Die Nordlandreise

[463] Mitte Juni, so war mit Starke ausgemacht, wollte man sich in Saßnitz treffen und mit dem Dampfer über Malmö fahren, zunächst nach Drontheim. Es ging auch alles plangemäß. In der Stadt am blauen Fjord, zwischen malerischen Höhenzügen, erfolgte ein kurzes Ausrasten – dann fuhr der Touristendampfer stracks gen Norden.

Nacht gab es nicht mehr. Um Mitternacht schwebte die Sonne überm Horizonte, glutig wie bei uns die Abendsonne. Da es fortwährend hell war und die Blicke nach der Küste, in die Buchten hinein, auf die Klippen und Bergriesen immer neu gefesselt wurden, kam die Reisegesellschaft nie zur Ruhe, fühlte sich müde oder nervös aufgepeitscht. Hainlin saß auf Deck und blätterte in einem Buche: »Hör', Marianka, was der Tegner sagt: Mitternachtssonne mit blutroter Pracht färbte die Bergeszinnen – es war nicht Tag, es war nicht Nacht, es schwebte mitten innen.«

»Ach ja!« gähnte Marianka – »die Sonne sieht aus wie ein Auge, das vom Wachen gerötet ist. Daß hier die Nacht fehlt, kommt mir wie eine Lücke in meinem Leben vor. Die Natur ist ja hier recht interessant – aber ich sehne mich nach unserm dustern Berliner Zimmer und dem weichen Bett. Kultur ist eben auch 'ne schöne Sache.«[464]

Ganz großartig wurde die Seelandschaft, als die Lofoten kamen. Eine Kette von Felseneilanden, dem Eismeer vorgelagert, erstrecken sie sich vom norwegischen Festlande in den Ozean – wie eines Riesenfisches Gerippe, das in die Wirbelknochen und Gräten zerfallen ist.

»Die Dolomiten!« jubelte Starke, als Felsenberge wie Zinken aus der See ragten. – »Die Dolomiten in den Ozean gestellt!«

Mit einem kleinen Postdampfer ging es nun von Insel zu Insel. Nach der Südspitze der Lofoten fuhr man im Segelboot, und Starke fühlte sich in seinem Element. Herausfordernd fragte er die Schiffer, ob sie mit ihm durch den Malström fahren wollten. Sie schwiegen, den Fremdling kalt musternd.

Starke wandte sich an Marianka: »Dieser gewaltige Strudel entsteht, indem die Flut durch eine Felsengasse in einen Kessel strömt. Früher ging die Sage, auf dem Meeresgrunde sei hier ein Loch, ein Schacht – und das hineinstürzende Wasser komme erst bei Indien heraus. Von Schiffen, die mit Mann und Maus der Strudel verschlungen habe, sei keine Planke wiedergesehen.«

Auf Mariankas dringende Bitte begnügte sich Starke, den Strudel bloß von der Küste aus zu betrachten. Hainlin und Marianka begleiteten ihn auf die ragende Klippe, wo Moose und karge Beerensträucher blühten. Die Aussicht zeigte, etwa eine halbe Meile entfernt, eine Brandung und ein paar kleine Felseninseln, dahinter offene See. Die Felsbrocken vorn waren von Vogelschwärmen bevölkert – Lummen hockten träge, es flatterten kreischende Möwen. »Nun haben wir uns wohl satt gesehen an dieser Wüstenei – mich verlangt nach einem Glase Grog!«

Beim Abstieg vom zackigen Felsen vertrat sich Marianka den Fuß und fühlte sich kaum fähig, zu gehen. Hainlin wollte aus Birkengesträuch einen tragbaren Sitz machen – Starke bat um[465] die Erlaubnis, die gnädige Frau einfach zu tragen. Als sie nicht widersprach, hatte der Hüne sie wie ein Kind auf seine Schulter gehoben und hielt ihre Hände in den seinen. So stieg er abwärts, fest und sicher – während Marianka gegen Schwindelgefühl anzukämpfen hatte.

Im kleinen Gasthaus zu Helle war Starke ärztlich um Marianka bemüht. Er massierte den Fuß und machte einen Verband. »In acht Tagen ist Frau Marianka wieder sicher auf dem Fuße. Die Schonzeit kann nicht langweilig sein, wenn wir sie an Bord verleben. Der Dampfer trägt uns ja fortwährend. Ihre zwei Kavaliere, gnädige Frau, werden ja auch wetteifern, Ihnen die Stunden zu versüßen – so wie ich jetzt diese zwei Stücken Zucker in Ihr Toddyglas tue.«

Das feurige Getränk sorgte für gute Stimmung, und bald scherzte man über das Abenteuer. »Dees muß i sage, Doktor,« meinte Hainlin – »e Kerle sind Sie! Mei Fraule ischt net leicht – ond solche Last hänt Sie den steilen Felsenpfad nunter getrage, als wär dees nicks

»Für Alpenkraxler, wie ich einer bin, ist das auch nicks,« entgegnete Starke. »Das heißt, gnädige Frau, den Ausdruck nicks' beziehe ich bloß auf meine Muskelarbeit – nicht etwa auf die holde Last.« – »Süßholzraspler!« – »Auf Ehre! Wie ein Gott kam ich mir vor.«

»Gut gesagt!« meinte Hainlin – »wie ein Olympier sahen Sie tatsächlich aus – so kühn und sicher. Wie Zeus, als er die schöne Europa trug. Das Bild hat allerdings eine komische Seite – wenn mr nämlich bedenkt, daß Zeus die Gestalt eines Stieres angenommen hatte. Ha, eines Stieres Kraft hänt Sie allerdings! Prosit!«

Nach einer längeren Rast in Digermülln, auf der ausgedehnten Felseninsel Hinnö, fühlte sich Marianka fähig, eine[466] Partie ins Gebirge mitzumachen. Mit dem Segelboot ging es durch den düstern Raftsund, eine Wasserstraße zwischen gewaltigen Bergen. Auf der Westseite öffnet sich überraschend eine Gasse. Fast senkrecht ragen rechts und links die Felsenwände – in den Schluchten, die von oben nach unten gerissen sind, liegt Schnee. Wo die Sonne wärmen kann, sind leuchtend grüne Teppiche von Moos, Rosen und Beerengesträuch. An schattigen Stellen hängen Gletscher in die See. Schwarz sieht die Flut im Felsenkessel aus.

In diesem sogenannten Trold-Fjord landete das Boot, und nachdem in einer Nische der Felsenwand Feuer gemacht und die Gesellschaft mit Kaffee erfrischt war, ging es längs eines Gießbaches auf rauhem, sumpfigem Pfade steil in die Berge.

Nach einer Stunde war das Ziel erreicht: ein Bergsee zwischen Felsen, die fast senkrecht an die tausend Fuß emporragen. Gletscher gleiten auf den See, den folglich auch im Sommer Eis bedeckt.

»Hier ist das unheimliche Reich der Berggespenster, von denen die nordischen Jäger und Fischer fabeln,« sagte Starke. Und Hainlin, der zu den gleißenden Gletschern emporstarrte, fügte träumerisch hinzu: »Blank sind wir ganz und gar – aber auch ewig unfruchtbar.« – »Ist das nicht aus dem Faust?« fragte Starke. – »Ja, aus der Walpurgisnacht – schöne Hexen jammern so!«

Marianka, die auf einem Felsblock saß, hatte aufgehorcht: »Hexen? Unfruchtbar? Was will der Dichter sagen?«

Hainlin erwiderte: »Es kommt halt vor, daß e Weib, um nix von seiner blanken Schönheit einzubüßen, sich scheut vor der Mutterschaft und also unfruchtbar bleibt.«

Ueber Mariankas Gesicht huschte ein Schatten: »Und Hexen sollen das sein?«[467]

»Alles Unfruchtbare ist für Goethe sinnlos. So ist es zu erklären, daß sich in der Walpurgisnacht Naturen versammeln, deren Treiben unfruchtbar ist – das ist die Bedeutung jener Hexen, die Mephistos Gefolgschaft bilden. Er ist die chaotische Seite unseres Lebens – das Gemeine, Schlechte, Unsinnige.«

»Willst du sagen, daß ein unfruchtbares Weib gemein ist?« Schneidend klang ihre Stimme.

Ueberrascht blickte Hainlin. Wie eine unheimlich brütende Norne kauerte sie zwischen dem Urgestein und rollte die Augen finster zu den Gletschern. Hainlin suchte nach Worten, um sich gegen die Mißdeutung zu verwahren.

Aber schon hatte Marianka sich gefaßt. Sich erhebend, erklärte sie kühl: »Lassen wir die Wortgefechte!«

»Aber, Marianka! Mit keinem Wörtle han i ebbes gegen dich gesagt! Oder? Doktor, Sie sind Zeuge

»Oh ihr Männer!« sagte Marianka wegwerfend – »mich friert überhaupt.« Schon ging sie und hatte, da Hainlin zögerte, einen Vorsprung.

»Ach ja, die Weiberchen!« wandte sich Starke an Hainlin – »was die alles raushören, wenn unsereins mal was Ungewöhnliches sagt! Uebrigens, Hainlin – einem Frauenarzt gestatten Sie diese Bemerkung: vielleicht ist Marianka der Fruchtbarkeit näher als sie ahnt. Ihre Nervosität hat einen körperlichen Grund.« – »Unser Berliner Arzt,« meinte Hainlin – »den sie befragt hat, ob sie Aussicht habe auf Mutterschaft, hat daran gezweifelt und hat sie verstimmt durch sein Gutachten.« – »Ach was, Gutachten! Ich selber bin Frauenspezialist. Selbst organischen Mängeln läßt sich beikommen. Schon Massage, hm! Aber sagen Sie, Hainlin, denken Sie wirklich so streng, daß eine Ehe in Ihren Augen gleich entwertet ist, wenn sie unfruchtbar bleibt? Das wäre eine grelle Uebertreibung. Jedenfalls[468] sollte man den Begriff Fruchtbarkeit auch auf das Seelische ausdehnen, auf das Liebe und Tüchtige, das sich oft in kinderlosen Ehen findet. Auch mit geistigen Kindern kann man sich Unsterblichkeit verdienen.«

»Hallo!« rief Marianka aus der Ferne und winkte. – »Wir kommen!« antwortete Starke.

Noch einmal schaute Hainlin auf den mit Schollen bedeckten Bergsee – auf die Gletscher, die sich von den hohen Felswänden hernieder erstreckten. Eisige Fremde hauchte ihm Schauer ins Mark. Und sein Heimweh schluchzte auf – ein schmerzliches Sehnen nach dem freundlichen, fruchtbaren Sonnenländle.

Da fiel sein Blick auf den Ring, den er am Finger trug. Und es gleißte der Diamant wie die Gebirgsgletscher: »Blank sind wir ganz und gar – aber auch ewig unfruchtbar.«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 463-469.
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