|
[5] In sternenloser, finsterer Nacht schritt ein einzelner Mann durch die flache Ebene auf der Heerstraße dahin, die von Marchiennes nach Montsou führt und sich zehn Kilometer lang geradeaus durch Rübenfelder hinzieht. Er vermochte selbst den schwarzen Boden vor sich nicht zu unterscheiden und war sich des ungeheuren, flachen Horizontes nur bewußt durch das Wehen des Märzwindes, der in breiten Stößen eisig kalt dahinfuhr, nachdem er meilenweite Strecken von Sümpfen und kahlen Feldern bestrichen hatte. Kein Baumschatten hob sich vom Nachthimmel ab; die Straße zog sich mit der Regelmäßigkeit eines Dammes durch die Nacht hin, in der die Augen fast erblindeten.
Der Mann war gegen zwei Uhr von Marchiennes aufgebrochen. Er machte lange Schritte, denn ihn fröstelte in seiner Jacke von dünnem Wollenzeug und in seinem Beinkleid von Samtstoff. Sein Päckchen, das in ein kariertes Taschentuch gewickelt war, belästigte ihn sehr; er drückte es bald mit dem einen, bald mit dem anderen Arm an sich, um beide Hände zugleich in die Taschen stecken zu können, seine erstarrten Hände, die der eisige Ostwind wund geblasen hatte. Ein einziger Gedanke beschäftigte das müde Gehirn dieses arbeits- und obdachlosen Mannes: die Hoffnung, daß nach Sonnenaufgang die Kälte weniger empfindlich sein werde. Er mochte eine Stunde so dahingeschritten sein, als er zur Linken zwei Kilometer von Montsou rote Feuer wahrnahm, drei Gluthaufen im freien Felde, die gleichsam in der Luft schwebten. Zuerst zögerte er, von[5] Furcht ergriffen; dann konnte er dem schmerzlichen Bedürfnis nicht widerstehen, einen Augenblick seine Hände zu wärmen.
Der Mann betrat einen Hohlweg, der zu den Feuern führte. Alles um ihn her verschwand. Zur Linken hatte er eine Plankenwand, die einen Schienenweg abschloß, während rechts eine grasbestandene Böschung sich erhob, gekrönt von Häusergiebeln, die in der nächtlichen Finsternis verschwammen; es war das Schattenbild eines Dorfes mit niedrigen, gleichförmigen Hausdächern. Er machte ungefähr zweihundert Schritte. Plötzlich tauchten bei einer Biegung des Weges die Feuer ganz nahe wieder auf, und er begriff jetzt sowenig wie früher, wie es komme, daß sie so hoch unter dem toten Himmel brannten, rauchenden Monden gleich. Doch am Boden zog ein anderer Anblick seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war eine schwerfällige Masse, eine Gruppe niedriger Gebäude, aus deren Mitte der Schattenriß eines Fabrikschlotes aufstieg; ein Lichtschein drang aus den wenigen schmutzigen Fenstern hervor; außen hingen an Balken fünf oder sechs trübselige Laternen, deren geschwärzte Hölzer sich zu riesigen Gerüsten aneinanderreihten; von dieser phantastischen, in Nacht und Rauch getauchten Erscheinung stieg eine einzige Stimme auf: der laute und zischende Atem eines Dampfstromes, den man nicht sah.
Da erkannte der Mann, daß er sich bei einem Bergwerk befand. Abermals wurde er von Furcht ergriffen: was nützte es? Er bekam doch keine Arbeit. Anstatt seine Schritte nach den Gebäuden zu lenken, entschloß er sich endlich, den Hügel zu ersteigen, auf dem die drei Kohlenfeuer in großen, gußeisernen Körben brannten, um Licht und Wärme zu liefern. Die bei dem Abbau beschäftigten Arbeiter mußten bis in die späte Nacht am Werk gewesen sein, denn es wurde noch immer Schutt herausgefahren. Er hörte die Züge über die Gerüste rollen und unterschied lebende Schatten, die bei jedem Feuer ihre Hunde leerten.[6]
»Guten Morgen«, sagte er, als er sich einem der Feuerkörbe näherte.
Der Kärrner stand mit dem Rücken dem Feuer zugewandt; es war ein alter Mann in einer Trikotjacke von blauem Wollzeug und mit einer Mütze von Kaninchenfell; sein Pferd, ein großer, gelber Gaul, wartete unbeweglich, als sei es von Stein, bis man die sechs Karren, die es heraufgeführt, geleert hatte. Der bei der Ausleerungsvorrichtung angestellte Handlanger, ein roter, magerer Bursche, beeilte sich nicht; mit schläfriger Hand drückte er auf den Hebel. Da oben wehte der Wind noch stärker, ein eisiger Nordost, dessen breite, regelmäßige Stöße gleich Sensenstrichen vorübersausten.
»Guten Morgen«, erwiderte der Alte.
Dann trat wieder Stille ein. Der Fremdling, der sich mit mißtrauischen Blicken betrachtet wußte, sagte sogleich seinen Namen.
»Ich heiße Etienne Lantier und bin Maschinist. Gibt es hier keine Arbeit?«
Die Flammen beleuchteten ihn; er mochte einundzwanzig Jahre zählen, war sehr braun, ein hübscher Mann von kräftigem Aussehen trotz seiner kleinen Gestalt.
Der Kärrner schüttelte den Kopf; er schien jetzt beruhigt.
»Arbeit für einen Maschinisten?« sagte er. »Nein, nein ... Gestern waren auch zwei da. Es gibt keine Arbeit.«
Ein Windstoß schnitt ihm das Wort ab. Dann fragte Etienne, indem er auf die dunkle Gruppe von Gebäuden am Fuße des Hügels zeigte:
»Das ist ein Bergwerk, nicht wahr?«
Der Alte konnte nicht sogleich antworten. Ein heftiger Hustenanfall drohte ihn zu ersticken. Endlich spie er aus, und sein Speichel bildete einen schwarzen Fleck am roten Erdboden.[7]
»Ja, das Bergwerk le Voreux ... Der Ort liegt ganz nahe.«
Er wies mit ausgestrecktem Arme nach dem im Dunkel der Nacht daliegenden Dorfe, dessen Hausdächer der junge Mensch mehr geahnt als gesehen hatte. Doch die sechs Hunde waren jetzt leer; der Alte folgte ihnen ohne einen Peitschenknall mit seinen gichtsteifen Beinen, während der große, gelbe Gaul von selbst seinen Gang wieder antrat und zwischen den Schienen mühsam seine Last schleppte, von einem neuen Windstoße gepeitscht, der ihm das Fell zerzauste.
Die Grube le Voreux schien aus dem Nachtschlafe zu erwachen. Etienne, der seine armen, blutenden Hände am Kohlenfeuer wärmte, verlor sich völlig in seinen Betrachtungen und erkannte allmählich sämtliche Teile des Bergwerkes, den geteerten Schuppen des Sichtungswerkes, den Glockenstuhl des Schachtes, die geräumige Halle der Fördermaschine, den viereckigen Turm der Schöpfpumpe. Dieses Bergwerk, das in der Tiefe einer Schlucht lag, schien ihm mit seinen niedrigen Ziegelbauten, seinem wie ein drohendes Horn in die Höhe ragenden Schlot das unheilkündende Aussehen eines gierigen Raubtieres zu haben, das dahockte, um die Welt zu verschlingen. Während er es betrachtete, dachte er an sich selbst, an sein Vagabundenleben, das er seit acht Tagen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz führte. Er sah sich in seiner Eisenbahnwerkstätte, wo er seinen Vorgesetzten geohrfeigt hatte, dann aus Lille verjagt und überall vertrieben. Am Samstag war er in Marchiennes angekommen, wo er in den Eisenhütten angeblich Arbeit finden sollte; aber es war nichts, weder in den Eisenhütten noch in den Fabriken Sonnevilles; er hatte den Sonntag unter den Hölzern einer Wagnerei verborgen zugebracht, deren Aufseher ihn um zwei Uhr nachts weggejagt hatte. Er hatte nichts mehr, keinen Sou und keinen Bissen Brot; was sollte er anfangen? Ziellos irrte er auf der Heerstraße und wußte nicht, wohin er vor den Unbilden der Witterung[8] flüchten sollte. Ja, es war ein Bergwerk, die wenigen Laternen beleuchteten das Pflaster des Vorhofes; eine plötzlich geöffnete Tür gestattete ihm, die Feuer der Dampfkessel zu sehen. Er erklärte sich jetzt alles, selbst die Dampfströme der Pumpe, dieses laute, unablässige Pfeifen, das gleichsam der verschleimte Atem des Ungeheuers war.
Der Handlanger bei der Kohlenlöschhalde stand mit gekrümmtem Rücken da und warf keinen Blick auf Etienne. Dieser wollte eben sein kleines Bündel vom Boden wieder aufheben, als ein Hustenanfall die Rückkehr des Kärrners ankündigte. Man sah ihn langsam aus dem Dunkel auftauchen, gefolgt von dem gelben Gaul, der sechs volle Hunde schleppte.
»Gibt es in Montsou Fabriken?« fragte der junge Mann.
Der Alte warf wieder schwarzen Speichel aus und erwiderte dann:
»Oh, an Fabriken ist kein Mangel. Noch vor drei, vier Jahren summte und brummte es ringsumher; man konnte nicht genug Leute finden; nie gab es so guten Lohn. Aber jetzt sind wieder magere Jahre gekommen. Ein rechtes Elend ist ins Land eingezogen; man entläßt die Leute, die Werkstätten werden geschlossen, eine nach der anderen ... Es ist vielleicht nicht die Schuld des Kaisers; aber warum geht er nach Amerika, um sich dort herumzuschlagen? Dazu kommt noch, daß das Vieh an der Cholera zugrunde geht wie die Menschen.«
In kurzen Sätzen mit stockendem Atem klagten die beiden weiter. Etienne erzählte, wie er seit einer Woche vergebens Arbeit suche. Müsse man denn wirklich vor Hunger umkommen? Bald würden die Landstraßen sich mit Bettlern füllen. »Ja, ja,« meinte der Alte, »das wird bös enden. Gott kann unmöglich wollen, daß so viele Christenmenschen auf die Straße geworfen werden.«
»Man hat nicht alle Tage seinen Bissen Fleisch.«
»Wenn man nur alle Tage Brot hätte!«[9]
»Das ist wahr; wenn man nur alle Tage Brot hätte!«
Ihre Stimmen verloren sich; der Wind entführte ihre Worte mit melancholischem Gestöhn.
»Seht, dort liegt Montsou!« sagte jetzt der Kärrner laut und wandte sich nach Süden.
Wieder streckte er die Hand aus und zeigte im Dunkel auf fast unsichtbare Punkte in der Reihenfolge, wie er sie benannte. Fauvelles Zuckerfabrik in Montsou halte sich noch, Hotons Zuckerfabrik jedoch entlasse Arbeiter; Dutilleuls Müllerei und Bleuzes Seilerei hätten noch zu tun. Dann zeigte er mit einer weiten Handbewegung den halben Horizont im Norden; die Bauwerkstätten Sonnevilles hätten dieses Jahr nicht zwei Drittel ihrer sonstigen Aufträge bekommen; von den drei Hochöfen der Eisenwerke zu Marchiennes seien bloß zwei angeblasen; in der Glasfabrik Gagebois drohe ein Ausstand, weil man von einer Herabsetzung der Arbeitslöhne spreche.
»Ich weiß, ich weiß«, wiederholte der junge Mann bei jeder dieser Auskünfte. »Ich komme von dort.«
»Bei uns ist es bisher noch erträglich«, fügte der Kärrner hinzu. »Und doch haben die Kohlengruben überall ihren Betrieb eingeschränkt. Da drüben auf dem Siegeswerk brennen auch nur noch zwei Koksöfen.«
Er spie und ging wieder hinter seinem schlaftrunkenen Gaul her, den er von neuem vor die leeren Karren gespannt hatte.
Jetzt konnte Etienne gleichsam die ganze Gegend überblicken. Es herrschte noch immer tiefe Finsternis; aber die Hand des Alten hatte sie mit dem großen Elend erfüllt, das der junge Mann jetzt unwillkürlich ringsumher in unermeßlicher Ausdehnung witterte. War's nicht ein Schrei des Hungers, den der Märzwind durch diese kahle Landschaft trug? Die Windstöße waren stärker geworden; sie schienen den Tod der Arbeit mit sich zu führen, eine Hungersnot, die viele Menschen zu töten drohte. Mit irrenden Augen suchte[10] er die Dunkelheit zu durchdringen, gepeinigt von dem Verlangen und der Furcht zu sehen. Alles verlor sich in der Tiefe der nächtlichen Finsternis; er sah nichts als in weiter Ferne die Hochöfen und Kokereien. Batterien von hunderten schiefer Schlote warfen rote Flammen gen Himmel, während die beiden mehr nach links gelegenen Hochöfen mit blauen Flammen brannten gleich Riesenfackeln. Es war traurig wie auf einer Brandstätte; keine anderen Lichter waren zu sehen an diesem drohenden Horizont als diese nächtlichen Feuer von Eisen und Kohle.
»Sind Sie vielleicht aus Belgien?« fragte jetzt hinter Etienne der Kärrner, der zurückgekehrt war.
Diesmal brachte er nur drei Hunde; man konnte sie immerhin ausleeren. Im Aufzugsschacht war ein Gewinde gebrochen, und dieser Unfall störte die Arbeit eine gute Viertelstunde. Am Fuße des Hügels war es still geworden. Die Männer an der Winde hatten aufgehört, mit ihrer Arbeit die Gerüste in unaufhörliche Erschütterung zu versetzen. Nur aus der Grube tönte das ferne Geräusch eines Hammers herauf, der auf Blech schlug.
»Nein, ich bin aus dem Süden«, antwortete der junge Mann.
Der Handlanger hatte die Hunde ausgeleert und sich dann auf die Erde gesetzt, froh über den Unfall, der ihm eine kurze Ruhe gestattete. Der Fremdling bewahrte seine stumme Scheu und hob die matten Augen erstaunt zu dem Kärrner, gleichsam bedrückt von so vielen Worten. Der Alte hatte in der Tat nicht die Gewohnheit viel zu reden. Das Gesicht des Fremden mußte ihm gefallen, und er wurde augenscheinlich von jenem Drang nach Vertraulichkeit erfaßt, der zuweilen bewirkt, daß alte Leute von selbst und ganz laut zu plaudern beginnen.
»Ich bin von Montsou,« sagte er, »und heiße Bonnemort.« (Gutertod.)
»Das ist wohl ein Spitzname?« fragte Etienne erstaunt.[11]
Der Alte grinste vergnügt und sagte, nach dem Voreuxschachte zeigend:
»Ja, ja ... Man hat mich dreimal halbtot dort herausgezogen. Das erstemal war mir die Haut versengt, das zweitemal steckte ich in der Erde bis an den Kopf; das drittemal war der Bauch von Wasser angeschwollen wie der eines Frosches ... Da sahen die Leute, daß ich nicht sterben wollte, und nannten mich Bonnemort, freilich nur so zum Spaß.«
Er begann dabei zu kichern; es klang wie das Kreischen eines eingerosteten Brunnenschwengels und artete schließlich in einen furchtbaren Hustenanfall aus. Der Feuerkorb beleuchtete jetzt vollständig seinen dicken Kopf mit den weißen, schütteren Haaren und dem flachen, bleichen, bläulich gefleckten Gesicht. Er war klein von Gestalt, hatte einen furchtbar dicken Hals, die Waden und Fersen nach außen gekehrt, lange Arme, deren vierschrötige Hände auf seinen Knien ruhten. Er schien übrigens von Stein zu sein wie sein Pferd, das unbeweglich auf den Beinen stand, völlig unbekümmert um den Wind; die Kälte und der Wind, der ihm um die Ohren pfiff, ließen ihn unberührt. Wenn er gehustet hatte – wobei ein tiefes Röcheln seinen Hals zu zerreißen schien –, spie er am Fuße des Feuerkorbes aus, und die Erde färbte sich schwarz.
Etienne betrachtete ihn und den beschmutzten Boden.
»Arbeitet Ihr schon lange in der Grube?« fragte er.
Bonnemort streckte beide Arme weit auseinander und erwiderte:
»Lange? Ach, ja ... Ich war noch nicht acht Jahre alt, als ich in den Voreuxschacht einfuhr; jetzt zähle ich achtundfünfzig. Rechnet einmal ... Ich habe da drinnen alles gemacht, war zuerst Schlepper, dann Eggenmann, als ich stark genug dazu war, hernach Schaufler achtzehn Jahre lang. Und später, als die vertrackten Beine lahm wurden, gaben sie mich zum Abbau als Füller und Flicker bis zu dem Tage, da sie mich heraufholen mußten, weil der Arzt sagte, daß ich[12] das Leben da unten lassen müsse. Jetzt bin ich Kärrner seit fünf Jahren ... Fünfzig Jahre Bergwerksarbeit, das ist hübsch, wie? Davon fünfundvierzig in der Grube ...«
Während er so sprach, warfen einzelne brennende Kohlenstücke, die aus dem Korbe gefallen waren, einen blutroten Schein auf sein fahles Gesicht.
»Sie raten mir, in den Ruhestand zu gehen«, fuhr er fort. »Aber ich will nicht; ich bin nicht so dumm! ... Ich werde wohl noch zwei Jahre aushalten, bis die Sechzig voll sind, um meine Pension von hundertachtzig Franken zu bekommen. Wenn ich heute meinen Abschied nehme, würden sie mir nur hundertfünfzig bewilligen. Es sind pfiffige Kerle! ... Ich bin übrigens noch kräftig, von den Beinen abgesehen. Das Wasser ist mir unter die Haut gedrungen, weil ich in den Stollen gar so sehr naß geworden bin. Es gibt Tage, an denen ich kein Glied rühren kann, ohne vor Schmerz aufzuschreien.«
Ein Hustenanfall unterbrach ihn wieder.
»Ihr habt auch den Husten davon?« fragte Etienne.
Er schüttelte heftig den Kopf. Als er wieder reden konnte, sagte er:
»Nein, nein; ich habe mich im vorigen Monat erkältet. Niemals habe ich gehustet, jetzt aber kann ich den Husten nicht loswerden. Und das Komische dabei ist, daß ich speie ...«
Ein Röcheln stieg wieder in seiner Kehle auf, und er spie aus.
»Ist das Blut?« wagte Etienne endlich zu fragen.
Bonnemort wischte sich mit dem Handrücken langsam den Mund ab.
»Das ist Kohle«, sagte er. »Ich habe in meinem Leibe genug davon, um mich bis an das Ende meiner Tage zu wärmen. Und doch habe ich seit fünf Jahren keinen Fuß mehr in die Gruben gesetzt. Wie es scheint, habe ich die Kohle aufgespeichert, ohne es zu wissen. Bah! Das hält die Knochen zusammen!«
Es trat wieder Schweigen ein; der Hammer in der[13] Ferne führte regelmäßige Schläge; der Wind fuhr klagend dahin wie ein Schrei des Hungers und der Ermüdung aus den Tiefen der Nacht. Vor dem Kohlenfeuer sitzend, das im Winde aufflackerte, fuhr der Alte mit leiserer Stimme in seinen Erinnerungen fort. Ach ja, es war lange her, daß er und die Seinen in den Minen arbeiteten. Die Familie stand im Dienste der Bergwerksgesellschaft von Montsou seit der Gründung des Unternehmens vor hundert Jahren. Sein Großvater, Wilhelm Maheu, hatte als fünfzehnjähriger Bursche die Steinkohle in Réquillart entdeckt; dort war die erste Grube der Gesellschaft; sie lag unten in der Nähe der Zuckerfabrik Fauville und ist jetzt längst verlassen. So wußte es das ganze Land; zum Beweise dessen hieß das entdeckte Kohlenlager »Wilhelmsschacht« nach dem Vornamen seines Großvaters. Er hatte ihn nicht gekannt; er war, wie man erzählte, ein großer, sehr starker Mensch gewesen, der mit sechzig Jahren an Altersschwäche gestorben war. Sein Vater, Nikolaus Maheu, genannt der Rote, war mit kaum vierzig Jahren im Voreuxschachte geblieben, der zu jener Zeit gegraben wurde; es fand ein Einsturz statt, eine vollständige Verschüttung; die Felsen verschlangen Blut und Knochen. Später hatten zwei seiner Oheime und seine drei Brüder gleichfalls ihre Haut dagelassen. Er selbst, Vincent Maheu, der fast ganz gesund, nur mit geschwächten Beinen, aus der Grube herausgekommen war, galt deshalb für einen Schlaumeier. Was war übrigens zu machen? Man mußte doch arbeiten und tat es vom Vater auf den Sohn, wie man auch etwas anderes getan hätte. Sein Sohn Toussaint Maheu plagte sich jetzt dort ab, und auch seine Enkel, seine ganze Familie, die da drüben im Dorfe wohnte. Hundert Jahre Fron, nach den Alten die Jungen, immer für den nämlichen Herrn: ist das schön? Nicht viele Spießbürger könnten so leicht ihre Geschichte hersagen.
»Wenn man wenigstens zu essen hat«, murmelte Etienne wieder.[14]
»Das sage ich auch; solange man Brot hat, kann man leben.«
Bonnemort schwieg und wandte die Augen nach dem Dorfe, wo jetzt Lichter angezündet wurden, eines nach dem andern. Im Kirchturm zu Montsou schlug es vier Uhr; die Kälte wurde noch empfindlicher.
»Ist eure Gesellschaft reich?« fragte Etienne weiter.
Der Greis zog die Schultern in die Höhe und ließ sie wieder sinken, wie erdrückt durch einen Berg von Talern.
»O ja, o ja ... Vielleicht nicht so reich wie ihre Nachbarin, die Gesellschaft von Anzin. Aber doch Millionen und Millionen; es ist gar nicht zu zählen ... Neunzehn Schächte, davon dreizehn für die Ausbeute, le Voreux, der Siegesschacht, Crèvecoeur, Mirou, Sankt-Thomas, der Magdalenenschacht, Feutry-Cantel und andere; sechs für Förderung und Lüftung, wie Réquillart ... Zehntausend Arbeiter; Bodenrechte, die sich auf siebenundsechzig Gemeinden erstrecken, eine Förderung von täglich fünftausend Tonnen; eine Eisenbahn, die sämtliche Gruben verbindet; und Werkstätten und Fabriken! ... O ja, Geld ist da! ...«
Ein Rollen von Hunden über die Gerüste ließ den großen, gelben Gaul die Ohren spitzen. Der Aufzug unten schien inzwischen ausgebessert zu sein; die Männer an der Winde hatten ihre Arbeit wieder aufgenommen. Während der Kärrner seinen Gaul anspannte, um hinabzufahren, sagte er zu dem Tiere in sanftem Tone:
»Vertrackter Faulpelz, du sollst dich nicht ans Schwatzen gewöhnen! ... Wenn Herr Hennebeau wüßte, wie du die Zeit vergeudest!«
Etienne schaute nachdenklich in die Nacht hinaus und fragte:
»Das Bergwerk gehört also Herrn Hennebeau?«
»Nein,« erklärte der Alte, »Herr Hennebeau ist nur der Generaldirektor; er wird ebenso bezahlt wie wir.«[15]
Der junge Mann wies mit einer Handbewegung in die unermeßliche, dunkle Ferne hinaus und fragte weiter:
»Wem gehört denn all dies?«
Doch Bonnemort wurde jetzt von einem neuen, dermaßen heftigen Anfall erschüttert, daß er nicht zu Atem kommen konnte. Als er endlich ausgespien und den schwarzen Schaum wieder von seinen Lippen weggewischt hatte, sprach er in den wieder schärfer gewordenen Wind hinaus:
»Wie? Wem all dies gehört? Man weiß es nicht; es gehört Leuten.«
Er wies in der Dunkelheit nach einem unbestimmten Punkte, nach einem unbekannten, fernen Orte, bevölkert von den Leuten, für welche die Familie Maheu seit hundert Jahren in den Bergwerken arbeitete. Seine Stimme hatte eine andächtige Scheu angenommen; es war, als spräche er von einem unnahbaren Heiligtum, wo der gesättigte Gott im Verborgenen weilte, dem sie Leib und Leben hingaben, und den sie noch niemals gesehen hatten.
»Wenn man sich doch wenigstens mit Brot satt essen könnte«, sagte Etienne zum dritten Male, ohne scheinbaren Übergang.
»Ach ja, wenn man immer Brot zu essen hätte, es wäre zu schön! ...«
Das Pferd hatte sich in Gang gesetzt, auch der Kärrner verschwand mit dem schleppenden Schritt eines Invaliden. Der Handlanger bei der Entleerungsvorrichtung hatte sich nicht gerührt; er saß zu einer Kugel zusammengerollt da, das Kinn zwischen den Knien, und starrte mit den großen, matten Augen ins Leere.
Etienne hatte sein Bündel wieder an sich genommen, entfernte sich aber noch nicht. Er fühlte, wie ihm der Rücken in dem eisigen Winde erstarrte, während seine Brust vor dem großen Kohlenfeuer briet. Vielleicht würde er doch gut tun, sich an die Bergwerksverwaltung zu wenden; der Alte war vielleicht nicht recht[16] unterrichtet; überdies war er in sein Schicksal ergeben und bereit, jegliche Arbeit anzunehmen. Wohin sollte er gehen, und was sollte aus ihm werden in dieser durch Arbeitsmangel ausgehungerten Gegend? Sollte er hinter einer Mauer verrecken wie ein herrenloser Hund? Doch ein Zögern hielt ihn zurück, eine Angst vor dem Voreuxschachte inmitten dieser kahlen, in tiefe Nacht getauchten Ebene. Der Wind schien mit jedem Stoß stärker zu werden, als blase er von einem immer mehr sich erweiternden Horizonte her. Am toten Himmel wollte noch immer kein Morgendämmern aufleuchten; nur die Hochöfen und die Koksöfen flammten in der Finsternis mit blutrotem Schein, ohne die Ferne zu erhellen. Der Voreuxschacht, in seinem Loche hockend wie ein bösartiges Tier, duckte sich noch mehr und atmete schwerer und tiefer, wie in mühsamer Verdauung von Menschenfleisch.
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
|
Buchempfehlung
In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro