Spitzel

[434] Wie eine stille Wasserfläche, die das Uferschilf und den Himmel spiegelt, aufgewühlt wird, wenn ein Hund hineintappt, so wurde Burdinskis Beschaulichkeit plötzlich gestört. Eines Sonntags, während er zum Besuch bei Hainlin war, erschien im Schusterkeller eine verschleierte Dame. Erst redete sie von Stiefeln. Dann begann sie: »Und wie geht es Ihrem Manne? Er is ja woll in London? Nich? Schade! Wenn er in London wäre, hätt' ich lohnende Arbeit für ihn. Mein Mann is nämlich Journalist un hätte gern schriftliche Berichte über Arbeiterbewegung un Politik. Stilisiert brauchen se nich zu sein, das besorcht mein Mann hinterher. Es genügt, wenn angegeben wird, welches die Führer sind – ich meine auch so Genossen, wo 'ne kleine Rolle spielen. Un was man so denkt und treibt in den Bezirken. Bloß Materialien braucht mein Mann – die verarbeitet er für Zeitungen. Die Sache wird nich schlecht bezahlt – un Ihr Mann würde sein Teil abbekommen – so'n Stücker dreißig, vierzig Emmchen für nen ordentlichen Bericht. Was meinen Sie? Und wenn Sie selber, Frau Klein, solche Berichte machten? Auch mündlich könnten Sie se mir geben.«

Erstarrt hatte Frau Klein zugehört: »Ich? Wa – was soll ich?« – »Aber warum denn nich? Sie werden das schon machen. Und ein Stück Geld verdienen. Bloß vor Burdinskin müssen Sie reinen Mund halten. Vorläufig wenigstens – solange wir seiner nich sicher sind. Später, wenn wir ihn bekehrt[435] haben, kann er selber Berichte schreiben. Das wäre ein Mitarbeiter für meinen Mann! Dann wird es Ihnen gut gehn. Wir richten Ihnen 'ne Stehbierhalle ein – da können die Genossen verkehren, un was Sie Interessantes hören, wird notiert, für meinen Mann. Na sehn Se, so hätten Sie 'n feines Leben – und wenn Se wollen, geb' ich Ihnen 'ne kleine Anzahlung.«

Nun hielt sich Frau Klein nicht länger: »Was? Sie wollen mich zum Judas machen? Raus! Auf der Stelle raus! Die Stiebel schmeiße ich Ihnen ins Jesichte, Sie Jiftschlange!« – »Aber, Frau Klein! Was erlauben Sie sich? Sie haben es, wie's scheint, noch nich nötig. Na warten Se man! Aus der Hand fressen Se uns noch!« Und naserümpfend machte sich die Dame fort.

In wilder Erregung war Frau Klein, als sie dem heimgekehrten Burdinski berichtete. Bleich stand er da, seine Lippen bebten. Glaser, der nach Tische kam und die Geschichte hörte, lachte bitter: »Da hast du's, Burdinski! In dein Wolkenkuckucksheim steckst du den Kopp – un wenn hier unten Jiftnattern schleichen, so saachst du: Kinder, keenen Kampf, keene Jewalt! Bloß das ewije Licht kann uns helfen! Proste Mahlzeit, du Schwärmer!« – Burdinski nagte an der Unterlippe.

Es sollte aber noch ärger kommen. Nachdem der Schusterkeller, wie zu merken war, ein paar Wochen von Aufpassern umlauert worden war, erschien ein Wachtmeister mit zwei Schutzleuten. Haussuchung wollten sie veranstalten, nach verbotenen Schriften. »Rücken Se man raus damit! Wir wissen ja doch, daß Sie die Londoner ›Freiheit‹ vertreiben – ja, Sie, Burdinski! Tun Se nich so unschuldig! Sie sind von die Mostsche Sorte! Der läßt sein Blatt von Hamburch aus an hiesige Vertrauensleute schicken. Heute sind hier Exemplare einjetroffen – heraus damit!«[436]

Burdinski zuckte die Achseln. Frau Klein leugnete – zornbebend berichtete sie dann die Geschichte von der verschleierten Dame. Der Wachtmeister sah sie groß an und schwieg. Alle Winkel ließ er durchwühlen, Schränke und Kästen, Küche und Betten, sogar die Stiefel, die zur Reparatur lagen. Schließlich erklärte er, zur Leibesvisitation schreiten zu müssen: »Wir wissen, hier ist heute ein Brief aus Hamburg abgegeben – wo ist er? Wo?« – »Ein Brief?« antwortete Frau Klein. »Wenn's weiter nichts ist! Das hätten Sie eher sagen können, dann wäre die ganze Kramerei erspart geblieben.« Und aus ihrem Täschchen zog sie den Brief, den der Briefträger vor einer Stunde gebracht hatte: »Von meinem Mann, der is auf 'nem Schiff beschäftigt – er schreibt, daß er gerade eine Fahrt nach Norwegen hinter sich hat.«

Das dargereichte Schreiben las der Wachtmeister: »Es waren aber auch Schriften im Kuvert – wo sind die?« – »Schriften im Kuvert? Nee! Aber ein paar Bilderbogen – damit will mein Mann den Kindern 'ne Freude machen – hier liejen se – un vorhin haben Sie se anjesehn.« Es waren Buntdrucke: Lappländer mit Zelten, Schlitten mit Renntieren. An der Faltung des Papiers sah man deutlich, daß die Bilderbogen im Kuvert gewesen waren. Der Wachtmeister machte ein verlegenes Gesicht und zog mit seinen Leuten ab.

Die Lage der Dinge wurde wie durch Blitzlicht aufgehellt, als gegen Mittag derselbe Postbote, der den Brief mit den Bildern gebracht hatte, einen zweiten Brief abgab, der war an Burdinski adressiert. Schon wollte Frau Klein dem Postboten ihr Herz ausschütten, als sie einen Blick von Burdinski auffing, der Schweigen gebot. Als nun der Briefträger gegangen war, brach Burdinski Entrüstung los: »Jemäinhäit!! Olja! Wie niederträchtich is diese Welt! Hier nämlich sind die[437] Schriften, nach denen die Polizeistrolche jesucht haben – äinfach zu spät is diese Sendung anjelangt, in dem ersten Brief aber, der heute früh hier abjejeben is, hat die Polizei die verbotenen Schriften vermutet. Er kommt auch aus Hamburch. Jetzt is bloß die Frage: Wer hat ihn abjeschickt? Ich habe die Ahnung, daß man uns was Strafbares zuschieben will. Schurken, Schurken!« Burdinski knirschte mit den Zähnen und schüttelte die Faust. »Verderben wollen se uns – zu Verbrechern stempeln! Vielläicht hat doch Ilaser recht: Zertreten soll man dies Jiftgewürm, zertreten!«

Obwohl Frau Klein dafür war, die Schriften sofort zu verbrennen, konnte sich Burdinski nicht dazu entschließen. Dies Verbotene war ihm interessant. Ja, wie eine Sünde kam's ihm vor, Druckpapier zu vernichten, dem Freiheitskämpfer ihre Sehnsucht anvertraut hatten. »Wer wäiß, ob nich jrade da 'ne Wahrhäit steht!«

»Aber hier dürfen die Sachen nich bleiben,« sagte Frau Klein – »die Strolche könnten ja noch mal suchen. Sofort bring' ich die Schriften zu Ilasern.« Und schon hatte sie ihr Umschlagtuch um, tat die verbotenen Schriften in ihren Handkorb und ging. – Nicht lange, so war sie zurück. Glasern hatte sie angetroffen. Ueber die Geschichte wär' er fuchsteufelswild. Die Schriften hätt' er in einem Versteck untergebracht. Im Hinterhause die Sargschreinerei gehöre einem Genossen. Da sei die »Freiheit« versteckt: in einem Kindersarge.

Als der Briefträger wieder mal kam, sagte Burdinski: »Na wissen Se, Ihr Postjehäimnis is fouler Zouber!« Der Beamte antwortete mit langsamem Kopfnicken: »Unser eens sieht manches – muß aber's Maul halten.«

Wenn Burdinski zu Glaser ging, lasen die beiden in den Londoner Schriften und suchten zu verstehen, wie sich Most die[438] Freiheit denke. »Wenn Anarchie Herrschaftslosigkeit heeßt,« – sagte Glaser zu Burdinski, »dann bist du ooch 'ne Art Anarchist. Un ick wär' ooch dafür, wenn ick nich sähe, wie weit die Menschen noch davon ab sind, aus freien Stücken Ordnung zu halten. Rejiert müssen se werden. Bei de Engels, da wäre Anarchie am Platze. Uff Erden braucht man immer noch 'ne Knute. Bloß det wir Arbeeter nich länger unter die Knute sein wollen, selber wollen wir se schwingen – fürs erste mal den Kapitalistenstaat abschaffen. Und heite abend, Burdinski, kommste mit in meine Iruppenvasammlung.« Wie Glaser nun auseinandersetzte, waren die Wahlkreise von Berlin heimlich in Bezirke gegliedert, diese in Gruppen. Glaser war ein Gruppenhauptmann. Und heute sollte ein Akademiker einen Vortrag in der Gruppe halten.

Burdinski ging mit Glaser, doch trennten sie sich am Andreasplatz, wo die Sitzung in einer Privatwohnung stattfinden sollte. Sie taten das aus Vorsicht, um nicht einem Spitzel aufzufallen. Im Hinterhaus, vier Treppen hoch, wohnte der Schlossergeselle, bei dem die Versammlung war. Die Stube war voll Menschen, zwanzig mochten es sein, auch ein paar Frauen waren dabei. Zuerst wurden geschäftliche Sachen erledigt, Gelder gezählt, verbotene Schriften ausgegeben und Bons zur Unterstützung der Ausgewiesenen.

Dann hatte Genosse Steinhauer das Wort, ein Buckliger in ärmlicher Kleidung, er hatte Chemie studiert. In fünfzehn Jahren – so führte er aus – werde die sozialistische Bewegung derart angewachsen sein, daß es zum Kampfe mit dem Staate komme. Friedlich könne die Sache unmöglich verlaufen – Bismarck, Puttkamer und Konsorten seien darauf aus, das Proletariat zur Verzweiflung zu treiben. Unerträglich mache man ihm das Leben. Die Regierung verfolge offenbar den[439] Plan, die Arbeiter zu provozieren, daß die Revolution vorschnell ausbricht – um sie dann niederzukartätschen.

Eine Bewegung ging durch die Versammlung, und einer rief: »Wir dürfen uns eben nich provozieren lassen! Das sagt auch Liebknecht!« – Steinhauer wußte den Einwurf sofort zu parieren: »Und recht hat Liebknecht – vor der Zeit dürfen wir uns nicht provozieren lassen – das bekäme uns schlecht. Aber wenn die Partei ein paar Millionen tüchtige Genossen hat, dann ist es Zeit, loszuschlagen. Die Frucht muß reif sein, dann fällt sie vom Baum. Aber dann soll man sie säuberlich aufheben, daß sie nicht zertreten wird. Seht, Genossen, auf diesen Zeitpunkt müssen wir uns vorbereiten. In der Oeffentlichkeit gilt es, die Revolution zu bremsen, damit sie nicht hervorbricht – in der Stille aber müssen wir rüsten, damit uns die Stunde der Entscheidung nicht überrumpelt

Nach dieser Einleitung, die beifällig aufgenommen wurde, ging Steinhauer zu einem Kapitel über, das er revolutionäre Kriegswissenschaft nannte. Von Dynamit war die Rede, von Handbomben und vom Stinkgase Kakodyl. Die Bereitung und Anwendung solcher Mittel wurde dargelegt und durch Zeichnungen erläutert.

Patzke, der zu Beginn des Vortrags noch Geschäftliches zu erledigen hatte, ergriff das Wort und schilderte, wie die Revolutionäre gegen die Berliner Kasernen vorzugehen hätten. Mit einem Schlage müßten die Dächer der umliegenden Straßen besetzt werden – dann seien die Soldaten in der Mausefalle.

Auch von Kniffen war die Rede, mit denen man den Spitzeln ihr Handwerk sauer machen könne. Patzke witzelte, er werde zurzeit wie ein General behandelt: Vor seinem Hause hab' er nämlich 'nen Doppelposten, und wenn er ausgehe, folge ihm seine Leibwache. Aber diese Faulen hätten keinen leichten Dienst;[440] er sei nämlich Dauerläufer und mache sich anheischig, jedem Verfolger zu entwischen oder ihn zu »versetzen«. Neulich habe er sie tüchtig herumgehetzt. Um ihnen zu entweichen, sei er auf die Pferdebahn gesprungen, und nun hätten die Faulen rennen müssen. Von einer Pferdebahn zur andern sei es so gegangen – und dies Verfahren biete den Vorteil, daß der Ausreißer sich ausruhen kann, die Verfolger aber abgemattet werden. Sobald ihnen eine Haltestelle Gelegenheit gibt, wieder nahe zu kommen, müsse der Ausreißer sofort auf 'ne andre Pferdebahn springen. Endlich sei den Faulen die Puste ausgegangen, und sie hätten die Jagd aufgegeben. Ein paar Tage später sei ihm einer von ihnen auf der Straße begegnet. »Na, Herr Polizeirat? sage ick – wie wär's? Solln wr wieder mal 'n kleenet Hindernisrennen riskiern? Da macht der Faule 'n wildet Jesichte und schnauzt: Mensch, Sie haben mir 'ne richtije Herzerweiterung beijebracht! Wenn Sie doch endlich mal ausjewiesen wären! Fünf Pullen Kognak jeb' ick zum besten.«


*


Solche Spitzelabenteuer hatten etwas von einer Seiltänzerei, die wie ein Spiel aussieht und auch gewöhnlich harmlos abläuft – bis mal ein Unfall geschieht.

Derselbe Briefträger, der die verbotenen Schriften gebracht hatte, kam morgens in den Schusterkeller, wo Burdinski an der Arbeit saß, während der Lehrjunge Stiefel austrug: »Nich wahr, Herr Burdinski? Sie sind dem Buchdrucker Ilaser sein Freund? Na, denn sagen Sie ihm, mein Kolleje, wo die Pakete austrächt, bringt ihm morjen ein jefährliches – da is nämlich Schweizerkäse drin.« – Burdinski stutzte: »Schweizerkäse?« Er wußte: das bedeutet die verbotene Züricher Zeitschrift »Der Sozialdemokrat«. – »Ja, Schweizerkäse!« fuhr der Briefträger fort – »un was das Schlimme is: die[441] Pollezei weiß es – un hat vor, die Schriften un zujleich den Empfänger abzufassen. Also muß man vorbeujen! Warnen Sie Ilasern! So, Burdinski! Ick habe mein Jewissen erleichtert; aber nu sorjen Se, det ick keene Nackenschläge krieje. Bloß Ilaser un Frau Klein, keen andrer darf wissen, det ick jepfiffen habe.«

Weil Burdinski besorgte, er könne beobachtet werden, schickte er Frau Klein zu Glaser. Als sie wieder zurück war, sagte sie, Glaser wolle ein seines Ding drehn, um die Polizei auch noch zu foppen.

Die Sache entwickelte sich nun folgendermaßen: In der Tat erhielt Glaser ein Paket, versiegelt, mit Wertangabe. Es kam aus Danzig, der Absender gab sich für einen Seiler aus und hatte als Inhalt »Seilerware« bezeichnet. Glaser öffnete mit Vorsicht, um die Pakethülle möglichst wenig zu beschädigen. Das Bündel Zeitschriften nahm er heraus und brachte es sofort in Sicherheit beim Nachbar Sargschreiner. Zurückgekehrt, tat er in die Papierhülle etwas hinein, das an Form und Gewicht den herausgenommenen Schriften ungefähr gleichkam, und so war das Paket äußerlich wiederhergestellt. – Die Polizei erschien weder am ersten noch am zweiten Tage. Sie lauerte draußen, denn Glaser beobachtete verdächtige Gestalten. Am dritten Tage nahm er das Paket unter den Arm und ging aus. Er merkte, daß ihm Spitzel folgten, tat aber harmlos und ging in die Gartenhalle der Brauerei Pfefferberg. Hier waren Genossen zu einer Tafelrunde beisammen – fragend waren ihre Blicke auf Glaser gerichtet, und wie er mit einer Kopfbewegung auf die herumlungernden Spitzel aufmerksam machte, schmunzelte er verstohlen. »Da wäre nu der Käse!« sagte er laut, das Paket auf den Tisch werfend. Die Genossen beugten sich darüber, es wurde geöffnet, und freudiges Johlen begrüßte den Inhalt.[442]

»Halt!« schnauzte da eine Polizeistimme – »keiner rühre sich von der Stelle! Und her mit dem Paket!« – »Nanu?« murrten die Genossen, und Glaser trumpfte laut auf: »Für den Inhalt sind nich wir verantwortlich, sondern der Absender, der den Strick geschickt hat.« – »Strick?« fragte der Polizeibeamte. Im Pakete war allerdings ein Strick, dazu ein Holzklotz. »Un hier is noch wat Jeschriebenes!« sagte Ilaser und las laut vor:


»Dem Judas gebt die Silberlinge,

Dazu den Klotz und diesen Strick –

Den Klotz zur Fußbank – und die Schlinge

Um sein verfluchtes Strolchgenick!«


Das Hohngelächter, in das die Genossen ausbrachen, mochte der Polizei wie Rachegeheul in die Ohren gellen. Der führende Beamte bekam einen roten Kopf. Um seine Autorität zu retten, beschlagnahmte er das Paket und erklärte, das weitere werde sich finden. Die abziehende Polizei mußte spitzige Bemerkungen über sich ergehen lassen, und die zechenden Genossen sangen:


»Mang uns mang is keener mang,

Der nich mang uns mang jehört!«


Die Exemplare des Züricher »Sozialdemokraten«, die im Sargmagazin versteckt waren, ließ Glaser liegen, bis er glaubte, nicht mehr scharf beobachtet zu werden. Dann fuhr aus dem Tore des Hauses ein Handwagen mit einem Kindersarge, und niemand ahnte, daß darin die verbotenen Schriften seien.

Burdinski hatte sich bereit erklärt, in einem bestimmten Hausflur den Wagen zu erwarten, aus dem Sarge die Schriften zu nehmen und fünf Genossen zu überbringen, die im Volkskaffeehaus Stralauer Straße warten sollten. Als Frau Klein von diesem Plane erfuhr, machte sie geltend, die Aufpasser, die[443] noch immer den Schusterkeller im Auge hätten, könnten ihm nachschleichen. Lieber wolle sie selber die Sache ausführen. Ein Paar Stiefel wolle sie tragen, als ob sie Kundenbesuch mache. Ihr zu folgen, erscheine den Spitzeln längst als verlorene Mühe. Burdinski fügte sich dem Vorschlage.

Die Sache ging so weit gut, daß Frau Klein im bezeichneten Hausflur die Schriften empfing und ins Volkskaffeehaus brachte, wo die Genossen harrten. Als jeder sein Paket erhalten hatte, erhoben sich drei Pferdebahnkutscher, die an einem Tische Karten gespielt hatten, und erklärten die Gesellschaft für verhaftet. Rollenden Auges stand Frau Klein da und sagte schneidend: »Verhaftet? Wer sind Sie überhaupt? Lassen Sie Ihre Hundemarke sehn!« – »Frechdachs!« knurrte einer der Beamten und zeigte sein Stück Blech.

Die Verhafteten wurden mit dem grünen Wagen nach Moabit befördert, ins Zellengefängnis – ein böser Prozeß war zu erwarten. Burdinski war trostlos – lieber wär's ihm gewesen, selber verhaftet zu sein, als die Frau, die er von Herzen gern hatte, in Gefangenschaft zu wissen und das Klagen der Kinder zu hören. Etwas leichter wurde ihm, als Frau Ahlert bat, ihr die Kinder ins Haus zu geben – und als dann von Frau Klein folgender Brief kam:


»Lieber Burdinski!


Es geht mir gut, ich erhole mich in der Ruhe hier, und nun bin ich froh, daß die Kinder versorgt sind. Tu mir den Gefallen, Dich nicht zu bekümmern. Tröste Dich mit Deinen Büchern! Wir haben beide ein gutes Gewissen.«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 434-444.
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