Zum fidelen Bierhuhn

[394] Neumann, eine germanische Gestalt mit keckem Gesicht, das durch einen Schmiß gezeichnet war, übernahm die Führung in eine Weißbierkneipe, »Zum fidelen Bierhuhn« benannt. Vollgequalmt war sie und hauptsächlich von Studenten besucht. Flotte Kellnerinnen bedienten, trällerten oder plauderten mit den Gästen. Auf unpolierten, gescheuerten Tischen standen Glashumpen mit dem goldigen Weißbier.. Für gewöhnlich tranken ein paar Tischgenossen aus dem gleichen Kübel. Mancher, dem das Gebräu zu sauer oder zu dünn war, nippte dazu ein Gläschen Pfefferminz- oder Kümmelschnaps. Es gab auch Lichtenhainer; Hainlin kannte bereits dies harmlose Gesöff, das nach seiner Meinung wie geräucherte Buttermilch schmeckt; man trinkt es aus hölzernen Deckelkannen.

Neumann, von den Kellnerinnen wie ein Stammgast begrüßt, steuerte auf einen Tisch los, der soeben frei wurde, lud Hainlin und Burdinski ein, Platz zu nehmen, und setzte sich nebst seinem Leibfuchs, wie er den jungen Studenten nannte, der ihn begleitet hatte. Die beiden bestellten Lichtenhainer nebst Kümmelschnaps, Hainlin und Burdinski je ein Glas Lagerbier. Und dann sahen sie sich um. Vom Qualm, den die Studenten aus Zigarren und langen Pfeifen pafften, war das ganze Bild umnebelt. Fast jeder Tisch besetzt von Karten- und Würfelspielern, die sich aufgeregt gebärdeten und Kraftausdrücke liebten. Aus[395] Lederbechern wurde geknobelt, es rasselten und klapperten die Würfel, Skatkarten wurden knallend auf den Tisch gehauen, als wäre hier eine Reiterschlacht.

»Michel, meinhe – herrlicher Held!« krächzte eine kurzatmige, greisenhafte Stimme, ein Buckliger kam auf Neumann zugetorkelt. Daß er Student war, zeigte das bunte Band auf seiner Weste. Die schwimmenden, etwas listigen Augen hinter dem schief sitzenden Kneifer, das schlaffe, bleiche Gesicht, das süßliche Lächeln unter dem dünnen Schnurrbärtchen verrieten, daß er widerstandslos im Kneipendusel trieb. Die kurze, wenn auch langbeinige Gestalt suchte er hochzurecken und seinen Buckel durch den locker hängenden Gehrock zu bemänteln.

»Mein Name is Hildebrandt,« stellte er sich vor, Neumann fügte hinzu: »Vulgo Perkeo!« Der Bucklige war, um sich anzuvettern, einer unterwürfigen Höflichkeit beflissen und einer Witzelei, die durch Augenzwinkern und meckerndes Gelächter noch gehoben werden sollte. »Michel,« raunte er Neumann zu, unter bewundernden Blicken – »sei mein rettender Engel! Die Rauhbeine drüben wollen mich besoffen machen – un es fehlt nich viel, so bin ich's. Aber Schna – Schnaps, den mag ich heut nich mehr – es sei denn, daß mir Michel – mein herrlicher Held, ein Glas Lu – Luft spendiert – mähähä!«

»Dicke Emmi!« rief Neumann, »einen großen Pfefferminz – für unseren Perkeo!« Wie dies Wort laut wurde, stimmte eine skatende Gruppe das Lied an: »Das war der Zwerg Perkeo – im Heidelberger Schloß ...«

»Maul jehalten, Füchse!« schnauzte der Bucklige, und wie Emmi den Schnaps brachte, legte er schmachtend seinen Arm um die aufgeschwemmte Kneipenschönheit: »Versüße mein Feuerwasser, indem dein Rosenmündchen – mähä – davon nippt!« – Emmi lachte dumm, leerte das Glas auf einen Zug – und holte[396] ein neues. »Dazu 'n Lichtenhainer!« rief ihr der Bucklige nach – »ach ja, Michel, ich muß mich nüchtern saufen – von morjen ab heißt's Pandekten büffeln. Mein Alter hat mir Ultimatum jestellt – wenn ich bis dahin nich meinen Referendar jedeichselt habe, zieht er seine Hand von mir ab ... Auf Ehre, Michel! Brauchst nich zu jrinsen! Wetten, daß? Uebrijens, wo kommste her?? Siehst so politisch aus. Haste wieder 'ne Philippika jeschwungen in der Volksversammlung? Immer feste, Mensch! Schaff' uns den Mosaik vom Halse! Diesen – Fremdkörper in Jermanias Leibe ... Nich gelächelt, Herrschaften! Es is so! Wir Jermanen ...« Hier brach er seine Rede ab, weil er selbst im Dusel merkte, wie an Nachbartischen gefeixt wurde über den Rassenstolz des buckligen Schwächlings. – »Hätten wir recht viele deines Schlages,« erklärte Neumann, – »ja dann wäre unser Germanenvolk fein raus – Prost, Perkeo!« Ins hohle Gelächter der nächsten Tische stimmte der Bucklige sauer ein: »Mähähä!« Gleich darauf erhob er sich und wankte mit seiner Holzkanne zu einer Kartenspielergruppe.

Raunend wandte sich Burdinski an Hainlin: »Was sollen wir hier?« Neumann hatte die Worte vernommen: »Warum nich auch mal mit den Wölfen heulen? mit den Schweinen grunzen, wie?« – »Na ja!« knurrte Burdinski – »es kommt drauf an, was man für Ansprüche macht. Mag sein, ich bin zu wählerisch.« – Neumann hielt es für geraten, diese geringschätzige Bemerkung des Schustergesellen zu überhören, und wandte sich an Hainlin: »Man will doch auch mal 'n bißchen ausspannen – he? sich gehen lassen!« – Hainlin zuckte die Achsel: »Wie mr's nimmt! Auf recht unterschiedliche Art lassen sich die Leute gehn. Wollen Sie diese Art begünstigen?«

»Ja un jlouben Sie,« setzte Burdinski mit Schärfe ein, »daß aus Döitschland was Tüchtijes wird, wenn die studierende[397] Jugend ihre Muße nich jäistvoller zu verleben wäiß als in Bier- und Schnapsdusel, bäi Knobelbecher un Kellnerinnenjesindel?« – »Ach was!« sagte Neumann stirnrunzelnd, »heulmeiern Sie nicht! Man muß diese Dinge mit Humor nehmen – nich mit Schulmeisterei!« – »Humor?« entgegnete Burdinski – »nennen Sie das Humor, wenn diese fidelen Bierhühner Stumpfsinn für Jugendglück halten? Sie sprechen von Heulmeierei – ich aber erkläre Ihnen: Was unser Vaterland zerrüttet, is die Saufmeierei der tonangebenden Jugend un ihre faule Kraftmeierei, ja faule! Denn ihren Männerstolz kehren sie nach unten heraus, nich nach oben, vielmehr ducken sie sich vor ihren Vorjesetzten als jesinnungslose Streber. Auf die Juden wird jeschimpft. Na ja! Aber der Jude söift nich – un is käin Jewaltprotz.«

Neumann winkte ab und lächelte spöttisch: »Ereifern Sie sich nicht! Wenn der Jude nicht säuft, geschieht es einfach, weil er keinen Stiebel vertragen kann. Wir Germanen sind anders – wir begeistern uns gern ...« – »In der Knäipe!« warf Burdinski dazwischen. – »Alle Begeisterung is ne Art Rausch,« fuhr Neumann unbeirrt fort – doch Burdinski versetzte: »Aber Rausch noch käine Bejäisterung!«


*


Hainlins Aufmerksamkeit wurde plötzlich in Anspruch genommen durch einen Gast, der eintrat. Seine Gesichtsbildung erinnerte an Wendelin Flammer – nur daß die Augen hinter einem grauglasigen Kneifer versteckt waren und die Züge nichts Klares hatten, sondern etwas flackernd Unrastiges. War's Fieber oder Ausschlag, was Stirn und Wange rotfleckig machte? Als Hainlins Auge dem des jungen Mannes begegnete, schien dieser zu stutzen – vielleicht beunruhigte ihn der prüfende Blick. Er ging in die entfernte Ecke des Lokals, wo ein leerer Tisch stand, hängte[398] seinen Schlapphut an den Haken und nahm Platz. Ein paarmal lugte er verstohlen herüber. Hainlin überlegte, ob das Wendelin sein könne. Nein, das Alter konnte nicht stimmen – dieser Mensch mit dem gewölbten Rücken und schon gelichteten Stirnhaar mußte mindestens fünf Jahre älter sein als Wendelin. Jetzt ging die dicke Emmi trällernd auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Herr Neumann,« sagte Hainlin, »würden Sie mir den Gefallen erweisen, die Kellnerin da drüben unauffällig zu fragen, ob sie den jungen Mann kennt, mit dem sie spricht? Er kommt mir bekannt vor.« Neumann nickte zustimmend, und wie jetzt Emmi kam, winkte er sie herbei: »Wer ist der junge Mann, den Sie eben begrüßten?« – »Der? Wir nennen ihn den Klosterbruder – det is 'n entsprungener Mönch

Hainlin fuhr empor und ging hastig auf den Menschen los. Auch dieser erhob sich, staunend streckten die beiden einander die Hand entgegen: »Wendelin!« – »Herr Kandidat! I han glei gstutzt – aber Ihr großer Bart ...« – »Auch du, Wendelin, bischt – arg verändert! Geht's dir gsundheitlich net guet?« – Wendelins fahles Gesicht errötete leicht, die matten, etwas entzündeten Augen hinter dem dunklen Kneifer flackerten wirr. Er zuckte die Achseln, stumm bebten ihm die Lippen.

»Setzen wir uns!« sagte Hainlin. Aber da stand Burdinski bei ihm, den Mantel an: »Willscht gehe? Also! Ond wenn dir ebbes Onannehmliches passiere sollt – wege der Auflösung, gelt, du? Na kommscht zu mir!« Burdinski ging.

Wendelin Flammer hatte sich derart gesetzt, daß man sein Gesicht nicht beobachten konnte – den Kneifer abgenommen – voll Tränen standen ihm die Augen. »Waas hascht?« fragte Hainlin bestürzt – und Wendelin schluchzte: »Oh – warum – warum han i net – Sie behalte dürfe, Sie als[399] väterlichen Freund? 's wär halt anders worde mit mir! Aber so einsam, so beistandslos wie onsereins hat müssen 's Leben führen.« Wendelin beugte sich ganz nieder. »Den Vatter han i net kennt, ond's Mütterle ischt au so früh gstorbe. Wer hat sich da unser ahngnomme? Dr Uli hat's Piale lieb ghätt – ischt mei Freund worde – ond Sie, Herr Kandidat, hänt Ihre Teilnahme für Uli auf uns übertrage. Was Sie Guets an mir ond an Pia tan hänt, dees kann i net sage, gschweige vergelte. Aber's Irdische hat net Bestand – so hänt Sie fortmüsse von Tübinge, ond oh, mei liaber Kandidat! Warum hat's Schicksal Sie von uns grisse! Menschliche Stumpfheit und Tücke ischt schuld. Die Guten werden vertrieben, nausgbissen von den Gemeinen – ond dees ischt mei Gram. An einen Herrgott droben kann i nimmer glaube! So bleibt mir nicks, gar nicks!« Verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht.

»Aber, Wendelin!« begütigte Hainlin, die Hand auf seinen Arm gelegt – »net so! Warum denn mutlos?« – »I tu mi schäme! Bin zu tief gsunke!« – »Du bischt der alte! Bischt mei braver ...« – Schmerzlich schüttelte Wendelin den Kopf: »Hihn ischt mei Kern! Verdorbe bin i an Leib ond Seel!« Schluchzend warf er den Kopf über die aufgelegten Arme – Hainlin bemerkte, wie dünn ihm das Haupthaar, wie hager der Nacken geworden war. Und obwohl er das Trostwort gesprochen hatte, Wendelin sei der alte, empfand er mit Erschütterung, daß aus dem frischen, reinen, mädchenhaft hübschen Knaben ein verwüsteter Schwächling geworden war.

Da jetzt Neumann kam, rüttelte Hainlin den Zusammengesunkenen: »'s kommt ebber! Laß di net gehe'!« Das half, Wendelin richtete sich auf. Neumann wollte sich bloß empfehlen – es geschah in kurzer Höflichkeit. Und nun konnten die Tübinger Freunde ihre Aussprache fortsetzen: »Wendelin! Ist es[400] wahr, was die Kellnerin sagt, du seiest im Kloster gewesen und entsprungen?« – »Der Ausdruck ist zu romanhaft – i bin halt gange, ond jetzt leb i weltlich.« – »Wie denn? Wovon?« – »Als Korrektor für en wissenschaftlichen Verlag – lateinische, griechische, mathematische Werke tu i korrigiere. Werd net grad schlecht bezahlt – nur daß die Arbeit meine Augen ahngriffen hat und meine Nerven – i leid an Sehstörung und Kopfschmerz – der Arzt meint, e Badekur würd mir gut tun. Etwa in Aachen. Da könnt i zugleich auf dem Polytechnikum studiere, gelt? Bloß schad, daß i aus'm Kloschter ohne Abschluß-Prüfung fort bin! Um net bloß Hörer, sondern Studierender zu sein und später 's Staatsexamen machen zu können, muß mr's Abiturium haben. Ja, wenn sich dees noch jetzt schaffe ließ! Zom Pauken aber langt mei Kraft net.«

Wendelin goß den Schnaps, den die Kellnerin gebracht hatte, auf einen Zug hinunter. Und schwermütig abwinkend: »I han koi Lebensmuet. Verpfuscht bin i, 's Kloschter hat mi verdorbe. Da tut mr den Zögling gängele. Weh ihm alsdann, wenn er den Sprung ins Freie wagt! In die Welt tut er net passe, ond im Kloschter hat er's Daheim verlore. I weuß net, soll i zum Himmel halte oder zur Erd. Net Vogel bin i, net Maus – bin e Fledermaus, wo bei Tag sich verkriecht, nachts aber umhergeischtet – bloß daß bei mir der Geischt nicks mähr taugt – e Ruine bin i! Net mal, daß i die Kraft hab, meine jetzige Berufsarbeit zu tun – nachlässik bin i, verlottert – an Schlaffheit leid i, verrückt bin i, nicks bin i!« Und den Kopf in die Hand gestützt, brütete Wendelin ratlos vor sich hin.

Daß es an der Zeit sei, die Aussprache für diesmal abzubrechen, bekundete die Situation, die jetzt im »Fidelen Bierhuhn« Platz griff. Nach der Melodie »Heil dir im Siegerkranz« gröhlten seßhafte Kneipbrüder »Wir konzentrieren uns«[401] – um den runden Mitteltisch nahm man Platz und suchte die Widerstandskraft gegen den Alkohol noch einmal aufzupeitschen, indem man schneidig anstimmte: »Und wenn sich der Schwarm verlaufen hat um die mitternächtliche Stunde.« Unter Gelächter wurde eine Gestalt emporgehoben, samt dem Stuhl, auf dem sie saß: der bucklige Perkeo. In Erhabenheit, den Tisch zum Sockel, thronte er als Mittelpunkt seiner Sippschaft. In der herabhängenden Rechten die Holzkanne, aus der die Neige troff, weidete er sich am Ringelreihen, den die Studenten mit den Kellnerinnen um ihn drehten: »Das war der Zwerg Perkeo im Heidelberger Schloß,« ging der Gesang, und der Bucklige, dem einer sein Schnapsglas reichte, hob es mit blödem Lächeln und lallte: »Wärt ihr wie ich doch alle feuchtfröhlich und gescheit!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 394-402.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Bozena

Bozena

Die schöne Böhmin Bozena steht als Magd in den Diensten eines wohlhabenden Weinhändlers und kümmert sich um dessen Tochter Rosa. Eine kleine Verfehlung hat tragische Folgen, die Bozena erhobenen Hauptes trägt.

162 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon