85. Auf seiner Gemahlin 29sten Geburts-Tag

[234] 1729.


Herr Jesu! hier ist eine Schaar versamlet,

Die beten, und zugleich gebieten kan;

Denn also ist die Kraft, gleichwie der Mann:

Und ob dabey die äußre Zunge stammlet,

So ist der innre Mensch ein kühner Held,

Der sich getrost dem Herrn vors Herze stellt.


Dein Name wird hier munter angeschrien,

Dein Herze wird zu uns hinab gerükt,

Dein Geist wird gegen unsern Geist verzükt,

Die Liebe läßt sich gerne niederziehen,

Man ist es so an ihrer Art gewohnt,

Seitdem sie mitten unter uns gethront.


Komm, Lieber! komm, und giesse Deine Schätze

Auf unsre Schwester, Erdmuth Dorothee;

Gib ihr, daß sie aus Kraft in Kräfte geh,

Und sich durch Dich bald über alles setze;

Gib ihr, daß sie sich Deiner freuen mag,

Und mache ihr den Tag zum Ruhe-Tag!


Es ist uns Ernst um dieser Seele willen:

Wir lieben sie und ihre Hütte auch.

Bey unserm Ernst ist Deinerseits der Brauch,

Daß Du ihn pflegst in Gnaden zu erfüllen.

Hie hast Du sie nach Geiste, Seel und Leib,

Wir woll'n, daß alles noch beysammen bleib'!
[234]

Du hast ihr erst ein Pfand der Treu genommen,

Sie küssete mit Thränen diesen Ruf;

Sie wußte wohl, daß, der die Seele schuf,

Auch Macht hat, daß Er sie läßt wiederkommen,

Sie hätte Dirs auch mit der Zeit vergönnt,

Wenn sie es erst zu Wucher angewendt.


Da hast Du es: die Zeit war nicht vorhanden,

Daß man es hätt zum Wechsler ausgethan;

Nims immerhin zu allen Gnaden an,

So eilig kan mans nicht in unsren Landen.

Weißst aber Du, was mit zu machen sey;

So wuchre selbst damit, Du hast es frey.


Nur schenke uns die zwey geliebten Kinder,

Die Du uns schon auf Tag und Jahre gönnst,

Daß Du sie eh nicht von der Hütte trennst,

Bis daß sie erst des Fleisches Ueberwinder,

Und in der That, sie seyn gleich groß und klein,

Der Erst-Geburt im Geist theilhaftig seyn.


Der Gräfin Mann, den unsere Gemeine

Ganz brüderlich im Geist gefasset hat,

Dem gib in Deinem Herzen eine Statt,

Damit sein Licht recht brenne und recht scheine;

Und wilst Du, daß sich Dein Der Sünder rühm,

So findest Du ja Sünders gnug an ihm.


O unser Freund! o König unsrer Herzen!

O Priester über unsern Bet-Altar!

Du lebest ja und betest immerdar,

Entzünde doch die hellen Seufzer-Kerzen,

Davon der Dampf den Gnaden-Stul erwarmt,

Bis Deine Kraft den Seufzenden umarmt.


Hier legen wir die Schwester Dir zu Füssen,

Noch mehr, wir legen sie Dir an das Herz,

Du wollest ihr der Leiden bittern Schmerz

Durch gnädige Umhalsung recht versüssen;[235]

Ja, führe sie von diesem Tage an

Auf einer ziemlich practicablen Bahn.


Du treues Herz! du Liebe ohne gleichen,

Du Ohr, das vor dem Schall der Stimme hört,

Du Auge, das sich nicht von denen kehrt,

Die Deinen Blik in Demuth einst erreichen!

Du Kraft, Du Licht, Du Manna Deiner Schaar!

Gib Dich der Schwester hin, so hat sies gar!


Quelle:
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, Band 2, Hildesheim 1964, S. 234-236.
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