Der verlorene Sohn

[299] Das »Posthörnle« ist jenes Bebenhausener Wirtshaus, wo einst Ulis Geburtstag gefeiert werden sollte – was vereitelt wurde durch Lindas unwillkommene Erscheinung, sowie durch den abgeschlagenen Finger. Ins Posthörnle trat ich jetzt, und die Wirtin, eine freundliche Frau in Mitteljahren, wies mich ins Herrenstüble. Vor einem Ledersofa stand da der Eichentisch, in den Hunderte von Namen eingeschnitzt sind. »Also darf ich hier Platz nehmen?« – »Ha, warom net? Der Könik beährt ons erscht om fünf Uhr.« – »Der König von Württemberg? Ei, das ist ja interessant! Kommt er als Gast?« – »Grad wo Sie sitze, ischt sei Stammtisch – bisweile trinkt er da sei Bier – ond raucht sei Pfeifle.« – »Ja, es heißt, er sei ein schlichter, leutseliger Mann. Hier läßt sich auch gemütlich kneipen. Bitte, Frau Wirtin, ein Schöpple Wein – und womöglich etwas zum Vespern – Brotmarken hab ich. Was wär' denn zu haben?« – »Eierpfannkuchen mit Salat,« schlug die Wirtin vor und ging zur Küche.

Nun kam ihr Mann und brachte den Wein. »Sind Sie von Bebenhausen gebürtig?« fragte ich, und die Antwort lautete: »Von Luschtnau.« – »Ach Lustnau! Als Knabe wohnte ich in Lustnau – beim Josua Kuttler – haben Sie den gekannt?« – »Ha freile! Ond lebe tut er noch, dr Josua. Zäh ischt der Kerle! zählt bald Neunzik! Bloß im Oberstüble hapert's.« –[300] »So so! Dann haust er wohl bei seiner Tochter Linda? Die war ja immer sein Augapfel.« – Der Wirt machte eine abwehrende Handbewegung: »Uijeh! Die zwoi sind wie Katz ond Hund. Bei dr Frau Jedele, seiner Enkelin, wird er geduldet, dr alte Narr.« – »O weh, Jakobskindle! Früher warst du Herr! Na, und die Linda? Lebt sie noch? Müßte scho Mitte Sechzig sein. Und Enzio? Was ist aus dem geworden?«

»Kuttlers Enzio? Hänt Sie den kennt?« – »Aber natürlich – wir haben zusammen das Gymnasium besucht – er war mein Kamerad.« – Etwas spöttisch sah mich der Wirt an, zögernd kam die Antwort: »Was aus'm Enzio worde ischt? Ha! wisset Sie denn nicks dervon?« – »Wie sollte ich! Bin ja über vier Jahrzehnte fort gewesen – erst seit ein paar Tagen suche ich hier Spuren meiner Kindheit.« – »Waas aus'm Enzio worde ischt?« wiederholte der Wirt, als sei er um die Antwort verlegen – platzte dann aber hart heraus: »E verlorener Sohn – e Mörder!« – Ich fuhr zusammen: »Was? Mörder?« – »Es stimmt! Mörder! Zuchthäusler! Am End hat ihn onser Könik begnadikt – i han selber mit Majeschtät gsproche, graad in dem Stüble da!« – Ich schüttelte den Kopf: »Mörder? Um Gottes willen! Wie ist denn das gekommen? Und wen hat er gemordet?« – »Seinen Schwager!« – »Wie? Lindas Mann?« – »Ja, den Gassenmaier!« – »Gassenmaier? Der war sein Schwager? Louis Gassenmaier?« – »Hänt Sie den au kennt?« – »Durch Enzio hab' ich den Gassenmaier kennen gelernt – er war Gesell in der Neckarmühle. Wir drei haben einen Ausflug zur Nehrener Eiche gemacht. Und dieser Gassenmaier hat also die Linda geheiratet? Und ist von Enzio – ist es wirklich wahr? Sonderbares Schicksal! Von Linda hat Gassenmaier schon damals geschwärmt. Ich hätte aber nicht geglaubt, das hübsche, wohlhabende[301] Mädchen, das immer so hoch hinaus wollte, werde einen Müllergesellen nehmen, so einen garstigen Kerl wie den Gassenmaier.« – »Ha – dazumal hat die Linda net mähr hoch naus könne. Was d Leut über sie geschwätzet hänt, ischt nicks Guts gwä. Uebrigens hat sie scho wie e alt Jungfer ausgschaut ...«

Hier wurde der Bericht unterbrochen durch Gelächter einer Frauenstimme, von der Küche her. Es war die Wirtin: »Ui! Jungfer? Dees kann net stimme. Ischt sie doch in andere Omständ gwä!« – Auflachend kratzte sich der Wirt hinterm Ohr: »Freile! Ihr Kindle ischt scho onterwegs gwä, ond so ischt dr Gassenmaier graad recht komme – sie zur Frau z' mache.« – »Ich verstehe, als Lückenbüßer hat sie ihn genommen. Und weiter! Sie sagen, den Gassenmaier habe Enzio umgebracht?« – »Vergiftet!« rief die Wirtin von der Küche her. – »Ich bitte Sie, Herr Wirt – ich bin aufs äußerste gespannt. Wie kam das alles? Erzählen Sie doch!«

Er nahm auf einem Stuhle Platz, zündete ruhig sein Pfeifle an und sann beim Paffen: »E omständliche Gschicht. Also – dr Enzio ischt in Amerika gwä ... Ond heimkomme als rechter Lump. Na hat dr Vatter den verlorenen Sohn aus'm Haus gschmisse – sein Sohn sei er net mähr.« – »Ach ja, wild aufbrausend und hart war der Alte.« – »Die Linda ischt's gwä, wo ihn so weit bracht hat. Dr Enzio natürli hat e Jähzorn kriagt – sei Rachsucht hat en higrisse, daß'r die Schweschter hat wölle beiseitschaffe.« – »Mit giftige Pilz!« rief die Wirtin – »ja, ond dr Gassemaier hat's Pilzgricht gesse – zufällik bloß der – na ischt 'r hi worde.« – »Sie meinen also, aus Rachsucht habe Enzio ...?« – »Aus Rach- ond Habsucht! Hat sich die Erbschaft sichre wolle.«

Die Wirtin trug mir auf; mechanisch begann ich zu speisen. Die Erzählung, an der Wirt und Wirtin sich beteiligten, nahm mein[302] Aufmerken in Anspruch. Schwer fiel es mir, zu glauben, Enzio sei ein schleichender Meuchelmörder. Gewalttätigkeit, die war ihm zuzutrauen, nicht berechnende Heimtücke. Anderseits fiel in die Wagschale, daß ihn der harte Vater und die eigensüchtige Linda grausam gefoltert hatten; so schien es möglich, daß er sich zu einer Verzweiflungstat hatte hinreißen lassen.


*


Ueber den Zusammenhang der Dinge erfuhr ich etliches durch die Wirtsleute: Enzios Traum, er werde »Staatskarrjähr« studieren und als farbentragender Bursch umherstolzieren, war wie eine Seifenblase geplatzt, weil Linda ihren Vater bestimmt hatte, auf diesen üppigen Lebensplan nicht einzugehen, sondern den Sohn einfach Handelslehrling werden zu lassen. Nachdem Enzio in Stuttgart gelernt und ein paar Jahre in Stellung gearbeitet hatte, kaufte ihm der Vater ein Tuchgeschäft in Tübingen. Da er es ungeschickt betrieb und die Zeit mit studentischen Kneipereien verbummelte, machte er Bankrott und ging nach Amerika. Drüben in der strengen Schule lernt manch einer das Arbeiten – Enzio aber kam arbeitsscheu und trunksüchtig zurück. Der aufgebrachte Vater machte Versuche, ihm auf die Beine zu helfen; doch seine Darlehen wurden von Enzio vertan. Da wies ihn der alte Kuttler endgültig aus dem Hause – wohl in ähnlich schroffem Ton wie damals, als er den Knaben in den Straßenstaub geschleudert hatte.

Enzio war nun kaum etwas anderes als ein vagabundierender Strolch. Einen letzten Versuch machte er, ins Vaterhaus aufgenommen zu werden. Aber Linda stachelte den Vater auf, daß er, immer noch ein starker Mann, den Sohn mit der Faust hinaustrieb. Da war Enzio entschlossen, seinem verfehlten Leben ein Ende zu machen. An der Südhalde des Oesterbergs rief eines Weingärtners Knabe: »Vatter, in den Neckr ischt euner[303] gsprunge – grad luegt sei Kopf aus'm Wasser!« Der Weingärtner, der ein tüchtiger Schwimmer war, holte den fast Ertrunkenen heraus, erkannte den jungen Kuttler und brachte ihn zum Vaterhaus – nicht ohne zuvor eine Prügelei mit dem Widerspenstigen bestanden zu haben. Aber auch jetzt ließ sich der alte Kuttler nicht im mindesten rühren. »Gang wieder zom Neckr!« rief er – und diese Grausamkeit empörte den Weingärtner, daß er den verlorenen Sohn in eine Kneipe mitnahm.

Hier wurde neuer Lebensmut getrunken, wenn's auch kein guter Mut war, sondern gärende Leidenschaft, brennende Rachsucht. Ohne noch zu wissen, wie er sich rächen solle, lauerte Enzio im Wald am Dentzenberg, ob Linda nicht zum Haseläckerle gehe oder zum Obstgarten auf die Höhe. Richtig, da kam sie mit dem Korbe, und nachschleichend bemerkte Enzio, sie wolle Pilze sammeln, die sie durch Gassenmaier schätzen gelernt hatte. Auf dem »Sand«, einem Anger, wo die Soldaten zu exerzieren pflegten, gab es gute Pilze, aber auch eine sehr giftige Art. Ihren halbgefüllten Korb hatte Linda an den Waldrand gestellt und ging über den Sand, weitere Pilze in die Schürze zu sammeln. Währenddessen soll es Enzio gelungen sein, den gefährlichen Pilz in den Korb zu schmuggeln. Abends schmorte Linda das Pilzgericht – und davon aß ihr Mann, der Gassenmaier; es geschah hastig, weil er nur eine Viertelstunde verweilen konnte – dann hatte er eine Geschäftsreise anzutreten. Zufällig wurde Linda, ehe sie gegessen hatte, in den Stall gerufen, wo eine Kuh das Kalben bekam. Gassenmaier reiste ab, war andern Tages krank und starb.

Wie Linda des weiteren verhindert wurde, von den Pilzen zu essen, blieb ein dunkles Kapitel in diesem Bericht, gegen den ich überhaupt manches Bedenken vorbringen konnte, ohne daß Wirt und Wirtin imstande waren, alles glaublich zu machen.[304]

»Hat Enzio denn ein Geständnis abgelegt?« – »Zuerscht hat er gleugnet, zuletzt gschwiege. Ond wien er ischt aus'm Zuchthaus naus gwä, hat er gsagt wohl hab er e Schuld, aber Mörder sei er net.« – »Und was ist aus Enzio geworden, seit er begnadigt wurde?« – »Nach der Schweiz ischt er gange. Etliche Jahr vorm Krieg hat 'r sich wieder in Luschtnau sehe lasse – bei seim Vatter – daß der's seitdem besser hat.« – »Ein braver Zug von Enzio. Was war denn aber mit dem alten Kuttler? Inwiefern ging's ihm schlecht? Das sagten Sie doch eben. Weshalb hat ihm Enzio beistehen müssen?«

»Ha – weil Kind ond Kindeskind den Alten schlecht behandelt hänt! Dem Gassenmaier hat die Linda net lang nachtrauert, hat wieder gheiratet – diesmal ischt's e junger Kerl gwä, Straubisch heißt 'r. Dem alten Kuttler sind die zwoi um den Bart gange, bis 'r so dumm gwä ischt, ihne sei Eigentum abzutrete. Seitdem ghört's Haus mit dem Kramlade der Frau Linda Straubisch. Das andre Haus am Goldersbach – hat der Alte Lindas Tochter zuschreibe lasse, die den Jedele gheiratet hat. Aber sie hat sich müsse verpflichte, ihren Großvatter in Pfleg zu nemme.« – »Ah, ich merke! Diese Verpflichtung hält sie wohl schlecht?« – »So ischt 's!« antwortete die Wirtin, »die Jedeles tun dem Alten 's Lebe verleide – daß 'r seinen Sohn soll bitte, ihn anderswo onterzubringe.« – »Seinen Enzio? Kann er denn hoffen, von dem so viel zu erhalten?« – »Ja, dr Enzio hat seim Vatter verziehe, wie sich der von dr Linda losgemacht hat. Taschegeld gibt dr Enzio seim Vatter – aber der weiß es bloß zu verwende, um den Jedeles ond dr Linda Aerger zu mache. Anderswohin tut Enzio den Alten net bringe. Die Luschtnauer Verwandte solle sich gegeseitik e Straf sein. Uebrigens würd dem Alten ebbes fehle, wenn er seine Verwandte net plage könnt.«[305]

»Also Geld gibt Enzio her? Dann geht's ihm in dieser Hinsicht so ziemlich, wie?« – »Am Geld, heißt's, fehl's ihm net. In der Schweiz hab er e guets Gschäft – sei übrigens e ordentlicher Mensch worde. Jetzt, weil 'r für Jedeles' Buebe e Vermächtnis in Aussicht stellt, derfen die den Alten net zu schlecht behandle. Zank freile gibt's mit ihm Tag um Tag. Ond er selber, der Alte, hat schuld. Ischt halt e böser Ssimpel. Sei Freud hat 'r, wenn er schimpfe tut – ond wenn er droht, er werd's Häusle azünde.« – »Meint er's im Ernst?« – »I glaub net! Aber weiß mr denn, ob er net doch emol tut, waas er so oft gsagt hat? Net grad verarge sollt mr's den Jedeles, daß sie den Alten net ohn Aufsicht im Häusle lasse möge – ond daß 'r bisweile ausgsperrt vor dr Haustür sitzt.«

»Ausgesperrt? Da hat er allerdings einen trüben Lebensabend – und überhaupt, das Schicksal des Hauses Kuttler ... Kuriose Welt! Aber sagen Sie, ob ich den alten Kuttler sprechen kann?« – »Warom net? Sogar den Enzio – wenn's stimmt, daß er sich in Tübinge hab sehe lasse die letzte Täg.« – »Enzio? Es wär mir sehr interessant, ihm zu begegnen. Wo mag er wohnen? Wie könnt' ich das erfahren?« – Fragend blickte die Wirtin auf ihren Mann, der zuckte die Achsel: »Leicht wird's net sei. Einen amerikanischen Namen hat er ahngenommen ... Tobias – oder so – Mister – i woiß net.«

Nach diesem Gespräch verabschiedete ich mich von den Wirtsleuten und ging gen Lustnau. Nichts schien sich hier im Tal verändert zu haben – der Goldersbach murmelte, auf der Talwiese zirpten Grashüpfer, die fruchtbeladenen Zweige der Apfelbäume waren gestützt, auf den Höhen beiderseits säuselte Hochwald. Als ich an die Sophienpflege kam und die Reste des ehemaligen Klostervorwerks sah, die alte schiefe Mauer und den[306] Kapellenturm, dachte ich an Justinus Kerner und sein Rickele, wie sie hier den zarten Vorfrühling ihrer Liebe erlebt hatten.

Dies Paar und die Familie Kuttler – welch ein Gegensatz! Ich glaubte zu sehen, woraus die Verschiedenheit der Schicksale hervorwuchs. Es gibt nur eine Sünde: in Verengung sich abzutrennen vom ewigen Leben – und gibt nur eine Erlösung: dorthin heimzukehren, wie der verlorene Sohn zum Vaterhause. Um es zu finden, braucht man nur das eigene Herz zu öffnen, aus dem Schneckenhaus Ich herauszufinden, ins einige All.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 299-307.
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