Klopfen nicht beachtet wurde, trat Hainlin ohne weiteres ein.

Glaser saß am Tische, den Kopf in die Hand gestützt – bleich, verstört – blutrünstig, als habe man ihn geschlagen. Ein hohlwangiger Arbeiter schüttelte vor ihm die Fäuste, trampelte mit beiden Füßen und kreischte: »Häng dir uff, Mensch! Häng dir uff! Laß dir bloß nich mehr bei uns blicken! Vadufte, du Aas, stinkijet! fui, fui!«

»Justav!« stöhnte Glaser, »erst noch hier! Det Jeld mußte mitnehmen – die Abrechnung! Et stimmt uff'n Sechser! Un nu mein letztes Wort: Ick bin keen Lump!« So brüllte er verzerrten Gesichts, schluchzend barg er's in aufgestützten Armen.

Der andre starrte hin, schüttelte den Kopf und atmete schwer. Dann strich er das Geld ein, nahm den Abrechnungszettel und ging.

»Glaser!« sagte Hainlin, ihm die Schulter rüttelnd. »Ich bin's, Hainlin! Und ich – glaube an Sie! Gewiß, Sie sind unschuldig!«

Sofort richtete sich Glaser auf und sah Hainlin vollen Blickes an: »Ja! un – schuldig!«

»Erzählen Sie, Glaser! Weihen Sie mich ein! Die Sache muß sich ja aufklären! Ihre Genossen sollen wieder Zutrauen finden!«[483]

In Glasers Augen lohte es düster: »Zutrauen? Aus dem Zutrauen solcher Jenossen mach ick mir nischt! Mit die bin ick fertich! Wissen Se, wat die jetan haben? An – je – spuckt haben se mich! Verdroschen haben se mich! Jetreten wie 'nen räudijen Köter! Un det wolln Jenossen sind? Wilde Tiere sind's! Feindliche Brüder! Neidisch, mißtrauisch, vablendet, vahetzt, hintalistich un toll! Unkraut erstickt de janze Arbeeterbewejung! Dadraus wird nich das, was ihre Propheten vaheißen – ick habe meinen Ilauben valoren. Ick will nischt sehn, nischt hören von den janzen Schwarm! Nach Kamerun jeh ick!« Er war aufgesprungen – schlüpfte mit ängstlicher Hast in seinen Mantel, tat ein Ränzel um, das in Bereitschaft war, und griff nach Hut und Stock.

Hainlin folgte ihm auf die Straße. »Nach'n Alexanderplatz!« raunte Glaser – »ick will nach Hamburch fahren!«

»Hamburg?« Das Wort erinnerte Hainlin an Harburg, wo Marga wohnte – und Harburg war ja nahe bei Hamburg. So kam ihm der Einfall, mit Glaser zu fahren, dann nach Harburg. Besuchen wollte er Marga nicht – das hätte eine Aussprache gegeben, und die scheute er. Aber noch einmal gesehen hätte er sie gern, nebst ihren Kindern – er wollte sie belauern, nur von weitem sehn.

Glaser blieb stehen, wie unschlüssig. »Herr Hainlin! Da fällt mir ein: Ick muß zum Notar – det muß noch heute erledigt werden. Besser, wir fahren erst morjen nach Hamburch.«

Während man nach einem Notar suchte, äußerte Glaser den Wunsch, Hainlin möge ins Büro mit kommen. Vielleicht, daß ein Zeuge nötig sei – er wolle nämlich seinen Geschäftsanteil an der Buchdruckerei auf Frau Klein übertragen.[484]

Hainlin stutzte: »Frau Klein? Wie kommt die dazu, einen Anteil an so 'nem G'schäft zu kaufen? Oder – wie meinen Sie das?«

»Kaufen, nee! Jeschenkt soll sie ihn haben. Un wenn se Burdinskin heiratet, so kann ja der den Jeschäftsmann machen.«

»Aber Sie, Glaser? Können denn Sie eine solche Summe glatt verschenken?« – »Ah!« sagte er wegwerfend, »zuwider is mich der janze Kitt! Frau Klein, na ja, die kann ihn brauchen. Mir hat der Mammon dies höllenmäßije Schicksal heraufbeschworen. Den Patzke hat er neidisch jemacht – der war darauf erpicht, mir den Anteil abzukoofen. Wie er sah, det ick nich wollte, hat der Halunke den schwarzen Plan ausjebrütet, mich hier unmöjlich zu machen bei die Jenossen.«

Hainlin stand starr: »Ha! Na wär dr Patzke e Teufel!« – »Der verfluchte Mammon hat ihn dazu jemacht

»Tun Sie mir dees verzähle, Glaser!« – »Später, später!«

Es dauerte nicht lange, so war vom Notar die Uebereignungsurkunde ausgefertigt. Wie nun Glaser gehn wollte, nahm Hainlin das Wort: »Herr Notar, auch ich habe mich entschlossen, etwas von meinem Eigentum zu verschenken: Ein Grundstück, in Grünheide gelegen, an meinen Freund Burdinski.« Die Angaben über Personen und Grundbuchzeichen wurden gemacht – dann war auch dieser Akt erledigt.

Als Hainlin und Glaser wieder auf der Straße waren, blickten sie einander an – beide atmeten auf, von einer Last befreit – und jedes der beiden Gesichter war umgewandelt: Aus dem Gram lugte etwas Sanft-Stilles.

»Verstehn tu ich Sie, Glaser! Mir hat's Schicksal ähnlich mitgespielt wie Ihnen. Ich würd' Ihnen alles sagen, darf's[485] aber net – gewisse Menschen möcht i halt schone. Aber jetzt der Patzke, der verdient keine Schonung. Also wie war's mit dem? Tun Sie mir dees verzähle, gelt?«

Am Friedrichshain waren die beiden angelangt, fanden im Gebüsch eine leere Bank, und nun enthüllte Glaser die ränkevolle Geschichte: Patzke war der Schuft, der Glasers Ehre zugrundegerichtet hatte. War's auch, der Frau Klein und die anderen Expedienten des verbotenen Blattes der Polizei überliefert hatte. Und das war so gekommen:

Die Liste mit den Namen der heimlichen Expedienten hatte Glaser in seiner Zither versteckt. Frau Ahlert, die es lächelnd beobachtet hatte, war so unbedacht gewesen, es auszuplaudern, Patzke gegenüber, der sie beständig umschmeichelte. Dabei hatte sie sich nichts Arges gedacht – hatte sich bloß ein wenig lustig machen wollen über Glasers Geheimniskrämerei, wie sie es nannte. Patzke aber hatte nichts andres im Sinn, als die ahnungslose Frau über Glaser auszuholen, um diesen in der sozialdemokratischen Bewegung unmöglich zu machen. Dann gedachte er ihm seinen Geschäftsanteil billig abzukaufen und, als Ahlerts Kompagnon, die Druckerei zu einer Goldgrube zu machen.

Auch noch aus einem andern Grunde wollte er Glaser ruinieren: Er hatte das Gefühl, Glaser beargwöhne ihn. Und dem war auch so; seit der Verhaftung im Volkskaffeehause hegte Glaser den Verdacht, Patzke sei der Angeber. Patzke wollte nun nach dem Grundsatze verfahren: Zuvorkommender Hieb ist die beste Abwehr. Er verdächtigte also Glaser bei den Genossen, er habe aus alter Schwärmerei für Frau Klein seinen Nebenbuhler Burdinski beseitigen, ihn daher mit der Expedition des »Sozialdemokraten« in die Polizeifalle locken wollen. Daß nicht Burdinski, sondern Frau Klein die Schriften zum[486] Volkskaffeehause gebracht habe, sei eine bloß zufällige Abweichung von Glasers Plan gewesen.

Als es Patzke gelungen war, Glaser bei den Genossen derart anzuschwärzen, fuhr er sein schweres Geschütz auf. In einer geheimen Versammlung sagte er: »Jetzt wolln wr mal dem Ilaser ne feine Falle stellen. Seht diesen Brief, Jenossen! Hier ha' ick ufjeschrieben, wat ick Ilasern nächstens vorschwatzen werde: ne erfundene Jeschichte von ne jeheime Vabindung. Is nu Ilaser Spitzel, so wird er der Pollezei berichten, wat er von mir jehört hat, un die dämliche Pollezei wird druff rinfallen un den Vasuch machen, det Umstürzlernest auszuheben. Na, un denn wissen wir Bescheid! Vastanden, Jenossen? Is det nich sauber injefädelt?«

Ein Bedenken gegen diesen Plan wurde laut: Selbst wenn die Polizei auf die erfundene Geschichte reinfiele, wäre noch nicht mit aller Bestimmtheit erwiesen, daß Glaser der Spitzel ist; es könnte ja eine dritte Person, die von der Geschichte gehört hat, den Bericht an die Polizei geliefert haben.

»Dritte Person?« entgegnete Patzke – »unmöchlich! Es kann ebent keene dritte Person in Betracht kommen. Unter vier Augen will ick Ilasern die Jeschichte beibringen – un will hinzufüjen: Ilaser! Det du keenen Dritten wat merken läßt! Deine Ehre steht uff'm Spiel – Also, Jenossen: Wenn er nach solcher Verwarnung doch pfeift, na denn is er eben nich vertrauenswürdich! Also abjemacht, Jenossen! Un hier überjeb' ick euch den Brief vasiejelt! Nu wolln wr sehn, wat kommt

Ein paar Tage später berief Patzke dieselben Genossen und führte sie nach der Ackerstraße zum Restaurant von Ludwig. Ein Paket, das Patzke trug, wurde einem Packträger übergeben, den man am Stettiner Bahnhof aufgegriffen hatte. Er sollte[487] es in jenes Restaurant zum Wirt bringen. Das Weitere werde sich finden.

Als nun der Packträger, den man vorangeschickt hatte, seinen Auftrag ausgerichtet hatte, ging Patzke mit den Genossen ins Restaurant und fragte den Wirt, ob für ihn etwas abgegeben sei. – »Ja woll, dies Paket!« antwortete der Wirt, Patzke erhielt es und saß mit den Genossen am Tisch, um es zu öffnen. Plötzlich tauchten Polizisten auf und verhafteten die Gesellschaft. Als sich gleich darauf herausstellte, daß im Pakete nichts Verbotenes war, nur ein Paar zerrissene Filzpantinen, zog die Polizei verlegen ab.

»Haha!« scholl Patzkes Hohngelächter. »Un jetzt, Jenossen, meinen Brief raus! Erst revidiert det Siejel! Et is unvasehrt! Also uffjemacht! Un nu lees eener vor, wat da steht

Im Brief stand: »Ich habe Glasern unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit anvertraut: am 5. August, nachmittags sechs Uhr, wird bei Ludwig in der Ackerstraße ein Paket mit Liederbüchern abgegeben und an die hinbestellten Expedienten verteilt. Aber keine dritte Person darf davon Wind bekommen. Das habe ich aber Glasern bloß gesagt, um ihn auf die Probe zu stellen.«

»Seht ihr, Jenossen?« triumphierte Patzke. »Ick habe Ilasern durchschaut – un uff meine List is er rinjefallen! Klar wie Kloßbrühe is nu: Een Spitzel is Ilaser! Hat an die Polezei varaten, wat ick ihm anvertraut habe – un de Pollezei natürlich hat jejlaubt, eenen fetten Fang zu tun. Also, Jenossen – den Ilaser missen wr schleunigst unschädlich machen. Sofort alle Mann zu ihm!«

»Jawoll, zu Ilasern!« hatte die aufjehetzte Rotte geschnaubt – und so war Glaser der Tücke zum Opfer gefallen.[488]

»Ond jetzt, Glaser, mach i den Vorschlag: Ganget mr zunäkscht in e stills Lokal und stärke mr uns! Auch ich bin erschöpft – hab die Nacht keinen Schlaf ghätt und hab heut noch nicks gegessen. Hernach tun mr uns Schlafgelegenheit suche – ond morgen reisen wir.«

Die Unglücksgefährten begaben sich in eine Destille. Hainlin trank Weißbier und aß etwas. Glaser hatte nur für Schnaps Neigung. »Wir müssen uns doch nu trennen, Herr Hainlin,« sagte Glaser, »denn wo ick übernachte, da passen Sie nich hin

»Wenn daas Ihr einziks Bedenken ischt, Glaser, so sag ich Ihne: In ein Hotel gang i net! Davon han i heut genug! Ins ärmlichste Quartier gang i gern mit Ihne.«

In schweigender Prüfung sah ihn Glaser an: »Aber wissen Sie, wo ick heute nächtigen will? Im Asyl für Obdachlose! Dahin zieht es mich – die janz Valassenen sind meine wahren Jenossen – bei die kann ick mir beruhijen un bin heimisch bloß bei die

»Sie hänt recht! I versteh! Ond komm gern mit ins Asyl, falls i net störe tu – ond falls mr Leut in so guter Kleidung net abweise tut.«

Wirklich empfand es Hainlin als Erlösung, nicht wieder in ein Hotel gehen zu brauchen. Das Getriebe daselbst kam ihm abstoßend vor. War's doch ein Mechanismus, der in allen Teilen von Selbstsucht getrieben wird, und dessen gefällige Art so viel Gemachtes, Erlogenes hat. Hinter der Schmiegsamkeit des Personals lauert die Sucht nach Trinkgeld. Der Gast ist Gegenstand der Ausbeutung.

Die ganze Volkswirtschaft, die Zivilisation sogar, ist, so kam es Hainlin vor, von Selbstsucht getrieben. Möglichst viel Geld,[489] Genuß und Glanz sollen die Geschäfte, sollen alle Berufe bringen.

Die Geselligkeit, die sogenannte Gemütlichkeit, dran man sich erwärmt, hat viel heuchlerisches Getue. Die gutbürgerliche Welt, Mariankas Kreis, ist eine Maskerade von glatten Larven.

Aber freilich – was Glaser jetzt erlebt hatte, bildete einen erschütternden Beweis, daß auch die Arbeiterklasse von Minderwertigkeit wimmelt.

In Hainlin war ein Aufschluchzen – durch seine Seele zitterte das Lied: »Ich bin ein Fremdling überall! Wo bist du, wo bist du, mein geliebtes Land? Gesucht, geahnt und nie gekannt!«

Als der Abend dämmerte, begaben sich Glaser und Hainlin zur nahen Büschingstraße. Vor dem Asyl standen in zwei Reihen Männer, die Einlaß begehrten. Die Ankömmlinge schlossen sich an und harrten. Neben Hainlin war ein bartloser Bursche, bestaubt von der Landstraße. Da war ferner ein Graukopf mit Stoppelbart. Ein polnischer Landarbeiter in abgerissener Kleidung. Seine Schnapsflasche trank er aus, weil sie im Asyl nicht geduldet wurde.

Jetzt kam der Hausvater und schritt die Front der Obdachlosen ab, jeden musternd. Hin und wieder hatte er etwas zu fragen, schalt auch wohl: »Sie kommen schon wieder? Das ist gegen die Vorschrift. Diesmal noch will ich ein Auge zudrücken – weil wir heute Platz haben.«

Als der Hausvater zu Hainlin kam, stutzte er: »Na nu? Wat wollen Sie denn hier? Sie haben doch ne feine Kluft! Wat sind Sie? Künstler?« – Hainlin nickte, und selbstgefällig schmunzelte der Hausvater: »Unsereens hat 'n Blick dafür!«

Nach beendeter Musterung kommandierte der Hausvater: »Rrechts – om! Links schwenkt, marsch!« So zog die Kolonne[490] ins Asyl – der Sonnenbruder ahmte mit den Lippen das Trompetengeschmetter eines Militärmarsches nach.

Innen war abermalige Musterung, und es wurde gefragt, wer baden und wer seine Kluft in die Bienenbäckerei bringen wolle. Durch Glaser erfuhr Hainlin: gemeint sei ein Dörrapparat für verlauste Kleider – Bienen nennt man in der Vagabundensprache die Läuse.

In einer Halle an langen Tafeln saßen die Asylisten und löffelten Mehlsuppe aus Blechnäpfen. Es wurde noch etwas geplaudert, nicht laut, eher schüchtern. Dann ging's in die Schlafräume, in die »Falle«. Die eisernen Bettgestelle enthielten Strohsack, Kopfkissen und Decke.

Als Hainlin entkleidet unter seiner Decke lag, wandte er sich zum Nachbarbett, das Glaser innehatte, und nickte ihm zu: »Schlaf, Bruder! Vergiß die Welt!« Und während nun Schnarchen rasselte, schwammen die Seelen auf stiller Flut im Traumkahn hinüber zu wundersamen Ufern. Was Hainlin ins Hotelbuch geschrieben hatte, er reise nach Glastelfingen, das gelang ihm für diese Nacht.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 478-491.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon