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[418] Vom Rate des Paters Ambros, nach Düsseldorf zu kommen, machte Wendelin Gebrauch und fand den Doktor Habermann. Ambros aber war nach Holländisch-Indien abgereist. Habermann, ein früherer Kaplan, der sich zum Altkatholizismus bekehrt hatte, beherbergte unseren Flüchtling und verschaffte ihm eine Hauslehrerstelle bei einer begüterten Witwe, die einen achtjährigen Knaben und ein kleineres Mädchen zu erziehen hatte.
Hier war Wendelin auf einmal wie im Himmel. Die Kinder waren lieb, und Klein-Katrinche, die ihr verstorbenes Väterchen vermißte, schloß sich zärtlich an Wendelin an. Von Frau Senftenberg wurde Wendelin mit einem Respekt behandelt, als ob er nicht erst neunzehnjährig wäre. Das machte sein ernstes, vergeistigtes Wesen. Uebrigens war Frau Senftenberg anschmiegsam, an ein Rankengewächs gemahnend, dem die Stütze fehlt. Sie sah es gern, daß Wendelin mit dem Knaben Ausflüge machte und im Dämmerstündchen schöne Geschichten für Klein-Katrinche wußte. Da ihr Mann ein nüchterner Fabrikant gewesen war, ging ihr im Verkehr mit Wendelin eine neue, schöne Welt auf. Nun hätschelte sie den Jüngling, kaufte ihm geschmackvolle Kleidung, stattete sein Zimmer gemütlich aus, mietete ein Harmonium und war dankbar, wenn sie unter seiner Leitung darauf üben durfte. Auf Konzert und Theater abonnierte sie für Wendelin – doch es war auffällig, daß sie niemals in seiner Gesellschaft hinging – offenbar um dem Gerede der Leute keinen[419] Stoff zu geben. Wie Wendelin über diese Dinge nachsann, kam ihm der Gedanke, ob es nicht möglich wäre, der sanften blonden Frau so nahe zu kommen, wie ihm seine zärtliche Träumerei vorgaukelte. Ob sie nicht vielleicht doch wagen würde, ihn zu heiraten? Sie war allerdings zehn Jahre älter als er, und – was ihn besonders demütigte – ein grüner Junge war er, nicht einmal für seinen Beruf vorbereitet.
Nun beriet er sich mit Frau Senftenberg über seine weitere Ausbildung und gestand: das Jahr bei ihr sei ihm wie ein Himmel gewesen, aber gerade dadurch nachteilig für seine wissenschaftliche Ausbildung. Die habe er vernachlässigt, und das bekümmere ihn. Je lieber er hier weile, desto heißer wünsche er, etwas Rechtes zu werden.
Frau Senftenberg war zunächst bestürzt, meinte aber: In ihrem Hause brauche er nichts anderes zu sein, als er eben sei. Wenn er aber wolle, dürfe er aufs Gymnasium gehen – sie sei schon zufrieden, wenn sie ihn zuweilen nachmittags bei den Kindern habe. In stürmischer Dankbarkeit griff Wendelin nach ihrer Hand und wagte, seine Lippen darauf zu drücken.
Seit er ein Ziel hatte, arbeitete er planmäßig fürs Abiturium. Es kam ihm vor, als behandle ihn die schöne Frau nun erst recht mit Zurückhaltung. Seine dunkel treibende Hoffnung loderte auf, als sie einmal sagte: Er brauche eigentlich kein Abiturium, bei ihr könne er ja Privatgelehrter sein. Dies einfältige, doch zärtlich andeutende Wort machte ihn verwirrt – einsilbig war er, in sich gekehrt. Frau Senftenberg schien zu stutzen und zog sich auf ihr Zimmer zurück.
Es war nicht möglich, daß zwei jugendfrische, liebebedürftige Menschen so nahe beieinander wohnen konnten, ohne sinnliche Sehnsucht füreinander zu empfinden. Daß sie zurückhaltend blieben, lag nur an Bedenken des Verstandes, an Rücksichten[420] auf die Satzungen der Welt. Die innere Zerrissenheit, an der Wendelin litt, mußte sich nun irgendwie rächen. Es geschah in einer Form, die in hundert ähnlichen Fällen harmlos bleibt, diesmal jedoch verhängnisvoll wurde.
Wendelin hatte nach dem Abendessen mit Frau Senftenberg Harmonium gespielt und sich von ihrer Nähe wie von den Klangwogen in Zärtlichkeit wiegen lassen. Doch plötzlich wurde sie kühl und verabschiedete sich für den Rest des Abends. Einsam saß Wendelin auf seinem Zimmer, verdrossen den Kopf in die Hand gestützt. Da regte es sich hinter ihm – es kam ihm vor, Frau Senftenberg sei hereingeschlüpft.
Aber nur das Stubenmädchen war's, das noch etwas in Ordnung zu bringen hatte. Seinen fragenden Blick erwiderte sie mit schelmischem Schmollen: »Ach Sie Stuwehocker! Worüm sinn Se denn nit emol e bißche flott?« Sie war ein zierliches Schlänglein – erst seit ein paar Wochen hier in Stellung, hatte sie für Wendelin wiederholt ein Lächeln gehabt, als wolle sie ihn ermuntern. Um so leichter ließ er sich jetzt überrumpeln. Sein Blut war erhitzt durch Frau Senftenberg, die reizte, ohne zu erfüllen. Er war wie ein Sommertag, der zum Gewitter drängt.
Beklommen blickte er auf die niedliche Minna, die verheißend lächelte. Und er stammelte: »Flott soll ich? Wie denn?«
Sie dehnte sich: »J – a! Wat man so – flott nennt! E bißche durchbrenne! Heut spielt dr Millowitsch Hännesche.« – »Waas? Wer?« – »Awwer Herr Flammer! Kennt Ihr nit's Hännesche? Dat's ooch jut!« Und Minna lachte ihn aus. Vom weltberühmten Kölner Puppentheater wußte er nichts – von Millowitsch, der damit in Düsseldorf gastierte! »Ech lad Sie eyn!« meinte sie schelmisch – »heut führe Sie mich zu Millowitsch! In ner halwe Stond – wenn Frau Senftenberch zu Bett[421] jejangen is! Abjemacht!« – Wendelin konnte nicht Nein sagen – übrigens verlangte seine überspannte Natur nach Zerstreuung.
Minna erwartete ihn an der Straßenecke. Sie hatte sich sein gemacht, war kaum wiederzuerkennen. Er benahm sich linkisch und wortkarg. Als sie in die kleinbürgerliche Kneipe traten, wo das Puppentheater gastierte, in den verqualmten Saal, und als die Ausgelassenheit niederrheinischen Volkes, eine johlende Witzelei in befremdender Mundart, ihn umschwirrte, war's ihm schon leid, daß er sich auf diesen Abweg begeben hatte. Das Puppentheater hatte den derben Titel »Das dreieckige Verhältnis«. War von einer kindischen Harmlosigkeit: Hännesche, der rheinische Faxenmacher, hat einen Freund »Tünnes« – das ist einer, der immer möchte, aber nie dazu gelangt. Seiner »Alten« überdrüssig, unternimmt er eine Extratour mit einer Tänzerin. Gerade will er sie abküssen, da schneit die Alte herein ins gemietete Gasthauszimmer. Der flinke und schlaue Hännesche rettet die Situation, indem er die Decke vom Tisch reißt und wie einen Vorhang vor die leichtfertige Schöne breitet: »Nu hüren's! is dat nu Baumwoll – oder Seyde?« Diese einfältige Schlaubergerei entfesselte einen Sturm von Beifall. Das Beste an der Puppenkomödie war das Zusammenwirken des Publikums mit den Darstellern. Immerfort rief man übermütige Bemerkungen in das Spiel hinein, und schlagfertig antwortete Hännesche. Eine dieser witzigen Improvisationen war der Höhepunkt des Abends, und mit wieherndem Gelächter verließen die Stammgäste das Lokal.
Auch Wendelin und Minna gingen – sie selig aufgekratzt, er von der ungewohnten Nähe und Vertraulichkeit eines hübschen Mädels verwirrt. Noch zu ermuntern wußte sie ihn durch eine Flasche Wein in einem Lokal für Liebende. Um Mitternacht wandelte das Pärchen Arm in Arm über die Promenade,[422] und hier kam es zu einer Küsserei, der allerersten in Wendelins Leben.
Als die beiden ins Haus geschlichen waren, standen sie auf Wendelins Zimmer einander gegenüber. »Un jetz deust do mich aaf – jetz fall ich no owe jon in mien kaal Stuf, wo de blecke Dachbalke mir ming Eynsamkeit opzeije. Oder nit?« Dies Evawort entschied – der schwankende Adam fühlte sich hingerissen – und so kam's, daß er sein Paradies verlor.
Frau Senftenberg, zufällig in aller Frühe aufgestanden, entdeckte Minnas Nachtschwärmerei und den Zusammenhang der Dinge. Wendelin, der in einer so heiklen Lage ganz unerfahren war, verlor den Kopf und verließ sofort das Haus.
Doktor Habermann, dem er beichtete, kraute sich den Schädel, – wußte aber keinen anderen Rat, als daß der Sünder eben versuchen müsse, sich irgendwie durch die dornige Welt zu schlagen. So kam Wendelin nach Berlin – fand hier Stellung an einer Einjährigenpresse, dann als Korrektor eines Verlags für wissenschaftliche Werke.
*
Nachdem Hainlin diese Geschichte vernommen hatte, schwieg er lange. Und nach einem tiefen Seufzer murrte er:
»Wie der Ochs am Berg steht unsere Zivilisation vor der Aufgabe, das Verhältnis der Geschlechter gesund, schön, weise zu gestalten. Weil man sich keinen Rat weiß, steckt man wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand und läßt die Dinge laufen. Unser armer Wendelin ist ein Opfer solcher Mißwirtschaft. Zur Scheu vor dem Weibe hat man ihn förmlich gedrillt. Da war der Kaplan – mit dem pharisäischen Hinweis auf die Mutter, die sich durch uneheliche Kinder versündikt hab'. Da war verängstigend das Beispiel Pias und Ulis. Endlich die klösterliche Duckmäuserei. Wie nun Wendelin ins Freie kommt,[423] haust er bei einer schönen Frau, die ihn hätschelt. Zwei blühende Menschen, für einander geschaffen, leben familienhaft zusammen, über ein Jahr – aber ihr Schmachten für einander wagt sich nicht hervor. Natürlich wirkt die flotte Minna hinreißend; so betäubt Wendelin seine ungestillte Sehnsucht durch ein Surrogat. Und schließlich taumelt er in die Arme der Berliner Kellnerin. – Woher nun dieser Unsinn? Schäbige Interessen und soziale Grillen beherrschen die Herzen – die Meinung von Hinz und Kunz gilt etwas – Eros, der Genius der Gattung, wird mißhandelt und ins Elend verstoßen. In den Schulen wird Plato gebüffelt, sein heiliger Geist aber gelästert. An Helenas Gewand tüfteln die Pädagogen wie Flickschneider – von der Göttin haben sie keine Ahnung.«
*
Nach dieser Aussprache mit dem Musikstudenten vergingen fast zwei Jahre, ohne daß Hainlin irgend etwas über Wendelin erfuhr. Der Musikstudent war ausgezogen, ein an ihn gerichteter Brief kam als unbestellbar zurück. Der Zufall fügte, daß Hainlin, als er einen Konzertsaal verließ, den Musikstudenten traf. Und der sagte:
»Ich wollte Sie dieser Tage aufsuchen – habe Nachricht über Flammer – äußerst traurige. Er ist im Irrenhause.« – Sprachlos starrte Hainlin den andern an – dieser zuckte die Achsel und seufzte.
Wendelin Flammer hatte vor Wochen aus Basel geschrieben, als Hörer der Universität studiere er Mathematik und stehe im Begriff, eine Entdeckung abzuschließen, die nichts Geringeres bedeute als eine neue Epoche der Welterkenntnis – es sei die Vernullung der Unendlichkeit. Seine Gemütsverfassung sei die eines Märtyrers: Er leide an Gehirnfeuerwerk, verzehre sich im[424] Leuchten gleich einer Kerze – wie das eigentlich schon sein Name andeute: er sei ein Flammender – und sei bald ausgebrannt.
Weil diese Schreibweise krankhaft erschien, richtete der Musikstudent eine Anfrage an Frau Chevalier, wo Wendelin zur Miete wohnte. Die Antwort lautete: Herr Flammer sei ein guter Mensch, zerrütte aber seine Nerven durch Ueberarbeit und verschrobene Lebensweise. Die Nacht durch werde studiert, vormittags die Universität besucht, mittags geschlafen. Neulich habe sich ein Polizist erkundigt, was für ein Mensch der Flammer sei. Dann habe man ihn in Gewahrsam nehmen müssen, weil er auf belebter Straße vor einer Schauspielerin schwärmerisch aufs Knie gefallen sei. Und des weitern habe er sich auffällig gemacht durch das Zeitungs-Inserat: »Mathematiker, Zahlenmystiker sucht Aufenthalt in einem Kloster, wo man ihn ungeschoren läßt.«
»Ein Anfall von Tobsucht« – so schrieb Frau Chevalier – »ließ es geboten erscheinen, den armen Menschen in eine Irrenanstalt zu überführen. Um ihn gefügig zu machen, redeten wir ihm vor, auf sein Inserat habe sich ein Kloster gemeldet. Nebst einem Wärter begleitete ihn mein Mann nach Zürich und hinauf zum Burghölzli. Die Aussicht auf den Seee und die fernen Gletscher entzückten den Irren, daß er singend in die Anstalt einzog. Er hielt sie für das erwünschte Kloster, ließ sich auch nicht warnen durch herausschallendes Gekreisch eines Wahnsinnigen. Als die eiserne Gittertür hinter ihm klirrend ins Schloß fiel, zuckte er zusammen und wandte sich um. Meinem Mann ist unvergeßlich sein bestürzter Blick – dann hatten ihn zwei Wärter an den Armen gefaßt und führten ihn ab.«
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