|
[491] Am Morgen holte Hainlin seinen Koffer vom Anhalter Bahnhof und fuhr mit der Pferdebahn zum Lehrter Bahnhof, wo ihn Glaser erwartete. Vierter Klasse kamen sie nach Hamburg – Glaser nahm Abschied, Hainlin fuhr weiter nach Harburg.
Die Fabrik von Osterkamp war bald gefunden, und beim Pförtner erkundigte sich Hainlin, wo Herr Osterkamp wohne. »Wollen Sie ihn sprechen? Er ist in der Fabrik.« – »Danke, nein! hier mag i net störe – möcht bloß der Frau Osterkamp meine Aufwartung machen.« – »Die gnädige Frau ist aber verreist.« – »Verreist? Oh, wie schad! Ond wohin denn verreist?« – »In die Heide – nach Achterkrog.«
Achterkrog war ein Oertchen an der See. Teils mit der Bahn, teils wandernd gelangte Hainlin hin. Im Wirtshause erkundigte er sich bei der Wirtin vorsichtig nach Frau Osterkamp und erfuhr, die wohne im Forsthause, zwei Stunden von hier. Es sei leicht zu finden – man brauche bloß in die Heide zu gehen und auf den nächsten Hügel los – dahinter sei der Wald, und an dessen Rande liege das Forsthaus.
Hainlin beschloß, im Achterkrog zu übernachten, um zunächst einmal die See zu beschauen, die hinter der Düne brüllte. Am Morgen wollte er das Forsthaus aufsuchen.
Zum letzten Häuschen des Fleckens gelangt, bemerkte er, wie im Winde, der von der Heide schnob, ein Schmetterling geflattert[492] kam – ähnlich einem welken Blatt, das dahintreibt. Und ins Gärtchen der Strandhütte taumelte der matte Sommervogel – zu einer Malve, die dort weiß blühte. Es war ein Trauermantel – und wehmütigen Reiz hatte das Bildchen: auf dem Blütenschnee spreizte der Verirrte die dunklen Flügel, sich ein wenig an der Sonne zu wärmen. Es war sein letztes Glück; gleich darauf riß ihn ein Windstoß seewärts – auf die Wasserwüste war das haltlose Seelchen geschleudert, und Wogenmäuler schnappten nach ihm.
Ein Trauermantel im Nebelsturm
Ueber Stoppel und Heidekraut.
Zur Düne trieb der Falter,
Wo drohend das Weltmeer blaut.
Bei der Gartenmauer am letzten Strand,
Von Brandung schon umsprüht,
Da wankt die weiße Malve,
Ein Spätling, fast verblüht.
Der hingetaumelte Falter hängt
Dunkel am Blütenschnee,
Zu rasten ein süßes Weilchen –
Dann reißt ihn der Sturm zur See.
O haltlos flatternde Zärtlichkeit,
Wie welkes Laub verweht!
Im Wogenmaul nicht anders,
Als ob ein Schaum zergeht.
Morgens, in klarer Sonne, schritt Hainlin durch die Heide. Sie war ein lila Blütenmeer, aus dem zuweilen eine Gruppe dunkelgrüner Wacholdersäulen ragte. Das sandige Land bildete Wellen, draus hob sich der Hügel, den die Wirtin bezeichnet hatte – auf seiner Höhe ragten Steine.
Um den Hügel führte eine Wagenspur – und da lag das Forsthaus am Walde, der sich über moorigen Boden erstreckte. Nach rechts ging die Heide weiter – ins Grenzenlose, so konnte man denken – nur daß in violetter Ferne ein anderer Hügel mit einer Felsenkuppe ragte.
Vom Hügel, an dessen Fuß er sich befand, scholl eine Kinderstimme. Vorsichtig näherte sich Hainlin dem Gipfel. Ein Knabe und ein Mädchen streiften durch das Heidekraut, als ob sie etwas sammelten. Auf des Hügels Kuppe saß bei einem kleinen Mädchen eine junge Frau in städtischer Kleidung: Hainlin den Rücken gekehrt, las sie in einem Buche.
Sie ist es! sprach Hainlins pochendes Herz, und es war fast Schreck, was ihn lähmte. Dann faßte er sich und nutzte den Augenblick, um Marga zu betrachten. Da sie ins Lesen vertieft war und ihr Kind das Gesichtchen abgewandt hatte, konnte Hainlin unbemerkt näherkommen – und blickte Marga von der Seite an. Sie sah frisch aus, rosig – von der Schläfe wehte ein goldiges Löckchen – die Gestalt war frauenhaft.
»Mammi! Da is wer!« sagte das kleine Mädchen, und schleunigst wandte sich Hainlin ab. Er bückte sich nach Heidekraut und schlenderte wie planlos den Hügel hinab.
Ob sie mich beachtet hat? Ob meine Gestalt ihr Erinnerungen weckt? dachte er – und schwankte, ob dies zu wünschen sei oder nicht.
Einmal fühlte er den Drang, auf den Hügel zu stürmen und sie in seine Arme zu reißen. Dann griff er seufzend an seine[494] Stirn. An Marianka hatte er plötzlich denken müssen – an den Gram, den sie über ihn heraufbeschworen hatte. Sollte nun er, dem das Herz davon noch blutete, störend eingreifen in den ruhigen Zustand einer Ehe? Margas Ehe zerrütten?
Entschlossen entfernte er sich von Marga – schritt nun fest und flott durch die Heide. Nicht zum Forsthaus; sondern dem blauenden Felsenhügel entgegen.
Daselbst angelangt, ging er zum Gipfel, setzte sich auf den Steinblock und schaute zurück zu Margas Hügel. Ob sie noch da war, ließ sich nicht erkennen. Versonnen nahm er aus dem Ränzel seine Flöte, und es zitterten Seufzer der Sehnsucht über die lila wogende Weite. Sonst war es still – nur Bienen summten leise, ein Wacholder raschelte im Winde, schleppenden Fluges krächzten Krähen.
Unweit war ein Dörfchen, und hier fand Hainlin Unterkunft. Es war bei einer Schulmeisterwitwe, die ihr ererbtes Häuschen hatte und von den Bienen Honig erntete. In einem Märleslande fühlte sich Hainlin – er mochte sich nicht trennen von dieser Heide, wo man Herr blieb in seinen Träumen. Oft stieg er auf den Heidehügel, schaute nach Margas Hügel und blies Flöte.
Der Herbst war gekommen, Nebelwind schnob über die verblühte Heide – mit schnarrendem Sehnsuchtslaut zogen Wildgänse im Keilgeschwader südenwärts. Ein paar Schwäne kamen auch geflogen – ermüdet schienen sie einem Genossengeschwader nachzurudern. –
Nach Marga erkundigte sich Hainlin niemals – keine Nachricht aus dem Reiche trüber Wirklichkeit sollte sein Innenleben mehr stören. Hier suchte er Neuland, suchte die Friedensinsel in wüster See. Und die Insel tauchte auf, er spürte, daß er sie erreichen werde.
[495]
Zwei Heidehügel ragen –
Die Oede trennt sie weit.
Es sind versteinte Klagen
Der Einsamkeit.
Die Felsenkuppen spähen:
Rings Heide struppig braun.
Hinüber schweifen Krähen
Und Wolkenfraun.
Die Krähen haben Flügel
Zum lila Heidesaum –
Die beiden Felsenhügel
Verwebt nur Traum.
Sie dürfen kaum sich grüßen
Als blauer Duft von fern –
Und schmiegten sich zu Füßen
Einander gern.
Die Wanderschwäne flogen
Im gelben Abendschein;
Ein letzter kam gezogen
Müd' hinterdrein ...
Herbstregen wob in Floren,
Da war der Blick geraubt,
Und in sich starr verloren
Das Hügelhaupt.
Im Finstern schnob von Norden
Der barsche Flockengreis –
Und morgens waren worden
Zwei Scheitel weiß.
[496]
Jedoch ein Sternenfriede
Hat nächtens sie geweiht –
Da lauschen sie dem Liebe
Der Ewigkeit:
»Getrost! wenn Stern bei Sterne
Wie Laub vom Wipfel fällt,
Wenn Nähe sich und Ferne
Umfangen hält, –
Getrost! wenn Berge tauchen
Ins lang geliebte Tal
Und sich erlöst zu Hauchen
Der Steine Qual:
So finden sich zwei Hügel,
Ein spätes Hochzeitspaar –
Und sind zwei weiße Flügel,
Die wölbt auf spiegelklarer Flut
Ein stiller Schwan.«
Buchempfehlung
»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.
530 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro