Zwischen Heimat und Fremde

[455] Die Anzeige von seiner Hochzeit hatte Hainlin auch an Marga Deutges geschickt oder – wie sie jetzt hieß – Frau Marga Osterkamp, geborene Deutges, in Harburg. Jener Fabrikant, mit dem die Bonner Pensionatsschülerin verlobt gewesen war, hatte sie heimgeführt. In ihrem Glückwunschbrief hieß es: »Wissen Sie noch, Herr Hainlin, wie Sie von der Ferne sagten, sie habe was Heiliges? Es stimmt – und doch möcht' ich, wir wären nicht so weit voneinander getrennt. Ich muß oft seufzen. Nur in einer Hinsicht hab ich's glänzend: Holde, gesunde Kinderchen sind mir geschenkt – ein Knabe und zwei Mädchen. Wenn Sie mal an die Waterkant kommen, müssen Sie uns besuchen! Oh, dann wollen wir vom Kölner Karneval plaudern, wollen alles Liebe und Leidige von damals durchhecheln.«

Rosel hatte zur Hochzeit nebst einem treuen Briefe ein Album mit Photographien gesandt. Alles Schwäbische, wofür Hainlin schwärmte, war hier vertreten: Rosel selbst natürlich und ihre Mutter, Onkel Guhl, Frau Schneckle und Berta. Ferner Ansichten vom Tübinger Stift, von Hohen-Tübingen und der Neckarbrücke, von Bebenhausen, Einsiedel und der Wurmlinger Kapelle, sogar vom Schnützelputzhäusel.

Hainlin war tief bewegt von dieser Gabe und brütete über einer Landkarte der Alb. »Spazierst du wieder mal im Ländle?« sagte Marianka und blickte ihm schmeichelnd über die Schulter. »Wir müssen doch mal hin! Wenn wir die bisher versäumte[456] Hochzeitsreise an die Riviera nachholen, könnten wir ja den Abstecher machen in Jörgs Märlesreich.«

Rosels Bild hatte Marianka lange betrachtet, dann fragte sie kühl: »Und die liebst du? Warum eigentlich?« – Hainlin fühlte einen Stich in seinem Herzen – fremd kam ihm Marianka vor. Da er schwieg, fuhr sie fort: »Ihr habt euch seit eurer Kindheit lieb, na ja! Aber Kind bleibt man nicht – und sie ist jetzt schon Mitte der Dreißig – übrigens eines andern Frau – wohl richtiger Krankenpflegerin. Die Aermste! Ich kann mir denken, wie sie dich vermißt. Aber du, warum bist du so vernarrt in sie?« – Nur mit einem traurigen Blick antwortete Hainlin und einem Zucken seiner Lippen – dann ging er in sein Studierzimmer.

Die Wohnung in der Charlottenstraße war, was man elegant und komfortabel nennt, doch Hainlin wollte sich da nicht heimisch fühlen. Die Fenster waren mit Gardinen verhängt, daher nicht hell genug – überdies fast ohne Sonnenschein. Schwere Teppiche machten den Schritt lautlos, Decken mit Stickerei lagen auf den Möbelplatten. Die großen Gemälde an den Wänden waren anspruchsvoll gerahmt, hatten aber nichts Warmes. In der Glasschale zwischen blütenlosem Blattgewächs schwammen Goldfische, schluckten das langweilig klare Wasser und glotzten durch die Wand des Kerkers – alle paar Wochen lag einer mit dem Bauch an der Oberfläche, dann sagte das Stubenmädchen: »Inädche Frau müssen wieder 'n paar neue kaufen.«

Dieses Stubenmädchen war eine fade Person. »So Leut mag i net, wo bloß am Lohn hange ond ohne Herz schaffen. Mädle, wo oft alle paar Monat ihre Herrschaft wechsle, hänt kein Heim und können die Wohnung net heimisch machen.« – »Schatzi, du bist zu anspruchsvoll. Ich verlange vom Stubenmädchen die ausgemachte Arbeit, weiter geht sie mich nichts an. Heimisch sollen sie sich fühlen? Ach Kind! Glaube mir: man[457] verliert bei den Leuten an Respekt, wenn man sich mit ihnen gemein macht – sie werden dummdreist und tanzen einem schließlich auf der Nase herum. Mein kluger Vater sagte immer: Distanz muß man wahren für alles! Man darf die Leute nicht als gleichberechtigt behandeln. Dein Träumerherz möchte immer mit Charakteren rechnen, wie sie im Reiche Gottes sind. Aber da wohnen wir nicht, wir wohnen in einer Welt, wo's recht gemischt hergeht. An Burdinski und Frau Kleins Erfahrungen siehst du ja, was dabei herausspringt, wenn man aus Schwärmerei anrennt gegen unsere Staatsordnung, die doch wie eine Mauer gefügt ist. Glaube mir – ich bin kühle Rechnerin – niemals werden diese Sozialisten zur Weltherrschaft gelangen. Aus dem einfachen Grunde, weil bloß der Egoismus sich aufs Herrschen versteht, und weil die Menschen im Egoismus wurzeln – Begehren und Genießen bleibt immer heiß und wild.«

Schweigend starrte Hainlin vor sich hin. Marianka sprach weiter: »Sechs Monate also hat die arme Frau Klein bekommen? Und nun wird sie wohl noch ausgewiesen wie ihr Mann? Was meinst du?« – »Zur Ausweisung von Müttern hat sich dr Puttkamer noch net verstiege. Er scheut vor der öffentlichen Meinung, und die ischt halt gegen Ausweisung von Frauen, zumal wenn sie Kinder haben.«

»Es war ein guter Einfall von dir, Frau Klein mit ihren Kindern nach Grünheide einzuladen. Im Freien kann sie sich erholen. Aus dem Gefängnis in den dustern Schusterkeller überzusiedeln, das wäre kümmerliche Befreiung. Schade nur, daß Burdinski nicht auch nach Grünheide kann. Sollte sich nicht draußen für ihn eine Existenz finden? Er könnte ja was anderes betreiben als die Schusterei.«

»I han auch schon dran denkt. Aber dem steht ebbes im Weg. Frau Klein ischt halt ihres Mannes Frau. Daß er[458] ausgewiesen ist, betrachtet Burdinski als einen Grund, der erst recht zu Rücksicht verpflichtet.«

»Ach wirklich?« staunte Marianka. – »Ich hätte kaum gedacht, daß Proletarier so zart die Ehe respektieren – es heißt doch, die Sozialisten seien für Weibergemeinschaft.«

»Sogar für All gemeinschaft – hab ich gesagt – aber Allgemeinschaft ist Güte! Aus Güte hält Burdinski zu Frau Klein. Ja, wäre sie Witwe, er würd sie heiraten.«

»Das wäre fabelhaft gutmütig. Sie ist doch arm – und ist keine junge Frau mehr! Zwar noch ganz niedlich – aber sie hat zwei Kinder

»Ha!« lächelte Hainlin – »dees wär für Burdinski erst recht ein Grund zum Heiraten! Liebe Kinder sind's – Kinder sind überhaupt der Ehe Sonnenschein

»Meinst du? Wenn aber zu den zwei Kindern noch ein paar hinzu kommen?«

»Welchen Gärtner tät's net freue, wenn sei Gärtle reiche Frucht hat!«

»Mit dieser Gartenschwärmerei verwirrst du die Frage. Kinder sind nicht immer willkommene Frucht – Kinder fallen den Eltern schwer. Na ja, und wenn man schon das Opfer bringen möchte, um einen Stammhalter zu haben, so wär's doch töricht, darüber hinaus zugehn. Die Franzosen erweisen sich auch in dieser Frage als Kulturvolk – mit ihrem Zwei kindersystem.«

Mißbilligend wiegte Hainlin den Kopf: »Unna tur ischt dees!«

Sie zuckte die Achsel: »Unnatur ist so ziemlich die ganze Zivilisation – Unnatur ist dieser Teppich, dies Mobiliar, unsere Kleidung, unsere Lebensweise. Du, Schatzl, schwärmst für Natur – ich lasse dir deine Liebhaberei – bin aber nun mal für Kultur[459]

»Diese Franzosen, denen in der Ehe ihre bürgerliche Behaglichkeit oberstes Gesetz ist, sind Egoisten, die ihr Herz knapp halten, bloß damit ihr Geldbeutel dick bleibt.«

Nun wurde Marianka unruhig: »Aber, Schatzl! Wenn's nach dir ginge – wieviel Kinder sollten dann wir haben?«

Lächelnd spreizte er seine fünf Finger. Mit beiden Händen griff sie nach der Schläfe: »Oh!«

»Oder auch sieben – neun – ein Dutzend, wenn du magst!« – »Scherz beiseite! Klar ist doch, daß die Eltern einer Kinder herde nichts weiter sind als deren Anhängsel. Bloß für die Kinder müssen sie sorgen. Aber ich will kein bloßes Mittel für das Menschengeschlecht sein – sondern auch etwas für mich!« Schmeichelnd legte sie den Arm um seinen Nacken: »Und wär' ich nichts mehr für mich, wie könnte ich dann etwas sein für dich, Schatzl?«


*


Mit dem Frühjahr begann für Hainlin eine besonders glückliche Zeit, insofern die kleine Besitzung am Waldsee seine Liebe zur Gärtnerei befriedigte. Ein paar Wochen hintereinander weilte er draußen. Grub und karrte Dünger wie ein Bäuerlein. Ging mit der Gießkanne, zimmerte eine Laube, war sogar Maurer und Dachdecker. Sonnabends gegen Abend kam gewöhnlich Burdinski, um einen Tag mit seinem Freunde zu verleben und auch seinerseits im Sonnenschein zu hantieren. Zuweilen war noch Frau Ahlert mit den Kleinschen Kindern dabei. Dann betreuten diese ein paar Beete, die man das Kleinsche Rittergut nannte. Besonders die Blumen, mit denen Frau Klein begrüßt werden sollte.

Und endlich, zur Zeit der Lilienblüte, erschien Frau Klein an Burdinskis Arm, von den Kindern umschmeichelt. Ihre Blässe[460] verriet, was sie durchgemacht hatte, doch sie benahm sich rüstig und klagte in keiner Weise über ihre Gefängniszeit. Beunruhigt hatte sie nichts als die Frage, wie die Polizei in Erfahrung gebracht habe, daß im Volkskaffeehaus die Ausgabe der verbotenen Schriften stattfinde. »Es muß doch einer gepfiffen haben!« meinte sie. »Glaser wird keinen Schwupper gemacht haben – der ist vorsichtig. Offenbar hat die Polizei mindestens schon einen Tag vorher Wind bekommen – die drei Beamten erwarteten uns ja. Hier muß was faul sein.«

»Wir werden die Sache untersuchen. Aber jetzt, lassen wir sie ruhen! Jetzt soll uns bloß Liebes und Frohes beschäftigen!«

Man fuhr Kahn – landete auf der Liebesinsel, wo die nunmehr belaubten Erlen und die Birken mit dem lichtgrünen Haar im lauen Winde säuselten. Man ruderte ins Löcknitzfließ, das, mehrere Seen verbindend, eine Sumpfwildnis durchschlängelt. Frösche quarrten, im dichten Schilf schwatzten Rohrsperlinge. Frau Klein träumte verzückt, Burdinski lächelte vor sich hin. Hainlin ließ den Kahn steuerlos – nichts begehrte man als die Junisonne, den blauen Himmel, die weißen Wölkchen, gespiegelt im Wasser, das lispelnde Röhricht mit den schwebenden Libellen, die Süßigkeit der gelben Seerosen, den Harzduft der Wacholderbüsche, die den nahen Kiefernwald säumten. Nun bebten aus Hainlins Flöte wonnige Weisen – er dachte an die schwäbische Heimat – Burdinski an sein Masuren.

Marianka fehlte – sie nahm an solchem Naturgefühl selten teil, an städtischen Interessen hing sie: an menschendurchströmten Straßen, an Konzert und Theater, am Tiergarten, wo sie in den Zelten ein Kaffeekränzchen mit Freundinnen hatte.

Daß die geplante Reise nach dem Süden unterblieb, weil Hainlin vom Grünheider Gärtchen gefesselt wurde, tat Marianka leid, obwohl sie davon kaum etwas merken ließ.[461]

Als sie erwähnte, ihre Erbtante würde es gern sehen, wenn sie mit ihrem Manne für ein paar Wochen zum Besuch käme – die Tante hatte ein Gütchen an der pommerschen Küste –, erwiderte Hainlin, vor Herbst dürfe er seinen Garten nicht im Stich lassen, zumal jetzt das Treibhaus gebaut werde. Wenn aber Marianka gern zu ihrer Tante möge, solle sie doch reisen – die Seeluft werde ihr gut tun.

Marianka reiste also zur Tante, während Hainlin in Grünheide gärtnerte. Aber keine vier Wochen, und er hatte solche Sehnsucht nach Marianka, daß er Frau Klein bat, mit den Kindern für ein Weilchen nach Grünheide überzusiedeln, damit er seiner Frau nachreisen könne.

Mit freudiger Genugtuung empfing ihn Marianka. Ein paar Tage blieb das Paar bei der Tante, dann machte es einen Abstecher nach Bornholm. Auf Hainlins Wunsch war das geschehen – ihn reizte diese naturhafte Insel mit den Granitklippen und Brandungen. Er liebte es, über Heidehügel zu schweifen, die anrollende See zu belauschen, einsame Feldlandschaft zu durchwandern, in einem Bauerngehöft einzukehren und mit den Leuten Dänisch zu radebrechen.

Marianka blieb lieber in Blanks Hotel – las Journale, plauderte mit Hotelgästen, ging zum kleinen Hafen und beobachtete die Abfahrt des Dampfers.

Herr Starke, ein Arzt aus Stettin, leistete ihr zuweilen Gesellschaft – sie sah ihn gern, und auch Hainlin fand ihn leidlich. Starke war ein Hüne von Gestalt, mit durchdringenden Blauaugen, blondem Vollbart, kühner Adlernase. Leidenschaftlicher Segler, nahm er Hainlin mit hinaus in die schäumenden Wellen. Der Schwabe war begeistert vom seemännischen Wesen und von der nordischen Landschaft. »Nordisch?« lächelte Starke – »da sollten Sie erst mal nach Norwegen kommen!«[462]

Und von Norwegens Felsenbuchten war nun viel die Rede. Hainlin schlug Marianka vor, die nächste Sommerreise nach Norwegen zu machen. Sie war einverstanden: »Aber Sie, Herr Doktor Starke, müssen Führer sein.«

Als das Ehepaar auf dem Dampfer war, der es heimführen sollte, und bei der Abfahrt Marianka mit dem Taschentuch wedelte, rief Starke: »Also, gnädige Frau – nächsten Sommer in der Mitternachtssonne – am Malström!«

»Wo?« rief sie zurück, während der Dampfer zu schaukeln begann. – »Am Malström! Das ist der große Strudel bei den Lofoten. Den möcht' ich durchsegeln! Sind Sie dabei? Nicht? Na, denn fahr ich alleine! Far well!«

»Dees ischt e Kerle!« sagte Hainlin anerkennend, als der Hafen, wo der verbliebene Starke den Hut schwenkte, allmählich zurückwich. – »So stelle ich mir Tell vor,« meinte Marianka – »solche Naturwüchsigkeit hab' ich gern.«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 455-463.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon