Sternschnuppe

[412] Menschenkenner war Pater Ambros – seine Warnung vor dem Direktor erwies sich als zutreffend. Als Wendelin an seinem Werke schrieb, blickte ihm plötzlich der Direktor über die Schulter und äußerte den Wunsch, das Manuskript der Arbeit zu lesen. Wendelin, der den Ratschlag des Paters beherzigt hatte, gab nun das Manuskript her, das er für diesen Zweck zurechtgemacht hatte. Nach ein paar Wochen brachte es der Direktor zurück und gab Wendelin auf, die rotangestrichenen Stellen umzuarbeiten; sie seien nicht in Einklang mit den Lehren der heiligen Kirche. Wendelin tröstete sich damit, daß die Sache leidlich abgelaufen sei. Das eigentliche Werk war dem Unratschnüffler ja verholen geblieben. Dies wollte er nun bei Pater Ambros in Sicherheit bringen.

Eine stürmische Herbstnacht war's, als Wendelin, unmittelbar nachdem Pater Ambros den Schlafsaal inspiziert hatte, aus seinem Bett in die Kleider schlüpfte und ein vorbereitetes Bündel unter die Bettdecke legte – einen Schlafenden sollte das vortäuschen. Die Vorhänge, die jedes Bett vom andern absperrten, begünstigten Wendelins Entfernung. Im Flur fand er Pater Ambros, der gewartet hatte, ob kein Zwischenfall eintrete. Nun schlichen sie zur hinteren Pforte. Durch die geöffnete Tür stürzte ein Windstoß herein, irgendwo im Kloster schlug eine Tür zu. Ambros fuhr zusammen, legte die Hand auf den Mund und horcht. Da nichts Verdächtiges erfolgte, gingen die zwei hinaus[413] und schlossen die Pforte. Der Sturm peitschte mit Regentropfen. Die Kapuze hochgezogen, schritt der Mönch durch den Garten voran, hastig zum Gewächshaus. Erst nahebei war zu merken, daß innen eine Laterne brannte.

Als Ambros gebückt und hinter ihm Wendelin eintrat – sie mußten etliche Stufen abwärts, weil das Gewächshaus halb in die Erde gegraben war – kauerten im Laternenschimmer auf Strohbündeln ein paar Gestalten. »Pax vobiscum!« grüßte Ambros, jene murmelten: »Et cum spiritu tuo!« Bruder Gärtner war's und ein Bruder von der Küche. Nachdem die Ankömmlinge Platz genommen hatten, wurde zunächst eine Schnupftabaksdose herumgereicht, später eine Kanne Klosterwein.

»Das hast du brav gemacht, Bruder Kellermeister!« rief der Gärtner fröhlich einem Kuttenmanne zu, der soeben ins Gewächshaus eingetreten war und mit einem frostigen »Huhu« den Regen abschüttelte. Die Kapuze hatte er übers Gesicht gezogen. Am Eingang verweilte er, ein Gewächs betrachtend, das ihn zu fesseln schien. – Ambros, der aus der Weinkanne einen Zug getan hatte, stöhnte behaglich: »Ha, das wärmt bei dem Hundewetter, und ich muß mich noch ein bißchen ans Gute halten, das es hier gibt – viel ist es ja nicht. Uebrigens könnte das mein Abschiedstrunk sein.« – »Oho!« hieß es – »so plötzlich?«

»Ich stehe nicht dafür, daß mich nicht die Ungeduld übermannt. Einen Winter halt' ich nicht aus im dumpfen Pfaffenstall da – besser haust es sich jedenfalls bei meinem Freund in Düsseldorf. Hier verkommt man! In der Klosterbibliothek findet sich nichts Gescheites. Geistige Anregung, wie man sie nötig hat, ein freies Wort müssen wir in dieser Heimlichkeit holen wie der Dieb in der Nacht. Unserm jungen Freunde hier, der ein Werk ganz aus Eignem schafft, ist der Direx dazwischengefahren wie ein Inquisitor. Hast du die Manuskripte mitgebracht,[414] Wendelin? Laß schauen, was der Pfaff korrigiert hat. Haha, mit roter Tinte! Die Handschrift ist nicht von ihm – natürlich! Nicht einmal er hat's geschrieben, sondern sein Faktotum, der Lazaristenpater, auf dessen Weisheit er schwört.« In die Blätter schauend, fuhr Ambros spöttisch fort: »Hört, hört! Von der Hölle ist hier die Rede. Unser Freund Flammer hat folgendes geschrieben: ›Jede Dissonanz gipfelt in ihrer Auflösung, so daß die Musik als Sinnbild der ewigen Liebe gelten darf, die ja alle Dinge zum Besten kehrt.‹ Wendelin, da hast du eine selige Wahrheit erlebt! Aber nun hört, was der Zensor an den Rand geschrieben hat: ›Irrlehre‹! steht hier, dreifach unterstrichen. Und weiter: ›Das athanasianische Symbolum spricht vom ewigen Höllenfeuer, und die heiligen Väter lehren, durch Sünde werde der vollkommene Gott unendlich beleidigt, hieraus nun folgt die Ewigkeit der Hölle. Da gibt es also keine Auflösung der Dissonanz. Was sollen denn auch Verdammte mit Musik?‹«

Hier blickte Pater Ambros seinen Zuhörern ins Gesicht, grimm sich weidend an ihrer Verblüffung. Und schlug ein Hohngelächter an: »Haha! Klassisch! Was sollen Verdammte mit Musik? fragt dieser Mann Gottes – spottet seiner selbst und weiß nicht wie. Müßte eigentlich sich selber zu den Verdammten rechnen! An einen Herrgott glaubt er ja, der ganz musenlos ist, den jeder Organist beschämt. Kein Organist schließt sein Stück mit einer Dissonanz, er löst sie auf! Aber einem Herrgott traut dieser Pfaffe zu, am Schlusse seiner Schöpfung stehe ewige Verdammnis! Und so was will Christ sein! Nachfolger des Bergpredigers! Seine Karikatur ist das! Wollte ich meinen sanften Heiden predigen, Gott, der durch seinen Sohn die Menschen ermahnt, sogar den Feinden wohlzutun, dieser liebe Gott sei durch Evas Apfelbiß unendlich beleidigt und habe das Bedürfnis,[415] seine Geschöpfe dafür, daß sie nicht vollkommener aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sind, abzustrafen mit ewiger Folter – o Kinder! Wenn ich derart meine Mission betriebe, meine braunen Inder würden mich anlächeln, als ob ich betrunken wär' – und würden entgegnen: Wenn du von deinem Gotte nichts Besseres weißt, wollen wir lieber, nach wie vor, unserem Brahma angehören. Dessen Sohn, das ewige Licht, so heißt es, soll die ganze Welt verklären. Also siegt die Liebe, nicht der Haß!«

Hingerissen war Wendelin, im Innersten erschüttert von dieser Rede. Eine Dissonanzauflösung war das, die seiner heiligsten Sehnsucht entsprach. »Ach, Hochwürden,« sagte er – »darf ich nun ein paar Worte von mir vorlesen? Aus Evangelium von der erlösenden Liebe klingen sie an. Enthalten sind sie nicht in dem Geschreibsel, das ich für den Direx zurechtgemacht habe, sondern in diesem Geheimmanuskript – das enthält ja meine wahre Ueberzeugung. Und das, lieber Pater, bitte ich Sie, hernach an sich zu nehmen – damit es nicht ein unseliger Zufall dem Direx in die Hände spielt.«

Das Heft, in dem Wendelin nun blätterte, wurde ihm auf einmal von hinten entrissen. Er glaubte, der Kuttenmann hab's getan, den man Bruder Kellermeister angesprochen hatte. Doch das Gesicht, in das Wendelin nun mit Entsetzen starrte, gehörte dem Direktor an! Dem Direktor, der jetzt die Kapuze abgelassen hatte und höhnisch die verdutzte Gruppe musterte: »Ihr seid mir saubere Diener Gottes! Aber euer Direx wird euch Mores lehren – wird euch zeigen, wo der Zimmermann 's Loch gelassen hat in diesem Pfaffenstalle, wie einer von euch ein geweihtes Kloster zu nennen sich erfrecht! Pfui über euch!«

Als wären sie gelähmt, hockten Pater Ambros, die Brüder und Wendelin auf dem Stroh. Dann rappelte sich Pater Ambros[416] auf und sagte mit Festigkeit: »Der Horcher an der Wand hört seine eigne Schand! Da haben Sie mal die Wahrheit gehört!«

»Jugendverführer!« schrie der Direx – »das Asylrecht mißbrauchen Sie! Eingeschlichen haben Sie sich als Patient – und heimliche Zechgelage veranstalten Sie! Meine Herde hetzen Sie gegen mich – gegen die heilige Kirche! Ketzer!« – »Hoho!« lachte Ambros hohl – »ein kalter Wasserstrahl ist die Wahrheit – aber gesund! Sie schütteln sich wie ein nasser Pudel – das ist der eigentliche Grund Ihrer Entrüstung!«

Weiteren Auseinandersetzungen entzog sich der Direx, indem er das Gewächshaus verließ. Bruder Gärtner war aufgestanden und zuckte die Achsel, nahm den Weinkrug und trollte sich. Hilfesuchend blickte Wendelin den Pater an – der sprach: »Nun halt' dich tapfer, Jong! Und macht man dir die Hölle heiß, so tu wie ich! Mein Bündel schnür' ich und ziehe los. Du weißt doch, daß man dich freilassen muß, wenn du gehen willst. Krieche nicht zu Kreuze! Ich an deiner Stelle würde mein Talent nicht im Kloster vergraben. Studiere lieber was Exaktes, Mensch! Bitte deine Verwandten, daß sie die Hand dazu reichen! Und sollten sie dich verlassen, so begib dich nach Düsseldorf zum Doktor Habermann – das ist mein Freund, und dahin geh' ich morgen. Leb' wohl, Jong!« – Aufschluchzend beugte sich Wendelin über des Paters Hand, dieser sah ihn schmerzlich an und schlug das Kreuz.

Die nächsten Monate waren für Wendelin harte Zeit. Daß er nicht gleich dem Pater Ambros gefolgt war, erklärt sich aus seiner Erwägung, ob es nicht klüger sei, bis Ostern auszuharren, weil dann das Reifezeugnis für die oberste Klasse zu gewärtigen sei. In dessen Besitze konnte man zur Oberprima eines weltlichen Gymnasiums übergehen und ein Jahr darauf das Abiturium machen. An den Onkel Kaplan hatte Wendelin geschrieben[417] und alles gebeichtet. Die Antwort war eine dröhnende Moralpauke nebst der Drohung, er werde seine Hand von ihm abziehen, wenn Wendelin aus dem Kloster entweiche; und die Welt habe nur Verachtung für einen verdorbenen Klostermann.

Sprachen nun diese Gründe für sein Verbleiben im Kloster, so schrie sein Herz oft genug: Es ist unerträglich! Aus den Bußen zwar, die ihm auferlegt waren, machte er sich wenig – aber die pfäffische Gesinnung, die jetzt unverfroren hervortrat, war widerlich. Der Direx wollte ihn zum Kadavergehorsam drillen – die übrigen Lehrer behandelten ihn als räudiges Schaf – die Juvenisten waren Duckmäuser, die sich bei den Oberen lieb Kind machen wollten, indem sie Wendelin verachteten und quälten.

In Form der »offenen Beichte«, die für verdienstvoll galt, war Angeberei organisiert, und sie durchseuchte das ganze Klosterleben. Obwohl es den Juvenisten streng verboten war, Briefe nach außen zu richten, die nicht des Direx Genehmigung gefunden hatten, ließ sich Wendelin durch einen Laienbruder verleiten, ihm ein Schreiben an Pater Ambros anzuvertrauen. Es wurde nicht der Post übergeben, sondern dem Direktor. Weil nun darin geklagt war, das beschlagnahmte Manuskript werde ihm vorenthalten, wurde Wendelin vor den Pater Direktor zitiert, und dieser erklärte patzig: Das Manuskript sei längst im Schornstein; besser sei's, die Schrift brenne, als der Verfasser. Uebrigens solle sich Wendelin nicht einbilden, versetzt zu werden – ihm fehle die sittliche Reife.

Jetzt hielt Wendelin seine Empörung nicht zurück und verlangte, sofort aus dem Kloster entlassen zu werden. »Ja, in Form einer Relegation sind Sie entlassen!« schnauzte der Direx – und dabei blieb es.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 412-418.
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