|
[58] Ohne auf seine Uhr zu schauen, die er in seinem Kittel gelassen, hielt Maheu in der Arbeit inne und sagte:
»Es ist bald ein Uhr ... Zacharias, bist du fertig?«
Der junge Mann war seit einer Weile mit der Verholzung beschäftigt. Er war bei dieser Arbeit auf dem[58] Rücken liegengeblieben, schaute mit stieren Augen drein und dachte an die Kugelpartien, die er gestern gespielt. Aus seinem Brüten auffahrend, erwiderte er:
»Ja, es wird schon genügen; morgen wollen wir weiter sehen.«
Damit nahm er seinen Platz im Schlage wieder ein. Levaque und Chaval hatten die Spitzhaue aus der Hand gelegt. Es trat eine Ruhepause ein. Alle trockneten sich das Gesicht mit ihren nackten Armen und blickten zu dem Dachfelsen empor, dessen glimmerige Masse sich in Blättern spaltete. Sie sprachen nur von der Arbeit.
»Wieder so ein Glückszug, daß wir auf ein abstürzendes Lager gestoßen sind«, brummte Chaval. »Auf dem Bureau haben sie es nicht in Rechnung gezogen.«
»Das sind Gauner«, schimpfte Levaque. »Sie denken nur daran, wie sie uns prellen können.«
Zacharias lachte; ihm war die Arbeit und alles andere gleichgültig, aber es machte ihm Spaß, wenn er auf die Unternehmung schimpfen hörte. Maheu erklärte mit ruhiger Miene, daß die Beschaffenheit des Erdreiches sich alle zwanzig Meter ändere. Man müsse gerecht sein; das könne man nicht vorhersehen. Als die beiden anderen weiter die Vorgesetzten verlästerten, schaute er ängstlich um sich.
»Still! Jetzt ist's genug!«
»Du hast recht«, sagte Levaque und dämpfte die Stimme. »Es könnte uns übel ergehen.«
Eine Angst vor Spionen plagte sie selbst in dieser Tiefe, als ob die Kohle der Aktionäre noch in der Grube Ohren habe.
»Gleichviel,« setzte Chaval laut und trotzig hinzu, »wenn dieser Dansaert mit mir wieder in dem Tone wie neulich spricht, schleudere ich ihm einen Stein an den Magen ... Ich hindere ihn nicht, sich blonde Frauen mit feiner Haut zu nehmen!«
Jetzt lachte Zacharias hell auf. Die Liebschaft des Oberaufsehers mit der Frau Pierron war Gegenstand unaufhörlicher Späße in der Grube. Auch Katharina,[59] die auf ihre Schaufel gestützt am Fuße des Schlages stand, hielt sich die Seiten vor Lachen und klärte mit einigen Worten Etienne auf, während Maheu, von einer Angst ergriffen, die er nicht zu verhehlen suchte, ärgerlich ausrief:
»Wirst du schweigen? ... Warte, bis du allein bist, wenn du willst, daß es dir schlimm ergehe.«
Noch sprach er, als das Geräusch von Schritten von der oberen Galerie her zu vernehmen war. Fast gleichzeitig erschien auf der Höhe des Schlages der Grubeningenieur, der kleine Negrel, wie die Arbeiter ihn unter sich nannten. In seiner Begleitung befand sich Dansaert, der Oberaufseher.
»Ich sagte es ja«, brummte Maheu. »Es sind immer Leute da, die aus der Erde auftauchen.«
Paul Negrel, der Neffe des Herrn Hennebeau, war ein junger Mann von sechsundzwanzig Jahren, schmächtig und hübsch, mit gekräuselten Haaren und braunem Schnurrbart. Seine spitzige Nase, seine lebhaften Augen gaben ihm das Aussehen eines liebenswürdigen Spürhundes; er war mit einem skeptischen Verstande begabt, der sich im Verkehr mit den Arbeitern in spröde Autorität verwandelte. Er war so gekleidet wie sie und gleich ihnen von der Kohle geschwärzt. Um sie zum Respekt zu nötigen, zeigte er einen Mut, bei dem er oft seine gesunden Knochen aufs Spiel setzte, kletterte durch die schwierigsten Stellen, war bei Einstürzen und schlagenden Wettern der erste am Platze.
»Hier ist's, nicht wahr, Dansaert?« fragte er.
Der Oberaufseher, ein Belgier mit dickem Gesichte und dicker, sinnlicher Nase, erwiderte mit übertriebener Höflichkeit:
»Ja, Herr Negrel ... Da ist der Mann, den man heute morgen angeworben.«
Beide hatten sich in die Mitte des Schlages hinabgleiten lassen. Man ließ Etienne heraufkommen. Der Ingenieur hob seine Lampe in die Höhe und betrachtete ihn, aber ohne eine Frage an ihn zu richten.[60]
»Gut«, sagte er endlich. »Ich mag nicht, daß man unbekannte Leute von den Straßen aufliest ... Tun Sie es nicht wieder!«
Er wollte die Aufklärungen nicht hören, die man ihm gab: die Anforderung der Arbeit, das Streben, bei der Abfuhr die Weiber durch Männer zu ersetzen. Er begann das Dach zu prüfen, während die Häuer wieder zu ihren Geräten gegriffen hatten. Plötzlich rief er:
»Sagen Sie doch, Maheu, sind denn alle Mahnungen fruchtlos? ... Ihr alle werdet das Leben lassen!«
»Das hält noch«, antwortete der Arbeiter ruhig.
»Wie, es hält noch? Der Felsen senkt sich doch schon, und ihr stützt ihn in einer Entfernung von mehr als zwei Metern, und auch dann nur mit Widerwillen! Ihr seid alle gleich, ihr würdet euch lieber den Schädel zerschmettern, als eine Ader stehenlassen, um der Verholzung die nötige Zeit zu widmen! ... Ich bitte, hier augenblicklich Stützen anzubringen. Verdoppelt die Hölzer, hört ihr?«
Angesichts des Widerstrebens der Arbeiter, die mit ihm stritten und erklärten, daß sie selbst über ihre Sicherheit zu wachen wüßten, geriet er in Zorn.
»Warum nicht gar!« rief er. »Tragt ihr etwa die Folgen, wenn euch der Kopf zertrümmert wird? Keineswegs. Die Gesellschaft muß euch oder euren Weibern Ruhegehälter zahlen. Wie gesagt, man kennt euch. Um zwei Hunde mehr voll zu bekommen, würdet ihr eure Haut hingeben.«
Trotz des Zornes, der ihn allmählich ergriff, sagte Maheu mit ruhigem Ernste:
»Würde man uns genügend bezahlen, dann würden wir auch besser verzimmern.«
Der Ingenieur zuckte mit den Achseln, ohne zu antworten. Er stieg vollends herunter und sagte, als er unten war:
»Ihr habt noch eine Stunde, macht euch alle ans Werk. Bedenkt, daß der Werkplatz sonst drei Franken Strafe bekommt.«[61]
Ein dumpfes Murren der Häuer begleitete diese Worte. Nur die Macht der Rangordnung hielt sie zurück, dieser militärisch organisierten Rangordnung, die vom Schlepperjungen bis zum Oberaufseher immer einen unter die Gewalt des andern beugte. Chaval und Levaque machten wütende Gebärden, während Maheu sie mit einem Blick beschwichtigte und Zacharias höhnisch mit den Achseln zuckte. Etienne war vielleicht am meisten von allen erregt. Seitdem er sich in der Tiefe dieser Hölle befand, stieg ein immer wachsender Unmut in ihm auf. Er betrachtete Katharina, die demütig mit gebeugtem Nacken dastand. War es möglich, daß man sich bei so schwerer Arbeit in diesen todbringenden Gruben um Leben und Gesundheit brachte, ohne auch nur die paar Sous für das tägliche Brot zu erwerben?
Indes entfernte sich Negrel in Begleitung von Dansaert, der sich begnügte, immerfort zustimmend zu nicken. Jetzt hörte man von neuem ihre lauten Stimmen; sie waren wieder stehengeblieben und prüften die Verzimmerung der Galerie, welche die Häuer hinter dem Schlage in einer Länge von zehn Meter instand zu halten hatten.
»Ich sage Ihnen ja, daß sie uns zum besten halten!« rief der Ingenieur. »Und Sie, Unglücksmensch, vernachlässigen Sie denn die Aufsicht?«
»Nein, gewiß nicht«, stammelte der Oberaufseher. »Man bekommt es schließlich satt, diesen Leuten immer wieder dasselbe zu sagen.«
Negrel rief heftig:
»Maheu! Maheu!«
Alle stiegen vom Schlage herab. Der Ingenieur fuhr fort:
»Schaut euch das an! ... Das ist wie ein Kartenhaus. Dieses Geländer ist dermaßen hastig aufgesetzt, daß die Stützen es kaum tragen ... Ich begreife jetzt, daß die Ausbesserungen uns so schweres Geld kosten. Es genügt euch, daß es so lange hält, wie eure Verantwortlichkeit[62] währt, nicht wahr? Dann geht alles in die Brüche, und die Gesellschaft ist genötigt, ein Heer von Ausbesserern zu halten ... Schaut nur da hinunter! Da ist ja alles in Splittern.«
Chaval wollte reden, aber er gebot ihm Schweigen.
»Ich weiß schon, was ihr sagen wollt. Man soll euch mehr bezahlen, nicht wahr? Gut, aber ich sage euch, daß ihr in dieser Weise die Direktion zwingt zu handeln: man wird euch die Verzimmerung besonders bezahlen und den Preis des Karrens verhältnismäßig herabsetzen. Wir wollen sehen, ob ihr dabei besser fahrt. Einstweilen verzimmert mir das sogleich von neuem. Morgen komme ich wieder.«
Unter dem Eindruck des Schreckens, den diese Drohung hervorbrachte, entfernte er sich. Dansaert, in seiner Gegenwart so demütig, blieb einige Augenblicke zurück, um den Arbeitern in schroffem Tone zu sagen:
»Euretwegen habe ich Tadel zu hören ... Nehmt euch in acht! Bei mir kommt ihr mit drei Franken Strafe nicht durch!«
Als auch er fort war, brach Maheu endlich los.
»Bei Gott! Unrecht bleibt Unrecht. Ich will Ruhe haben, weil man nur in Ruhe sich verständigen kann; aber schließlich wird man von diesen Leuten doch in Wut gebracht ... Habt ihr gehört? Der Preis des Karrens soll herabgesetzt und die Verzimmerung besonders angerechnet werden! ... Wieder eine Art, uns weniger zu zahlen ... Daß doch Gottes Donner dreinfahre!«
Er suchte jemanden, an dem er seinen Zorn auslassen könne, und bemerkte Etienne und Katharina, die mit hängenden Armen dastanden.
»Schafft Hölzer herbei!« schrie er sie an. »Was hat euch das zu kümmern? Ich werde euch mit Rippenstößen antreiben!«
Etienne ging, um sich mit Hölzern zu beladen; er grollte dem Hauer nicht wegen seiner Rauheit, denn er selbst war so wütend über die Vorgesetzten, daß er die Grubenarbeiter viel zu gutmütig fand.[63]
Levaque und Chaval hatten in derben Worten ihrem Zorne Luft gemacht. Alle, auch Zacharias, waren jetzt mit erbittertem Eifer bei der Verzimmerungsarbeit. Eine halbe Stunde hindurch hörte man nichts als das Krachen der Hölzer, die mit Schlägelhieben festgemacht wurden. Sie sprachen kein Wort mehr und wüteten in ihrer Erbitterung gegen den Stein, den sie mit ihren Schultern zurückgestoßen und gehoben hätten, wenn sie es vermocht hätten.
»Jetzt ist's genug!« sagte Maheu endlich, gebrochen von Zorn und Ermüdung. »Es ist halb zwei Uhr. Ein sauberer Tag: wir haben keine fünfzig Sous verdient! ... Ich gehe, es ekelt mich an.«
Obgleich man noch eine halbe Stunde zu arbeiten hatte, kleidete er sich an. Die anderen folgten seinem Beispiele. Der bloße Anblick des Schlages brachte sie außer sich. Da die Schlepperin sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, riefen sie sie, verdrossen über ihren Eifer; wenn die Kohle Füße habe, solle sie von selbst hinausgehen, schrien sie. Die sechs Leute brachen mit ihren Geräten unter dem Arme auf; sie hatten zwei Kilometer zurückzulegen, um auf demselben Wege, auf dem sie morgens gekommen waren, zum Aufzugsschachte zu gelangen.
In dem Kamin verweilten Katharina und Etienne einen Augenblick, während die Häuer hinabglitten. Sie begegneten da der kleinen Lydia, die mitten im Wege anhielt, um sie vorbeigehen zu lassen, und ihnen erzählte, daß die Mouquette verschwunden sei; sie sei von einem solchen Nasenbluten befallen worden, daß sie seit einer Stunde – man wisse nicht wo – sitze, um ihr Gesicht zu baden. Als sie das Kind verließen, schob es seinen Karren weiter. Es war erschöpft, mit Schmutz bedeckt und streckte seine Ärmchen und Beinchen einer mageren, schwarzen Ameise gleich, die sich mit einer allzu schweren Last abmüht. Katharina und Etienne ließen sich jetzt ebenfalls hinunter und zogen die Schultern ein aus Furcht, sich die Haut zu zerschinden;[64] und sie rutschten so schnell den von den Hosen der Grubenarbeiter glatt gescheuerten Felsen hinab, daß sie sich von Zeit zu Zeit an der Verschalung festhalten mußten, damit ihre Rücken nicht Feuer fingen, wie sie scherzweise sagten.
Unten befanden sie sich allein. In der Ferne sahen sie bei einer Biegung der Galerie rote Lichter verschwinden. Ihre gute Laune war weg; sie gingen mit schweren, müden Schritten dahin, sie voraus, er hinterdrein. Die Lampen kohlten nur; er sah sie kaum, wie sie, in einen rauchigen Nebel gehüllt, sich fortbewegte. Der Gedanke, daß sie ein Mädchen sei, verursachte ihm Unbehagen; er fühlte, daß es einfältig von ihm sei, sie nicht zu küssen, und daß nur die Erinnerung an den andern ihn daran hindere. Sicherlich hatte sie ihn belogen: der andere war ihr Liebhaber. Sie aber wandte sich jede Minute nach ihm um, machte ihn auf ein Hindernis aufmerksam, schien ihn gleichsam aufzufordern, freundlich zu sein. Man war so allein und hätte so gemütlich schäkern können. Endlich erreichten sie die Abfuhrgalerie; für ihn war dies eine Erleichterung inmitten der Unsicherheit, die ihn quälte, während sie ein letztes Mal einen traurigen Blick auf ihn richtete, als trauere sie über entgangenes Glück, das sie nicht wiederfinden würde.
Rings um sie her herrschte jetzt ein geräuschvolles unterirdisches Leben, ein ewiges Kommen und Gehen der Aufseher und der Züge, die von den Pferden im Trabe fortgeschleppt wurden. Man sah unaufhörlich Lampen in der Grubennacht funkeln. Katharina und ihr Begleiter mußten sich an die Felswand drücken und den Weg frei lassen für die Schatten der Menschen und Tiere, deren Atem ihr Gesicht streifte. Johannes, der mit nackten Füßen hinter seinem Kohlenzuge einherlief, schrie ihnen eine Bosheit zu, die sie in dem Lärm der rollenden Räder nicht verstanden. Sie gingen immer weiter; sie schwieg jetzt still, er aber erkannte die[65] Gassen und Kreuzwege nicht wieder, die er am Morgen gesehen, und bildete sich ein, daß sie ihn hier unter der Erde immer mehr irreführen wolle. Am meisten litt er durch die Kälte, eine immer mehr zunehmende Kälte, die ihn ergriffen, als er vom Schlage heruntergestiegen, und die ihn immer heftiger schüttelte, je mehr er sich dem Aufzugsschachte näherte. Zwischen den geraden Wandungen wurde die Luftsäule wieder zum Sturm. Er verzweifelte schon, daß sie jemals ans Ziel kommen würden, als sie sich plötzlich in dem Aufzugssaale befanden.
Chaval warf ihnen mit argwöhnisch verzogenem Munde einen hämischen Blick zu. Auch die anderen standen schweißtriefend in dem eisigen Luftzuge, stumm wie sie, dumpfe Zornesworte hinunterwürgend. Sie kamen zu früh, und man wollte sie erst nach einer halben Stunde hinaufbefördern, um so mehr, als man allerlei verwickelte Zurüstungen zu machen hatte, um ein Pferd hinabzulassen. Die Verlader stellten noch Kohlenhunde mit betäubendem Geräusch von klirrendem Eisen ein; die Schalen flogen empor und verschwanden in dem Platzregen, der aus dem finsteren Loche niederfiel. Aus der zehn Meter tiefen Grube, die dieses Wasser auffing, kam ein schlammigfeuchter Geruch herauf. Männer hatten fortwährend um den Aufzugsschacht zu schaffen, zogen an den Signalleinen und drückten die Hebel inmitten des Wasserstaubes nieder, der ihre Kleider durchnäßte. Die rötliche Helle der drei frei brennenden Lampen, die große, schwankende Schatten warf, verlieh diesem unterirdischen Saale das Aussehen einer Verbrecherhöhle, einer Banditenschmiede in der unmittelbaren Nachbarschaft eines reißenden Wassers.
Maheu wagte einen letzten Versuch und näherte sich Pierron, der seinen Dienst beim Förderschacht um sechs Uhr angetreten hatte.
»Höre, du könntest uns hinauflassen.«[66]
Doch der Verlader, ein hübscher Mann mit kräftigen Gliedern und sanftem Antlitz, weigerte sich und machte eine Bewegung des Schreckens.
»Unmöglich; wende dich an den Aufseher ... Ich würde bestraft.«
Wieder brummten die Grubenleute Worte des Unmutes vor sich hin. Katharina neigte sich zum Ohr Etiennes und sagte:
»Komm den Stall besichtigen; dort ist's gut!«
Sie mußten sich unbemerkt davonschleichen, denn es war verboten, in den Stall zu gehen. Dieser lag links am Ende einer kurzen Galerie. Der Stall, fünfundzwanzig Meter lang und vier Meter hoch, war in den Felsen gebrochen und von Ziegeln überwölbt; zwanzig Pferde hatten darin Platz. In der Tat ließ es sich gut darin sein; es herrschte da die Wärme lebender Tiere und der angenehme Geruch einer reinlich gehaltenen frischen Streu. Die einzige Laterne verbreitete in dem Raume das gedämpfte Licht einer Nachtlampe. Die zur Rast eingestellten Pferde wandten den Kopf mit ihren großen, harmlosen Augen und machten sich dann wieder an ihren Hafer, ohne Eile, wie wohlgenährte, gesunde, von jedermann geliebte Arbeiter.
Doch als Katharina laut die Namen las, die auf Zinkplatten oberhalb der Raufen angebracht waren, stieß sie einen leisen Schrei aus: eine Gestalt hatte sich plötzlich vor ihr aufgerichtet. Es war die Mouquette, die sich betroffen von der Streu erhob, wo sie geschlafen hatte. Wenn sie am Montag von den Ausschweifungen des Sonntags allzu müde war, versetzte sie sich einen heftigen Faustschlag auf die Nase, verließ ihren Schlag unter dem Vorwande, Wasser zu holen, und kroch in die warme Streu zwischen die Tiere. Ihr Vater, der ihr gegenüber sehr schwach war, duldete es auf die Gefahr hin, Verdruß deswegen zu haben.
Vater Mouquet, der eben in den Stall trat, war ein kurzer, kahlköpfiger Mensch mit stark verwitterten Zügen, aber dick von Gestalt, was selten war bei einem[67] ehemaligen Grubenarbeiter von fünfzig Jahren. Seitdem man ihn zum Stallknechte gemacht, kaute er so leidenschaftlich Tabak, daß das Zahnfleisch in seinem schwarzen Munde blutete. Als er neben seiner Tochter die zwei anderen bemerkte, wurde er zornig.
»Was habt ihr da zu suchen? Fort mit euch Dirnen!«
Etienne ging mit den beiden verlegen von dannen, während Katharina ihm zulächelte. Als alle drei nach dem Aufzugssaale zurückkehrten, trafen eben auch Bebert und Johannes mit einem Kohlenzuge ein. Da es einen kurzen Aufenthalt gab, bis die Förderschalen bereit waren, näherte sich Katharina dem Pferde, tätschelte es mit der Hand und sprach mit dem Kameraden von dem Tiere. Es war Bataille, der Älteste in der Grube, ein Schimmel, der seit zehn Jahren unten arbeitete. Seit zehn Jahren lebte er in diesem Loche, immer in demselben Winkel des Stalles, und verrichtete immer dieselbe Arbeit in diesen schwarzen Galerien, ohne jemals das Tageslicht wiedergesehen zu haben. Sehr fett, mit glänzendem Haar und von gutmütigem Aussehen, schien er das Leben eines Weisen zu führen, bewahrt vor allem Ungemach der Erde. Der Gaul war übrigens hier in der Finsternis sehr schlau geworden. Der Weg, den er befuhr, war ihm schließlich so vertraut geworden, daß er mit dem Kopfe die Lüftungstüren aufstieß und bei den allzu niedrigen Stellen sich bückte, um nicht anzustoßen. Ohne Zweifel wußte er auch, was seine Pflicht sei; denn wenn er die vorgeschriebene Anzahl von Fahrten erledigt hatte, weigerte er sich, noch eine zu machen, und man mußte ihn zur Raufe zurückführen. Jetzt kam das Alter; seine Augen nahmen zuweilen einen trüben Ausdruck an. Vielleicht sah er in seinen dunklen Träumen die Mühle wieder, wo er geboren, eine Mühle in der Nähe von Marchiennes am Ufer der Scarpe, umgeben von breiten Fluren, über die ein frischer Wind dahinfegte. Etwas brannte dort in der Luft, eine ungeheure Lampe, deren sein Tiergedächtnis sich nicht genau erinnern konnte.[68] So stand er denn mit gesenktem Kopfe zitternd auf seinen alten Füßen da und machte vergebliche Anstrengungen, sich der Sonne zu erinnern.
Inzwischen dauerten die Manöver in dem Schachte fort; der Signalhammer hatte vier Schläge getan, das Pferd wurde heruntergelassen. Das verursachte immer eine gewisse Aufregung; denn es geschah manchmal, daß das Tier, von Entsetzen ergriffen, unten tot anlangte. Oben wurde es mittels eines Netzes gefesselt, wogegen es sich verzweifelt wehrte; sobald es keinen Boden mehr unter sich fühlte, war es wie versteinert; so versank es in der Tiefe ohne ein Beben der Haut mit weiten, starren Augen. Das Tier, das heute hinabbefördert werden sollte, war zu groß, um zwischen den Leitpfosten hindurch zu können; man hatte es unterhalb der Förderschale befestigen und den Kopf zur Seite festbinden müssen. Der Abstieg währte nahezu drei Minuten; aus Vorsicht verlangsamte man den Gang der Maschine. Darum stieg unten die Verwunderung immer höher. Was? Will man etwa das Pferd unterwegs in der Luft hängen lassen? Endlich war es sichtbar, unbeweglich, wie erstarrt, die Augen vor Furcht weit aufgerissen. Es war ein Brauner, kaum drei Jahre alt, Trompete mit Namen.
»Aufgepaßt!« rief Vater Mouquet, der das Tier zu übernehmen hatte. »Schafft es her, aber macht es noch nicht los.«
Trompete wurde wie eine tote Masse auf die eisernen Platten des Fußbodens niedergelegt. Das Tier bewegte sich noch immer nicht; das schier endlose, finstere Loch, durch welches es gekommen, und dieser tiefe, von Geräusch widerhallende Saal: sie lasteten wie ein Alpdruck auf ihm. Man war eben damit beschäftigt, es loszubinden, als Bataille, seit einem Augenblick ausgespannt, sich näherte und den Kopf vorstreckte, um den Gefährten zu beriechen, der so urplötzlich von der Oberwelt daherkam. Die Arbeiter machten ihre Späße über die Szene und stellten sich in einem weiten Kreis[69] auf. Welchen Wohlgeruch fand er denn an ihm? Doch unbekümmert um das Lachen wurde Bataille immer lebhafter. Er witterte hier ohne Zweifel den Wohlgeruch der freien Luft, den längst vergessenen Geruch des von der Sonne beschienenen Grases. Plötzlich brach er in ein lautes Gewieher aus, in einen Freudenruf, in den sich etwas wie ein zärtliches Schluchzen mengte. Das war der Willkommgruß, die Freude über die alten Dinge, von denen ihm jetzt ein Hauch zukam, zugleich die Trauer über diesen neuen Gefangenen, der nicht mehr lebend an die Erdoberfläche gelangen sollte.
»Der Schlingel Bataille!« riefen jetzt die Arbeiter, erheitert durch das Treiben ihres Lieblings. »Seht, wie er mit dem Kameraden plaudert.«
Trompete war mittlerweile seiner Fesseln entledigt worden, rührte sich aber nicht. Das Pferd blieb auf der Seite liegen, als fühle es sich noch immer im Netz gefangen; es war gleichsam durch die Furcht gelähmt. Endlich brachte man es mit einem Peitschenhieb auf die Beine; betäubt und an allen Gliedern zitternd stand es da. Vater Mouquet führte die beiden Tiere weg, die sogleich Freundschaft miteinander schlossen.
»Kommen wir endlich an die Reihe?« fragte Maheu.
Man mußte die Förderschalen frei machen; aber es fehlten noch zehn Minuten an der zum Aufstieg festgesetzten Stunde. Allmählich leerten sich die Werkplätze; die Grubenarbeiter kamen aus allen Galerien herbei. Es hatten sich schon etwa fünfzig versammelt, durchnäßt, fröstelnd in dem Luftzuge, der von allen Seiten kam. Pierron mit dem sanften Gesicht ohrfeigte seine Tochter Lydia, weil sie zu früh den Schlag verlassen hatte. Alle blickten finster. Die Unzufriedenheit unter den Arbeitern wurde immer größer; Chaval und Levaque erzählten von der Drohung des Ingenieurs, daß der Preis des Karrens herabgesetzt, die Verholzung besonders bezahlt werden solle. Dieses Vorhaben wurde mit allgemeinen Entrüstungsrufen aufgenommen; Aufruhr brach los in diesem engen Winkel, sechshundert[70] Meter unter der Erde. Bald wurden die Stimmen laut; die von der Kohle geschwärzten und vom Warten in der Zugluft erstarrten Männer beschuldigten die Gesellschaft, daß sie die eine Hälfte der Arbeiter in den Gruben töte, während sie die andere Hälfte Hungers sterben lasse. Etienne hörte es fröstelnd mit an.
»Rasch, sputet euch!« rief der Aufseher Richomme den Verladern zu.
Er beschleunigte die Vorbereitungen für den Aufzug; er wollte nicht hart sein und tat daher, als höre er nichts. Indes nahm das Murren dermaßen zu, daß er genötigt war einzuschreiten. Hinter ihm rief man, daß es nicht immer so bleiben dürfe, und daß eines Tages »die Bude in die Luft fliegen werde«.
»Du bist besonnen, heiße sie schweigen«, sagte er zu Maheu. »Wenn man nicht der Stärkere ist, muß man der Klügere sein.«
Doch Maheu, der sich beruhigt hatte, und den das Gerede ringsumher zu ängstigen begann, hatte es nicht mehr nötig, sich einzumengen. Plötzlich verstummten alle Stimmen; Negrel und Dansaert kehrten von ihrem Besichtigungsgange zurück und kamen aus einer Galerie, beide mit Schweiß bedeckt. Die Gewohnheit der Disziplin veranlaßte die Leute, sich in Reih und Glied zu stellen, während der Ingenieur schweigend durch die Gruppe schritt. Er setzte sich in einen Karren, der Oberaufseher in einen andern; man zog fünfmal an der Signalleine, um die schwere Ladung hinaufzuschaffen, wie man von den Vorgesetzten sagte, und die Schale flog inmitten einer dumpfen Stille in die Höhe.
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
|
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro