Veränderte Scene.

[177] Ein alterthümlich-ländliches Gemach.

Die alte Großmutter und ihr Enkel.


GROSSMUTTER. Mein Sohn, lies weiter! Das kann Fausti letztes End' nicht sein. Die Geschichte ist noch nicht aus. Es kommt noch ein Capitel.

ENKEL. Großmutter, das ist so schaurig. Draußen heult der Sturm so schrecklich. Will wohl gern weiter lesen; sollt's aber nit erst ein Stück aus der Bibel sein?

GROSSMUTTER. Das soll's sein, mein herzig Kind! Schlag' auf Dein neu Testamentum; wie da geschrieben steht im schönen Evangelio Sancti Johannis, da ließ gleich Capitel zwölf und was da weiter folgt.

ENKEL liest. »Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch: Es sei denn, daß das Weizenkorn auf die Erde falle und ersterbe, so[177] bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte. Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren, und wer sein Leben auf dieser Welt hasset, der wird es erhalten zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach, und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen: Vater, hilf mir aus dieser Stunde: doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verkläre Deinen Namen! – Da kam eine Stimme aus dem Himel: Ich habe ihn verklärt und will ihn abermals verklären.« – Soll's nun genug sein, Großmutter? Mir ist leichter zu Herzen; wie die selige Mutter sagte: »Nun ist Dein Engel wieder bei Dir.« –

GROSSMUTTER singt.

Wachet auf, ruft uns die Stimme,

Der Wächter sehr hoch auf der Zinne:

Verlaßt die kalte Todtengruft!

Wachet auf, erlöste Sünder!

Versammelt Euch, ihr Gotteskinder!

Der Welten Herr ist's, der Euch ruft.

Des Todes stille Nacht

Ist nun vorbei; erwacht!

Gelobt sei Gott!

Macht Euch bereit

Zur Ewigkeit;

Sein Tag, sein großer Tag ist da![178]

Erd' und Meer und Felsen beben,

Die Frommen stehen auf zum Leben,

Zum neuen Leben stehn sie auf!

Der Bräut'gam kommt vom Himmel prächtig,

An Gnaden groß, an Klarheit mächtig,

Ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf.

Licht ist um Deinen Thron,

Und Leben, Gottes Sohn!

Gelobt sei Gott!

Erlöser Dir,

Dir folgen wir

Zu Deines Vaters Herrlichkeit! –


Quelle:
Marlow, F. [d.i. Ludwig Hermann Wolfram]: Faust. Ein dramatisches Gedicht in drei Abschnitten, Neu herausgegeben und mit einer biographischen Einleitung versehen von Otto Neurath, II. Teil: Text des Faust, Berlin [1906], S. 177-179.
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