Veränderte Scene.

[184] Oede Gebirgsgegend.


FAUST auf der Wanderung. Sein Geist verfolgt mich! ich erschlug ihn am Altar, dieweil er betete; sein Weib verführt' ich, dieweil er vor dem steinernen Bilde des Gekreuzigten sich verblutete. Wie viele hab' ich nun erschlagen? Und die Erinnerungen (selbst die frühen reinen in Blut getaucht) steigen auf wie grimme Geister! – Ich kann nicht weiter; meine Füße knicken; mein todtmüder Leib bricht zusammen. Herbstlich kalt die Nacht; schon erwacht[184] der Sturm; nirgends ein Obdach, als Baum und Busch. Wie lang, o wie lange ist es her, daß mich kein gastlicher Heerd aufnahm? Was ist dies? Mein Kopf stößt sich an ein Gemäuer, eine alte verfallene Klosterkirche? Hu, Kirche! Wär's lieber ein altes Ritter-, Hexen-, Zauber-, Geisterschloß! Wie tapp' ich nun in der Finsterniß nach einem Eingang! Halt, da ist eine Oeffnung. Wer bürgt mir aber, daß ich nicht in ein grauses Verließ hinabstürze, daß ich dort unten in grausiger Tiefe halbzerschmettert langsam mein Leben aushauche? Dein Leben? Elender! Ha, so stürze Dich mit Wollust hinab, dreihundert Klaftern tief in die entsetzliche Kluft; denn nie gab es eine Menschen seele, welcher das Leben ein grimmigerer Feind und Verfolger war!


Er kriecht in die Oeffnung.


Das scheint keine Felsschlucht; ein verfallenes Gemach scheint es zu sein. Fänd' ich hier etwas Stroh, um die zermorschten Glieder nur noch eine müde Nacht zu strecken, vielleicht die letzte!


Legt sich nieder.


Ein hartes Lager für einen, dem das Leben gichterisch-tödtend durch alles Gebein zuckt! Kalter Stein; etwas moderfeucht. Mich friert; nun, so wärme Du mich, mein luftig spanisch Mäntelchen! Süßer Traum, süßer Nachttraum, komm; beglücke mich zum letzten,[185] zum allerletzten Mal. O viel lieber möcht' ich rufen: Süßer Tod! – – Wenn nur nicht – – –


Er schläft ein.


GEISTERSTIMMEN in einiger Ferne.

Lustig wenn im grünen Maien

Flur mit Blüthen sich bekränzt,

Wenn die Abendröthe golden

Auf den fernen Hügeln glänzt;

Lustig, wenn die Hörner blasen

Lichtbeschwingte Melodieen,

Und die aufgeschürzten Mädchen

Nach der grünen Wiese ziehn.

Grüß Euch Gott, Ihr lichten Matten!

Grüß dich Gott, Du neue Welt!

Grüß Dich Gott, Du frische Jugend

Unter purpurnem Gezelt!

Deine Tempel locken wieder,

Liebenswerthe Priesterschaar!

Himmelswolken Deine Decke,

Baum Dein duftender Altar!

STIMMEN DES ECHOS in der Ruine um den Schlafenden. Altar! Altar! Altar!


Gesang fährt fort.


»Und ein Duften ist ergossen,

Quellend aus geweihtem Grund,

[186] Schließend mit des Himmels Flammen

Zauberischen Liebesbund.«

Und die armen Kranken kommen,

Lagern sich im heil'gen Rund,

Und sie macht des Duftes Wehn,

Macht der süße Strahl gesund.


Ach, ein wonnevolles Bangen,

Wo der Andacht Flügel weilt,

Wo ein milder Gottesengel

Unsichtbar Gebrechen heilt!

O der seligen Entbehrung,

Wenn die Schmerzen sind befreit!

O der lieblichen Gewährung,

Wenn die Herzen sind erneut!


Und des Tempels heilige Wölbung

Wird zum freien Lustgefild,

Freistatt der beglückten Herzen

Wird von Melodie erfüllt.

Treue Lieb' braucht keine Weile,

Findet sich auf weitem Plan,

Liebend Paar in stiller Eile

Schließt sich eins dem andern an.


Grüß Dich Gott, Du Schaar der Freude!

Liebliche, Dein Dichter naht.

Deine Spur hat er gefunden,

Ewig folgt er Deinem Pfad,[187]

Deiner Wonnen, Deiner Tänze

Will er stiller Zeuge sein,

Und er hüllt Dein heitres Leben

Sanft in seine Schwermuth ein.


Sieh, da wird's zum frohen Bilde,

Das im Dämmerlichte glüht!

Horch, da wird's zum süßen Liede,

Das der leise Schmerz durchzieht! –

Und Du neigst Dich seiner Stimme,

Wenn es einstmals Dir erklingt,

Wenn es auf erstorbnen Fluren

Dir von Deinem Frühling singt.


Gesang schweigt.


FAUST im Schlafe nachlallend.

Wenn es auf erstorbnen Fluren

Dir von Deinem Frühling singt. –


Frühling! Frühling! Giebt's denn einen Frühling? Ja, ich finde mich wieder auf der Blumenwiese; ich breche die Blumen, ich zerpflücke in meiner Hand die goldnen Sterne; Dir, Holdeste, streu' ich sie in Deinen Schooß! Cäcilie, Cäcilie, reines süßes Kind! Da kommt der Moder gleich dazwischen – in der Gruft Kröte und Schlange – Wiese wird zum Kirchhof – lichte Blume zum dunklen salpetrigen Gestein! – Wehe, wehe, und die Blutmaske steigt auf, und die ganze Natur erhebt sich; Welt stürzt zusammen, Himmel fällt über mich. – Heiland, wer regt sich hier[188] neben mir? Welch' kalte Hand faßt mir über's Angesicht? Springt schaudernd auf. In der Hölle Namen, Genosse dieses kalten Lagers, Genosse der Finsterniß – – wer bist Du!

STIMME neben Faust. Laß mich einmal schlafen; ich bin Ahasverus!

FAUST. Des Heilands Mörder?

STIMME. Ahasverus, sag' ich, Ahasverus!

FAUST. Verfluchter, weich' von meiner Seite!

STIMME. Von der meinigen weiche, Du dreimal Verfluchter!

FAUST. Lüge, teuflischere Lüge! Nicht zur Hälfte bin ich verdammt wie Du. Du hast den Heiland verstoßen vor Deiner Thür!

STIMME. Lüge, noch teuflischere Lüge! Ich werde den Heiland finden dereinst. Du kannst ihn nicht finden, Faust, Faustchen, Faustlein, Faustulus, armseliger Homunculus, Du kannst ihn nimmermehr finden! Denk' an den Guckkasten! Denk' an den Amazonenstrom! Denk' an das Vampyrbild Amanda! Denk' an Rom und die Lagune! –[189]

FAUST. Verfluchter ewiger Jude! unwürdigster aller bärtigen Greise, ich sage Dir, ich kann ihn finden. Auf einem Gebirg, nicht mehr weit von hier, steht die unsichtbare Kirche, in welche die verlornen Kinder berufen werden durch ein unsichtbares Glockenläuten; dorthin wandl' ich, gehe hinein zur engen Pforte, falle nieder vor Gott und seinem Sohn. Beide sind gnädig. Hosianna, gnädig ist unser Gott, geduldig, langmüthig und von großer Güte! Es wird Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße thut. Ich werde den Heiland finden, Ahasverus.

AHASVERUS. Nein, nein, Faust. Natur herrscht über Dir immer und ewiglich; in der Natur Satanas. Kannst Du die Natur lassen, Faust? Kann Natur Dich lassen? Nimmermehr, Du wirst den Heiland nicht finden!

FAUST. Du bist der ewige Jude. Weißt Du nicht, daß Du den Heiland ewig suchen mußt?

AHASVERUS. Du bist der ewige Zweifler. Weißt Du nicht, daß Du ewiglich an dem Heiland zweifeln mußt?

FAUST. Laß mich Dein Angesicht schauen, Jude![190]

AHASVERUS. Es ist kein Licht hier, Alles dunkel. –

FAUST. Wie unser Beider Leben. – Warum endigen wir es nicht?

AHASVERUS. Wir können es nicht. Das thut Jehovah Zebaoth, der Gott Israels!

FAUST. Nicht Jehova; es thut's bei Dir der grause Fluch!

AHASVERUS. Es thut's bei Dir des Erdgeists grimme Macht. Wir Beide werden nicht sterben.

FAUST. Ich muß Dein Antlitz schauen! Könnt' ich doch aus diesen Steinen Funken schlagen!

AHASVERUS. Sieh dorthin, Faust, ein Leuchten dringt herauf.


Satan's Angesicht erscheint in der Tiefe.


SATAN. Mir ist Ihr Wunsch zu Ohren gekommen, meine Herren; Sie begehren stark, einander von Angesicht zu schauen. Bei Himmels Licht ist dies nicht wohl möglich und thunlich; es thut's halt nimmermehr; aber bei meinem Licht wird's sich machen. Nun, so betrachten Sie Sich in Mephisto's Namen, so lange es Ihnen beliebt; ich hab' Zeit und Geduld. Studiren[191] Sie meinethalben den ganzen Weltfluch heraus aus Ihren Runzeln und Leberflecken; ich werde so frei sein und Ihnen leuchten. Zu guter Letzt bezahlt Ihr mir doch Beide die Mühe.


Ein junger Herr erscheint mit Backenbart und Castorhut.


JUNGER HERR. Um Vergebung infernalische Hoheit, ein solches Schicksal wäre vielleicht bei dem Herrn Fausto, auf welchen ich Zeit meines jugendlichen Lebens nicht allzuviel gehalten, möglich; allein bei meinem lieben Freund, dem Herrn Ahasver, dem charmanten, lieben, coulanten ewigen Herrn Juden, ist dies in der That – bei vorwaltenden Literaturinteressen der aufklärungsvollen Gegenwart – ganz unmöglich. Es thut's nicht; das gute Herz gestattet's nicht! Wofür hätten wir reflectirt, poetisirt, kritisirt, liberalisirt, emancipirt? Wofür hätten wir schöne Damen, welche Soiréen geben, vertraut gemacht mit dem Talmud und mit der Beschneidung? Wofür lebten ich und dieser, und jener und derjenige, und jenerselbige und dieserjenige in der Fülle oder Nichtfülle unsrer jugendlichen Kräfte? Wofür wären ich und mein Intimus, wir beiden zartempfindenden Hegelings-Dioskuren, die Welt durchwandert von Pankow bis Helgoland, in aufklärungsdürftiger Raserei:

[192] Ceu duo nubigenae quum vortice montis ab alto Descendunt Centauri!

Wofür hätten wir denn, wir Weltlumina alle, einmal in einer champagnerseligen Ostermeßwoche selig einander die Hände gereicht und geschworen, zu ignoriren, ja, Herr Satanas, zu ignoriren, Alles, was Genie hat, außer uns; zu tauchen in den entsetzlichen Lethestrom ewigster Vergessenheit Alles, was nicht mitemancipiren will in der trägen, weltschmerzhaften, aber dennoch frauen-frühlingsduftigen Gegenwart; nicht mit emancipiren will – die Juden und die Judenjungen, und die Frauen und die Hetären, und die Egoisten und die Aufgeblasenen, und die Narren und die Dümmlinge? Wofür, um es mit einem einzigen Wort zu sagen – – – – – – – –


Junger Herr verschwindet plötzlich, ohne dies einzige Wort gesagt zu haben.


FAUST. Ahasverus, Deine Züge dünken mich so fern und fremd und uraltvorsündfluthlich, und doch auch so bekannt, so welt- und mir-bekannt. Aber sehr alt bist Du, Ahasverus; mich däucht, schon bemoost sich dein Augenlied, und auf Deiner Nase keimt Schimmel. Wo hast Du Deinen langen Bart, Jude?

AHASVERUS. Den haben mir die Emancipirjünglinge über Nacht abgeschnitten. Ich soll die Mode mitmachen;[193] ich soll ewig sein, aber auf jung- deutsch ohne Bart. Was Dich betrifft, Faust, Du scheinst so jung und bist so welk.

FAUST. Das that der Zweifel, Jude. Dich alterte Unglaube, mich der Zweifel.

AHASVERUS. Du irrst, Faust. Der Zweifel altert nicht, aber der Siroccohauch des Naturgotts Dionysos und die Frauen. Ach die Frauen! Sie richten in den Angesichtern der Jünglinge eine solche grausige Verheerung an.

FAUST. Natur, immer Natur! Warum Jude, frischest Du in meinem zerstörten Gedächtniß ewig diese Erinnerung auf? Ach und dennoch ist die Natur so süß, so weihevoll und selig, so traumhaft, unwiderstehlich! – O Natur, grausige Medea, warum vergiftest Du Deiner Kinderliebste mit der Milch Deiner Brüste? Kannst Du mir sagen, Ahasverus, was Leben ist?

AHASVERUS. Ach kann es, Faust, ich kann's am besten. – Leben ist das Schrecklichste der Schrecken: eines Wanderns Ewigkeit.

FAUST. Mehr als dies, Jude: eine ewig marternde Versuchung.[194]

AHASVERUS. Versuchung? Wurm, warum läßt Du Dich versuchen? Mich, den Unseligwandernden, ficht kein Versucher an und keiner Sünde Maienblüthe. Nur Ruhe, Ruhe, das ist mein ewig Dursten.

FAUST. Laß uns vereint die unsichtbare Kirche suchen, Ahasver. Mich dünkt, ich höre schon das Läuten.

AHASVERUS. Ich weiß von keiner Kirche, Faust; nur Ruhe, Ruhe in meinem Grab.

SATAN im Verschwinden. Was kümmert mich Dein Grab? Find' es, oder find' es nicht, alter bemooster Judengreis! Aber, daß Er die Kirche nicht erschaue, und das Glockengeläut, wovon er faselt, nimmer vernehme, dafür ist gesorgt. Erkennst Du dies, Faust? Erkennst Du die Blutthat der Lagunen? Wo ist nun Fiordiligi?


Verschwindet.


FAUST. Wehe, wehe, das ist meine Seele, meine arme Seele in Blut und Feuerflammen, unrettbar verloren! Hinaus, hinaus, verschlinge mich, uralte Nacht! Folge mir nicht, Ahasverus; ich bin unseliger, als Du! –

STIMMEN über dem Hinauseilenden schwebend.

So lästerst, Armer, Du, und willst in schnödem Wahnsinn[195]

Das heilig-lichte Kreuz mit Juda's Gott verschmelzen?

Kreuz ist das ew'ge Lichtsymbol, Verlorner Du!

Doch Kreuz ist auch Erbarmung, mütterlich- unendliche;

Die nimmt den Geist in ihren hehren Himmel auf,

Wenn Leib zertrümmert; denn die Seele nur zerstöret Satanas –

Geist aber, unverderblich, er erkämpft den letzten Sieg.


Quelle:
Marlow, F. [d.i. Ludwig Hermann Wolfram]: Faust. Ein dramatisches Gedicht in drei Abschnitten, Neu herausgegeben und mit einer biographischen Einleitung versehen von Otto Neurath, II. Teil: Text des Faust, Berlin [1906], S. 184-196.
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