Fünftes Kapitel

[525] In der Grube unten schrien die unglücklichen Verlassenen in ihrem Entsetzen. Das Wasser reichte ihnen jetzt bis zum Leib. Das Rauschen des unterirdischen Stromes betäubte sie; bei dem Absturz der letzten Reste der Verzimmerung glaubten sie, die Welt sei aus den Fugen gegangen. Was ihnen vollends den Verstand raubte, war das Gewieher der im Stall eingeschlossenen Pferde: der furchtbare, unvergeßliche Todesschrei von Tieren, die hingemordet wurden.[525]

Mouquet hatte Bataille freigelassen; das alte Pferd sah zitternd, mit weit offenen, starren Augen, das Wasser immer höher steigen. Der Aufzugsraum füllte sich sehr rasch; in dem rötlichen Licht der drei Lampen, die noch an der Decke hingen, sah man die grünliche Flut anwachsen. Als das Tier das eiskalte Wasser fühlte, rannte es plötzlich davon und verlor sich in einer der Abfuhrgalerien.

Die Flucht wurde allgemein; die Männer folgten dem Tier.

»Hier ist nichts mehr zu machen!« rief Mouquet. »Man muß sich nach dem Réquillartschacht wenden.«

Der Gedanke, daß sie sich durch die benachbarte alte Grube retten könnten, wenn sie dort hinkämen, bevor ihnen der Weg abgeschnitten würde, riß alle fort. Die zwanzig Arbeiter drängten vorwärts, in eine Kette aufgelöst, die Lampen hoch, damit das Wasser sie nicht auslösche. Glücklicherweise stieg die Galerie sanft an; sie konnten zweihundert Meter zurücklegen, immer mit dem Wasser kämpfend. Alter Aberglaube erwachte in den verstörten Seelen; sie beschworen die Erde, denn die Erde rächte sich und ließ Blut ausströmen, weil man ihr eine Schlagader durchschnitten hatte. Ein Greis stammelte längst vergessene Gebete und bog die Daumen nach außen, um die bösen Berggeister zu besänftigen.

Doch bei der ersten Wegkreuzung brach Streit aus. Der Stallwärter wollte links gehen, andere versicherten, daß man den Weg abkürze, wenn man rechts gehe. So verlor man eine Minute.

»Was geht's mich an, wenn ihr die Knochen laßt?« rief Chaval. »Ich gehe in diese Richtung.«

Er wandte sich rechts, und zwei Kameraden folgten ihm. Die anderen liefen weiter hinter Mouquet, der in der Réquillartgrube aufgewachsen war. Allein auch er schwankte und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Die Köpfe wurden irre; die Alten erkannten die Gänge nicht mehr, deren Netz sich in ihrem Gedächtnis[526] verwirrt hatte. Bei jeder Abzweigung blieben sie stehen, unsicher, nach welcher Richtung sie sich wenden sollten.

Etienne lief als letzter, durch Katharina zurückgehalten, der Ermüdung und Angst alle Kräfte genommen hatten. Er wäre mit Chaval nach rechts geflohen, weil er glaubte, dies sei der richtige Weg; aber er hatte ihn laufen lassen, auf die Gefahr hin, in der Grube zu bleiben. Übrigens dauerte die Auflösung der Schar fort; wieder waren einige abgezweigt, und es blieben nur noch sieben Leute bei dem alten Mouquet.

»Häng dich an meinen Hals, ich werde dich tragen«, sagte Etienne dem Mädchen, als er sah, daß es nicht weiter konnte.

»Nein, laß mich«, flüsterte sie, »ich vermag nicht zu folgen und will lieber gleich sterben.«

Sie waren stehengeblieben und etwa fünfzig Meter hinter den anderen zurück. Er hob sie trotz ihres Widerstandes empor, als die Galerie plötzlich verrammelt wurde; ein ungeheurer Block war niedergestürzt und trennte sie von den anderen. Die Überschwemmung lockerte bereits die Felsen; auf allen Seiten erfolgten Einstürze. Sie mußten umkehren. Dann wußten sie nicht mehr, nach welcher Richtung sie laufen sollten. Es war aus; sie mußten den Gedanken aufgeben, durch den Réquillartschacht aufzusteigen. Ihre einzige Hoffnung war, die höher gelegenen Schläge zu erreichen, wo man sie vielleicht nach dem Sinken des Wassers befreien würde.

Etienne erkannte endlich die Wilhelmader.

»Jetzt weiß ich, wo wir sind«, sagte er. »Wir waren auf dem richtigen Wege, aber jetzt ist's vorbei! ... Laß uns geradeaus gehen; wir werden durch den Kamin hinaufklettern.«

Das Wasser reichte ihnen bis an die Brust; sie kamen sehr langsam vorwärts. Solange sie Licht hatten, wollten sie nicht verzagen; sie löschten eine Lampe aus, um das Öl zu sparen und im Bedarfsfalle die andere nachzufüllen. Sie hatten eben den Kamin erreicht, als ein[527] Geräusch, das hinter ihnen entstand, sie den Kopf zu wenden veranlaßte. Kamen etwa die Kameraden zurück, weil ihnen gleichfalls der Weg verrammelt worden? Fauchen wurde immer deutlicher vernehmbar; entsetzt schrien sie auf, als sie eine weißgraue, riesige Masse aus dem Dunkel auftauchen sahen, die zwischen den engen Verschalungen mühsam vordrang.

Es war Bataille. Den Aufzugsraum verlassend, war das Pferd wie rasend durch die finstern Galerien gerannt. Es schien seinen Weg zu kennen in der unterirdischen Stadt, die es seit elf Jahren bewohnte; seine Augen sahen klar in der ewigen Nacht, in der es lebte. Es rannte und rannte mit gesenktem Kopfe durch die engen Gänge, die sein großer Körper ausfüllte. Es folgte Weg auf Weg, Kreuzung auf Kreuzung: für das Pferd gab es keinen Aufenthalt. Wohin stürmte es? Weithin vielleicht, nach der Vision seiner Jugend, nach der Mühle, wo es zur Welt gekommen, am Ufer der Scarpe; nach der unklaren Erinnerung an die Sonne, die wie eine ungeheure Lampe in der Luft brannte. Es wollte leben; sein tierisches Erinnerungsvermögen erwachte; das Verlangen, die frische Luft der Ebenen einzuatmen, trieb es immer geradeaus, bis es das Loch entdeckte, den Ausgang nach dem Licht. In seiner Verzweiflung schwand die lange Ergebenheit; diese Grube tötete es, nachdem sie es geblendet hatte. Das Wasser reichte ihm bis zu den Schenkeln, bis zum Bauch. Doch als es tiefer in die Galerien eindrang, wurden diese enger; die Wölbung senkte sich, die Mauern legten sich vor. Das Pferd aber rannte weiter, rieb sich blutig an den Wänden, ließ Fetzen seiner Haut an der Verzimmerung hängen. Es war, als verenge sich die Grube von allen Seiten, um das Tier zu fangen und zu ersticken.

Etienne und Katharina sahen es auf sich zukommen und zwischen den Felswänden sich verfangen. Es war gestrauchelt und hatte im Sturz die beiden Vorderbeine gebrochen. Mit einer letzten Anstrengung schleppte es sich noch einige Meter weit; doch seine Lenden waren[528] kraftlos; es war von der Erde umfangen, erwürgt. Es streckte den Kopf aus und suchte mit großen brechenden Augen einen Spalt. Das Wasser bedeckte es rasch; es begann zu wiehern; und dann folgte dasselbe furchtbare Röcheln, mit dem die andern Pferde schon im Stall verendet waren. Es war ein schrecklicher Todeskampf, in dem das alte, zerschlagene, unbewegliche Tier in dieser Tiefe, fern vom Tageslicht, sich wand. Sein Notschrei wollte kein Ende nehmen; die Flut benetzte schon seine Mähne, als das Todesröcheln noch rauh aus dem weit offenen Rachen kam. Ein letztes Glucksen, wie wenn eine Tonne sich füllt; dann ward alles still.

»O mein Gott! Führ' mich weg«, schluchzte Katharina. »O mein Gott! Ich habe Furcht. Ich will nicht sterben ... Führ' mich weg! Führ' mich weg!«

Sie hatte den Tod gesehen. Weder der Einsturz des Schachtes noch die Überschwemmung der Grube hatte ein solches Entsetzen in ihr hervorgerufen wie das Sterben des Pferdes Bataille. Sie hörte noch immer seinen Schrei; er gellte ihr in den Ohren, ihr ganzer Leib zitterte.

»Führ' mich weg! Führ' mich weg!«

Etienne packte sie und trug sie weiter. Es war übrigens Zeit; das Wasser reichte ihnen bis zu den Schultern, als sie in dem Kamin emporkletterten. Er mußte ihr helfen, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, sich an den Hölzern festzuhalten. Dreimal war sie nahe daran, ihm zu entgleiten und in die tiefe Flut zurückzufallen, die hinter ihnen grollte. Sie konnten einige Augenblicke ausruhen, als sie den ersten Gang erreichten, der noch vom Wasser frei war. Es erschien aber bald, und sie mußten wieder klettern. Der Aufstieg währte stundenlang; das Wasser jagte sie von Gang zu Gang, nötigte sie immer höher hinaufzuklettern. In der sechsten Galerie trat ein Stillstand ein, der sie mit neuer Hoffnung erfüllte; es schien, als bleibe die Wasserhöhe unverändert. Doch bald setzte ein stärkeres Steigen ein; sie mußten in die siebente, dann in die achte Galerie. Es[529] blieb ihnen nur noch eine einzige, und als sie dieselbe erreicht hatten, sahen sie mit Schrecken, wie das Wasser zollweise zunahm.

Jeden Augenblick erfolgten Einstürze mit hallendem Krachen. Die ganze Mine war erschüttert; ihr Inneres war zu schwach und sank in Trümmer unter dem Druck des Meeres, das sie ersäufte. Am Ende der Galerien sammelte sich die zurückgedrängte Luft, verdichtete sich und entlud sich in furchtbaren Explosionen zwischen den geborstenen und den eingestürzten Felsen.

Erschüttert und betäubt von diesem ewigen Getöse, faltete Katharina die Hände und stammelte unaufhörlich dieselben Worte:

»Ich will nicht sterben ... Ich will nicht sterben ...«

Um sie zu beruhigen, versicherte Etienne, daß das Wasser sich nicht mehr rühre. Die Flucht währte schon sechs Stunden; man werde ihnen sicherlich bald zu Hilfe kommen. Er sagte sechs Stunden, ohne es genau zu wissen, denn sie verloren das Bewußtsein der Zeit. In Wirklichkeit hatte ihr Aufstieg in der Wilhelmader einen ganzen Tag gedauert.

Durchnäßt und fröstelnd, richteten sie sich ein. Da sie barfüßig war, zwang er sie, seine Holzschuhe zu nehmen. Sie konnten jetzt geduldiger warten; sie hatten den Docht ihrer Lampe niedriger gestellt, daß sie nur das schwache Licht eines Nachtlämpchens gab. Doch beiden wurde der Magen von Krämpfen gequält, und jetzt erst wurden sie ihres großen Hungers gewahr. Im Augenblick der Katastrophe hatten sie noch nicht gefrühstückt, und sie fanden jetzt ihre Brotschnitten von Wasser durchweicht, in Brei verwandelt. Als sie gegessen hatte, schlief sie vor Ermüdung sofort auf der kalten Erde ein. Er fand in seiner fieberhaften Erregung keinen Schlaf und wachte bei ihr, den Kopf auf die Hände gestützt, mit stieren Augen.

Wie viele Stunden so verflossen, er hätte es nicht zu sagen vermocht. Was er wußte, war, daß vor ihm –[530] durch den Kamin aufsteigend – die schwarze bewegliche Flut wieder erschien, das Tier, dessen Rücken unaufhörlich anschwoll, um sie zu erreichen. Von Angst ergriffen, zögerte er, sie zu wecken. War es nicht grausam, sie in ihrer Ruhe zu stören, in ihrem tiefen Schlafe, der sie vielleicht in einen Traum von Sonne und frischer Luft wiegte? Er sann nach und erinnerte sich, daß die in diesem Teil der Wilhelmader angelegte schiefe Ebene am äußersten Ende eine Verbindung habe mit der schiefen Ebene, die für den Dienst des oberen Aufzugsraumes angelegt war. Er ließ sie noch lange schlafen, bis die Flut, deren Steigen er unablässig beobachtete, sie verjagte. Endlich hob er sie sanft auf, und sie fuhr in heftigem Frösteln zusammen.

»Ach, mein Gott, es ist wahr! ... Es beginnt wieder.«

Sie erinnerte sich und schrie auf, als sie sich von neuem so nahe dem Tode sah.

»Nein, beruhige dich«, murmelte er. »Man kann hindurchkommen, ich schwöre es dir.«

Um zu der schiefen Ebene zu gelangen, mußten sie bis zu den Schultern im Wasser gehen. Der Aufstieg begann durch den verzimmerten Schlund von hundert Meter Länge. Er kletterte hinter ihr und hielt sie mit dem Schädel fest, wenn ihre blutenden, zerschundenen Hände abglitten. Plötzlich stießen sie an Balkensplitter, welche die schiefe Bahn verrammelten. Erde war abgerutscht; ein Einsturz hinderte sie, höher hinaufzudringen. Glücklicherweise war eine Tür da, die in einen Gang führte.

Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen erblickten sie vor sich ein Lampenlicht. Ein Mann rief ihnen wütend zu:

»Gibt es noch mehr solche Dummköpfe wie ich?«

Sie erkannten Chaval; er war durch den Einsturz abgeschnitten worden; die zwei Kameraden, die mit ihm aufgebrochen, waren mit gespaltenem Schädel unterwegs liegengeblieben. Er selbst war am Ellbogen verletzt und hatte den Mut gehabt, auf allen vieren kriechend zurückzukehren, um ihre Lampen und Brotschnitten[531] an sich zu nehmen. Als er dann flüchtete, verlegte ein letzter Einsturz hinter ihm die Galerie.

Er weigerte sich, seine Vorräte mit den Leuten zu teilen, die aus der Erde hervorkamen. Er hätte sie umbringen mögen. Dann erkannte er die beiden, sein Zorn schwand, und er brach in boshaftes Gelächter aus.

»Ach, du bist's, Katharina? Du bist übel gefahren und kehrst zu deinem Mann zurück, wie? Gut, gut, wir wollen zusammen Hochzeit halten.«

Er tat, als sehe er Etienne nicht. Dieser war bestürzt über das Zusammentreffen und hatte eine Bewegung gemacht, um Katharina zu schützen, die sich an ihn schmiegte. Indes mußte er sich in die Lage finden. Er fragte einfach den Kameraden, als seien sie vor einer Stunde in bester Freundschaft geschieden:

»Hast du dich unten umgesehen? Kann man nicht durch die Schläge hindurchkommen?«

Chaval antwortete in seinem höhnischen Ton:

»Ach, die Schläge! Die sind sämtlich eingestürzt; wir befinden uns zwischen zwei Mauern, in einer wahren Mausefalle ... Aber du kannst über die schiefe Ebene zurückkehren, wenn du ein guter Taucher bist.«

In der Tat stieg das Wasser wieder, man hörte das Geplätscher. Der Rückweg war abgeschnitten. Er hatte recht, es war eine Mausefalle, vorn und hinten durch Felsen verrammelt. Kein Ausweg, die drei waren eingemauert.

»Du bleibst also da?« fuhr Chaval höhnisch fort. »Es ist das beste, was du tun kannst, und wenn du mich in Ruhe läßt, will ich nicht ein Wort mit dir reden. Es ist nur Platz für zwei Menschen hier ... Wir werden sehen, wer zuerst stirbt. Es sei denn, daß man kommt, uns zu retten, und das scheint mir schwer möglich.«

»Wenn wir an die Wand pochten, würde man uns vielleicht hören«, hub Etienne wieder an.

»Ich bin des Pochens schon überdrüssig ... Da, versuche es selbst mit diesem Stein.«[532]

Etienne hob das Stück Sandstein auf, das der andere schon zum Teil zerbröckelt hatte, und schlug damit an die Wand im Hintergründe den Hilferuf der Bergleute, das anhaltende Trommeln, womit die in Not geratenen Bergleute stets ihre Anwesenheit bekanntgeben. Dann drückte er das Ohr an die Wand, um zu horchen. Diesen Vorgang wiederholte er zwanzigmal, doch von außen kam keine Antwort.

Inzwischen richtete sich Chaval mit erheuchelter Ruhe häuslich ein. Zunächst stellte er seine drei Lampen an die Wand; nur eine brannte, die anderen sollten später an die Reihe kommen. Dann legte er auf einen Balken die zwei Brotschnitten, die er noch besaß. Das war sein Speiseschrank; bei kluger Wirtschaft werde er mit diesem Vorrat zwei Tage reichen. Zu Katharina sagte er:

»Die Hälfte ist für dich, wenn du gar zu hungrig wirst.«

Das Mädchen schwieg. Um das Maß ihres Unglücks vollzumachen, mußte sie sich nun zwischen diesen beiden Männern befinden.

Chaval und Etienne saßen einige Schritte voneinander entfernt auf dem Boden; keiner von beiden öffnete den Mund. Auf eine Bemerkung Chavals löschte Etienne seine Lampe aus, damit kein Licht verschwendet werde. Dann trat wieder Stille ein. Beunruhigt durch die Blicke, die ihr ehemaliger Geliebter ihr zuwarf, hatte Katharina sich in der Nähe des jungen Mannes ausgestreckt. Die Stunden gingen dahin; man hörte das leise Plätschern des unaufhörlich steigenden Wassers, während von Zeit zu Zeit dumpfe Stöße und fernes Getöse die letzten Einstürze der Grube kündeten. Als die Lampe ausgebrannt war und man eine andere öffnen mußte, um sie anzuzünden, wurden sie von der Angst vor schlagenden Wettern erfaßt; allein sie wollten lieber gleich in die Luft fliegen als in Finsternis bleiben. Es gab indes keine Explosion, sie flogen nicht in die Luft. Sie hatten[533] sich wieder auf der Erde ausgestreckt, und Stunde auf Stunde verrann.

Etienne und Katharina hoben den Kopf, als sie zu ihrer Überraschung ein Geräusch vernahmen. Chaval hatte sich entschlossen zu essen; er hatte die Hälfte einer Brotschnitte genommen und kaute seine Bissen lange, um nicht versucht zu werden, alles auf einmal zu verschlingen. Die zwei waren vom Hunger gefoltert und sahen ihm zu, wie er aß.

»Ist's wirklich wahr, du weist deinen Anteil zurück?« sagte er zu der Schlepperin mit seiner herausfordernden Stimme. »Du tust unrecht.«

Sie hatte die Augen gesenkt, weil sie fürchtete, daß sie der Versuchung nachgeben könne. Ihr Magen war von solchen Krämpfen durchwühlt, daß ihr Tränen aus den Augen rannen. Aber sie begriff, was er wollte. In den Blicken, mit denen er sie rief, loderte eine Flamme, die ihr wohlbekannt war, die Flamme seiner Eifersuchtsanfälle, in denen er sie mit Faustschlägen bearbeitete. Mein Gott! Konnte man denn nicht in Freundschaft aus dem Leben scheiden?

Etienne wäre lieber Hungers gestorben, ehe er Chaval um einen Bissen Brot angegangen wäre. Dumpfe Stille war wieder eingetreten; die Zeit verlängerte sich zur Ewigkeit; Minute reihte sich an Minute, eintönig und hoffnungslos. Ein Tag war vergangen, seitdem sie zusammen eingeschlossen waren. Die zweite Lampe erlosch, sie zündeten die dritte an.

Chaval griff seine zweite Brotschnitte an und brummte:

»So komm' doch, Dummkopf!«

Katharina fuhr zusammen. Etienne wandte sich ab, um ihr ihre Freiheit zu lassen. Als sie sich noch immer nicht rührte, sagte er leise:

»Geh hin, mein Kind!«

Da stürzten ihr die Tränen hervor, die sie fast erstickten. Sie weinte lange und fand nicht die Kraft, sich[534] zu erheben; sie wußte nicht mehr, ob sie Hunger habe, und litt unter einem Schmerz, der ihren ganzen Körper ergriffen hatte. Etienne hatte sich erhoben, ging hin und her und schlug den Hilferuf der Bergleute, wütend darüber, daß er den Rest des Lebens hier Seite an Seite mit dem verhaßten Nebenbuhler zuzubringen genötigt war. Wenn er zehn Schritte gemacht hatte, mußte er umkehren und gegen diesen Menschen stoßen. Und sie, das traurige Mädchen, um das sie noch unter der Erde stritten: sie werde dem letzten Lebenden gehören; dieser Mensch werde sie ihm wieder stehlen, wenn er zuerst von hinnen gehen sollte. Stunden folgten auf Stunden; das Zusammenleben wurde immer unerträglicher. Zweimal rannte Etienne gegen den Felsen, als wolle er sich mit Faustschlägen einen Weg bahnen.

Chaval hatte sich zu Katharina gesetzt und mit ihr die letzte halbe Brotschnitte geteilt. Sie kaute mühselig, und er machte sich für jeden Bissen mit einer Liebkosung bezahlt in seiner Eifersucht. Erschöpft ließ sie ihn gewähren; doch als er sie ergreifen wollte, klagte sie.

»Ach, laß mich, du zerbrichst mir die Knochen.«

Etienne zitterte am ganzen Leibe; er hatte die Stirn gegen die Hölzer gedrückt, um nichts zu sehen. Doch jetzt verließ ihn seine Ruhe, und mit einem Satz kam er zurück.

»Laß sie los!« schrie er.

»Was geht es dich an?« entgegnete Chaval. »Sie ist mein Weib!«

Er ergriff sie wieder und drückte sie an sich aus reiner Prahlerei; und während er seinen roten Schnurrbart auf ihren Mund preßte, fuhr er fort:

»Laß uns in Frieden und tue uns den Gefallen wegzuschauen!«

Doch Etienne rief mit bleichen Lippen:

»Laß sie los, oder ich erwürge dich!«

Hastig erhob sich der andere; er hatte an dem Zischen der Stimme des Kameraden erkannt, daß er ein Ende[535] machen wolle. Der Tod schien ihnen zu langsam zu kommen; jetzt, sofort mußte der eine dem andern Platz machen.

»Nimm dich in acht!« brummte Chaval. »Diesmal töte ich dich!«

Etienne war in diesem Augenblick wie toll. Roter Nebel trübte seine Augen; ein Blutstrom stieg ihm in die Kehle und drohte ihn zu ersticken. Das Bedürfnis zu töten erfaßte ihn unwiderstehlich, ein körperliches Bedürfnis, gleich dem Reiz der Schleimhaut, der einen Hustenanfall hervorruft. Er ergriff einen aus der Wand hervorragenden Schieferblock, lockerte ihn und riß ihn heraus; es war ein breites, schweres Stück. Er packte es mit verzehnfachter Kraft und schlug damit auf Chavals Schädel.

Dieser hatte nicht mehr Zeit gehabt zurückzuspringen; mit gespaltenem Schädel und zermalmtem Gesicht sank er zu Boden. Das Gehirn war zur Decke der Galerie emporgespritzt; ein roter Strahl schoß aus der entsetzlichen Wunde, gleich dem unaufhörlichen Strahl einer Quelle. Eine Blutlache entstand, in der das rauchige Licht der Lampe sich widerspiegelte. Schatten lagerte auf der gemauerten Höhle; die Leiche am Boden glich einem Haufen von Kohlenabfällen.

Etienne beugte sich nieder und betrachtete mit weit geöffneten Augen den Erschlagenen. So war es denn geschehen: er hatte getötet. Die verworrene Erinnerung an alle seine Kämpfe stieg in ihm auf; der unnütze Widerstand gegen das in seinen Muskeln schlummernde Gift, gegen den von seinem ganzen Geschlecht langsam angesammelten Alkohol. Seine Haare sträubten sich vor der Abscheulichkeit dieses Mordes; trotzdem seine bessere Einsicht sich dagegen auflehnte, schlug sein Herz stürmisch in der tierischen Freude, endlich seine Gier befriedigt zu haben. Dann stieg der Stolz des Stärkeren in ihm auf. Der kleine Soldat tauchte vor ihm auf, dessen Hals vom Messer eines Knaben durchbohrt war. Jetzt hatte auch er getötet.[536]

Katharina, die neben ihm stand, stieß einen Schrei aus.

»Mein Gott, er ist tot!«

»Bedauerst du ihn?« fragte Etienne wild.

Sie erstickte fast und brachte kein Wort hervor; dann wankte sie und warf sich ihm in die Arme.

»Ach, töte auch mich! Laß uns beide sterben!«

Sie umschlang ihn, hängte sich an seine Schultern, und auch er preßte sie an sich, und sie hofften so zu sterben. Doch der Tod hatte keine Eile; ihre Arme lösten sich wieder. Dann – während sie die Hände vor die Augen legte – schleppte er den Erbärmlichen fort und warf ihn in die schiefe Ebene hinab, um ihn aus dem engen Raum zu entfernen, wo sie noch verweilen mußten. Mit dieser Leiche zu Füßen wäre das Leben unmöglich gewesen. Sie entsetzten sich von neuem, als sie ihn ins Wasser fallen hörten, daß der Gischt hoch aufspritzte. Das Wasser hatte also auch dies Loch schon angefüllt; sie sahen es; es erreichte schon die Galerie.

Sie hatten die letzte Lampe angezündet, die das Wasser beleuchtete, das unaufhaltsam stieg. Zuerst reichte es ihnen bis zu den Knöcheln, dann bespülte es ihr Knie. Der Gang war abschüssig angelegt; sie flüchteten in den Hintergrund, und dies gewährte ihnen Ruhe für einige Stunden. Allein die Flut erreichte sie wieder; sie standen bis zum Gürtel im Wasser. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt betrachteten sie das unablässige Steigen des Wassers. Wenn es ihren Mund erreichte, war es aus. Die Lampe, die sie aufgehängt hatten, warf fahles, gelbes Licht auf die sich kräuselnde Wasserfläche; das Licht wurde immer blasser, sie sahen bald nur einen Halbkreis, der immer kleiner wurde, gleichsam verzehrt von dem Schatten, der mit der Flut zu wachsen schien. Plötzlich waren sie in Dunkel gehüllt, die Lampe war erloschen, nachdem sie den letzten Tropfen Öl aufgesogen hatte. Es war vollständige Nacht; die Nacht der Erde, wo sie schlafen würden, ohne jemals die Augen im Sonnenlicht wieder zu öffnen.

»Donner Gottes!« fluchte Etienne.[537]

Katharina suchte Schutz an seinem Körper. Mit leiser Stimme flüsterte sie das Wort der Bergleute:

»Der Tod löscht die Lampe aus.«

Doch bald erwachte ihr Lebenstrieb von neuem. Etienne begann mit dem Haken der Lampe heftig die Wand zu bearbeiten, um sie auszuhöhlen, und sie half ihm mit ihren Fingernägeln. So stellten sie eine Art Bank her, und als sie hinaufgeklettert waren, saßen sie mit hängenden Beinen und gebeugtem Rücken, denn die Wölbung zwang sie den Kopf zu neigen. Das Wasser benetzte jetzt nur ihre Sohlen; aber bald fühlten sie eisige Kälte an Knöcheln, Waden und Knien. Die Bank bedeckte sich mit glitschiger Nässe, so daß sie sich fest anklammern mußten, um nicht hinabzugleiten. Es war das Ende; wie lange würden sie aushalten können in dieser Nische, die ihr letzter Zufluchtsort war, wo sie nicht eine Bewegung zu machen wagten, erschöpft, ausgehungert, ohne Brot, ohne Licht? Sie litten hauptsächlich durch die Finsternis; es herrschte tiefe Stille; in der ersäuften Grube regte sich nichts. Sie fühlten jetzt unter ihren Füßen nichts mehr als dies Meer, dessen Flut aus den Tiefen der Galerien unablässig genährt wurde.

Die Qual ließ die Minuten rasch dahinschwinden anstatt sie zu verlängern. Sie glaubten erst seit zwei Tagen und einer Nacht eingeschlossen zu sein, während in Wirklichkeit schon der dritte Tag zu Ende ging. Alle Hoffnung auf Hilfe war geschwunden; niemand wußte, daß sie da seien; niemand hatte die Macht hierherzugelangen; wenn die Überschwemmung sie nicht verschlang, mußten sie vor Hunger umkommen. Ein letztes Mal waren sie auf den Einfall gekommen, den Hilferuf zu pochen; allein das Stück Sandstein war unten liegengeblieben. Wer würde sie übrigens hören?

Katharina hatte ihr schmerzendes Haupt mutlos an die Wand gelehnt, als sie plötzlich erbebte und sich aufrichtete.

»Horch!« sagte sie.[538]

Zuerst glaubte Etienne, sie spreche von dem leisen Geräusch, der steigenden Flut. Er log, um sie zu beruhigen.

»Mich hörst du; ich bewege die Beine.«

»Nein, nein, nicht das ... Da unten, horch!«

Und sie drückte das Ohr an die Kohlenwand. Er begriff und tat wie sie. Beklommenen Herzens harrten sie einige Sekunden. Dann hörten sie aus weiter Ferne drei Schläge, sehr leise und in großen Zwischenräumen. Aber sie zweifelten noch; ihre Ohren klangen; es war vielleicht ein Krachen in der Erde. Sie wußten nicht, womit sie pochen sollten, um zu antworten.

Etienne hatte einen Einfall.

»Du hast deine Holzschuhe; hebe die Füße und poche mit den Absätzen.«

Sie pochte den Hilferuf der Bergleute; und sie horchten und unterschieden abermals drei Schläge aus der Ferne. Zwanzigmal begannen sie von neuem, und zwanzigmal kam die Antwort. Sie weinten vor Ergriffenheit und umarmten sich, auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren. Endlich waren die Kameraden da; endlich kamen sie. Im Überströmen ihrer Freude und ihrer Liebe schwanden die Qualen des Harrens, die Wut über die lange vergebens wiederholten Anrufe, als ob die Retter den Felsen spalten könnten, um sie zu befreien.

»Ist es nicht ein Glück, daß ich den Kopf an die Wand gelehnt habe?« rief sie fröhlich aus.

»Du hast ein feines Ohr!« antwortete er. »Ich habe nichts gehört.«

Von diesem Augenblick an lösten sie einander ab; immer horchte einer, bereit, auf das leiseste Signal zu antworten. Bald hörten sie die mit der Spitzhacke geführten Hiebe; man begann die Rettungsarbeiten, eine Galerie wurde angelegt. Nicht das geringste Geräusch entging ihnen. Doch rasch sank ihre Freude. Vergebens lachten sie, um sich gegenseitig über ihre Stimmung zu täuschen; die Verzweiflung bemächtigte sich ihrer[539] wieder. Anfänglich ergingen sie sich in weitläufigen Erklärungen: man nähere sich ihnen augenscheinlich durch die Réquillartgrube; die Galerie senke sich durch die Kohlenschicht herab; vielleicht lege man mehrere an; denn es seien drei Männer bei der Arbeit. Dann redeten sie weniger, und schließlich schwiegen sie ganz, wenn sie die ungeheure Gesteinmasse berechneten, die sie von den Kameraden trennte. In der Stille spannen sie ihre Gedanken fort; sie berechneten, wie viele Tage und Nächte ein Arbeiter brauche, um einen solchen Block durchzuschlagen. Man werde sie nicht früh genug erreichen; sie würden bis dahin zwanzigmal gestorben sein. In düsterer Stimmung, ohne in ihrer erhöhten Angst ein Wort auszutauschen, antworteten sie auf die Anrufe mit einem anhaltenden Pochen der Holzschuhe ohne Hoffnung, nur in dem mechanischen Bedürfnis, jenen kundzugeben, daß sie noch lebten.

Es verging ein Tag und noch ein zweiter. Sie waren seit sechs Tagen in der Grube. Das Wasser, das ihnen bis zu den Knien reichte, stieg nicht mehr und sank auch nicht; ihre Beine schienen in dem eisigen Bade zu zerfließen. Auf eine Stunde konnten sie sie wohl heraufziehen, aber ihre Lage wurde dann so unbequem, daß sie, von schrecklichen Krämpfen erfaßt, die Beine wieder hängen lassen mußten. Alle zehn Minuten rückten sie auf den glitschigen Felsen hinauf. Die Kanten der Kohlenwand zerrissen ihnen den Rücken; sie fühlten im Nacken einen dauernden, heftigen Schmerz, weil sie immer gebeugt sitzen mußten, um sich den Schädel nicht einzustoßen. Das Atmen wurde immer schwieriger; die vom Wasser zurückgedrängte Luft verdichtete sich in dieser Glocke, in der sie eingeschlossen waren. Ihre gedämpften Stimmen schienen weither zu kommen. Ihre Ohren summten; es war, als hörten sie schrilles Sturmläuten, den Galopp einer Herde unter endlosem Hagelschauer.

Anfänglich litt Katharina furchtbar durch den Hunger. Sie fuhr mit den mageren, gekrümmten Händen[540] nach der Kehle, aus der ihr keuchender Atem hervorbrach, eine fortwährende, herzzerreißende Klage. Es war, als wolle man ihr mit einer Zange den Magen aus dem Leibe reißen. Etienne, der die nämlichen Qualen litt, tastete fieberhaft umher in der Finsternis, und als seine Finger auf ein morsches Stück der Verzimmerung stießen, zermalmte er es mit den Fingernägeln und gab eine Handvoll dem Mädchen, das den Holszstaub gierig verschlang. Zwei Tage lebten sie von morschem Holz; sie verzehrten das ganze Stück und waren trostlos, als es zu Ende war; sie zerrissen sich die Hände, um ein anderes Stück zu finden, es gelang aber nicht, die anderen Hölzer waren fest, ihre Fasern gaben nicht nach. Ihre Marter wurde immer größer; sie waren wütend, daß sie die Leinwand ihrer Kleidung nicht zerkauen konnten. Ein Ledergürtel, der die Jacke zusammenhielt, brachte ihnen kurze Hilfe. Er zerlegte ihn mit den Zähnen in kleine Fetzen, die sie zermalmte und verschlang. Es beschäftigte ihre Kinnladen; sie konnten sich einbilden, daß sie aßen. Als der Ledergürtel aufgezehrt war, machten sie sich wieder an die Leinwand, an der sie stundenlang sogen.

Doch diese heftigen Anfälle legten sich bald; der Hunger war nur noch ein tiefer, dumpfer Schmerz, das langsame, fortschreitende Ermatten aller Kräfte. Sie wären sicherlich ihren Leiden erlegen, wenn sie nicht Wasser gehabt hätten, soviel sie wollten. Sie brauchten sich nur zu bücken und konnten aus der hohlen Hand trinken. Dies taten sie auch unzählige Male, von einem solchen Durst gequält, daß all das Wasser nicht hingereicht hätte, ihn zu löschen.

Als Katharina am siebenten Tage sich bückte, um zu trinken, stieß ihre Hand an einen schwimmenden Körper.

»Schau ... was ist das?« sagte sie.

Etienne tastete in der Finsternis.

»Ich begreife nicht; es ist wie die Decke einer Lüftungstür.«[541]

Sie trank; doch als sie ein zweites Mal schöpfen wollte, traf ihre Hand wieder den Körper, und sie stieß einen furchtbaren Schrei aus.

»Mein Gott, er ist's!«

»Wer denn?«

»Er, du weißt! ... Ich habe seinen Schnurrbart gefühlt.«

Es war die Leiche Chavals, die, durch die Flut heraufgeschwemmt, bis zu ihnen gekommen war. Etienne streckte den Arm aus und fühlte nun auch den Schnurrbart und die plattgeschlagene Nase. Ein Schauer des Ekels und der Furcht schüttelte ihn. Von fürchterlichem Abscheu ergriffen, spie Katharina das Wasser aus. Es war ihr, als habe sie Blut getrunken, als sei jetzt all das tiefe Wasser vor ihr das Blut dieses Menschen.

»Wart'«, stammelte Etienne; »ich will ihn wieder fortschicken.«

Mit einem Fußtritte stieß er die Leiche weg; doch bald fühlten sie sie wieder an ihren Beinen.

»So geh doch zum Teufel!« rief Etienne.

Ein drittes Mal mußte er ihn herankommen lassen. Die Strömung schwemmte den Leichnam immer wieder herbei. Chaval wollte sich nicht entfernen; er wollte ganz nahe bei ihnen sein. Es war ein furchtbarer Genosse, der die Luft verpestete. An diesem Tage tranken sie nicht; sie kämpften gegen den Durst und wollten lieber sterben; erst am folgenden Tage zwang sie die Qual; sie stießen bei jedem Schluck die Leiche weg. Es war nicht der Mühe wert gewesen, ihm den Schädel zu zerschlagen, wenn er in seiner hartnäckigen Eifersucht wiederkam. Bis ans Ende wollte er da sein, selbst als Leiche, um sie zu ängstigen.

Noch ein Tag und wieder ein Tag. Bei jedem Kräuseln des Wassers empfing Etienne einen leichten Stoß des Mannes, den er getötet hatte; es war gleichsam die Berührung eines Nachbarn mit dem Ellbogen, zur Erinnerung, daß er da sei. Und jedesmal erbebte er.[542] Unaufhörlich sah er ihn, aufgedunsen, grün, mit dem roten Schnurrbart in dem zermalmten Gesicht. Dann verwirrten sich seine Erinnerungen; er hatte ihn nicht getötet; der andere schwamm einfach da herum und wollte ihn beißen. Katharina wurde jetzt von endlosen Weinkrämpfen geschüttelt, nach denen sie jedesmal in vollständige Erschöpfung versank. Sie verfiel schließlich in einen Zustand unbezwinglicher Schlafsucht. Er weckte sie; sie stammelte unverständliche Worte und schlief sogleich wieder ein, ohne auch nur die Augenlider zu heben. Aus Furcht, daß sie ins Wasser stürzen könne, hatte er seinen Arm um ihren Leib gelegt. Jetzt antwortete er allein auf den Anruf der Kameraden. Die Schläge der Spitzhacken kamen näher; er hörte sie jetzt hinter seinem Rücken. Aber auch seine Kräfte schwanden; er hatte den Mut verloren, noch länger zu pochen. Man wußte ja, daß sie da seien; wozu sollte er sich ermüden? Es interessierte ihn nicht mehr, ob man komme oder nicht. In bewußtlosem Hinbrüten verflossen Stunden, in denen er sich nicht mehr erinnerte, worauf er wartete.

Ein tröstlicher Umstand trat ein, der sie wieder ein wenig aufrichtete. Das Wasser sank, und Chavals Leiche entfernte sich. Seit neun Tagen arbeitete man an ihrer Befreiung, und sie machten zum erstenmal einige Schritte in der Galerie, als eine furchtbare Erschütterung sie zu Boden schleuderte. Sie suchten sich und hielten sich umfangen, fast den Verstand verlierend, und begriffen nicht, was geschehen war. Aber nichts rührte sich; das Geräusch der Spitzhacken hatte aufgehört.

Sie saßen in einem Winkel Seite an Seite, als Katharina plötzlich leise lachte.

»Draußen muß es schön sein ... Komm, laß uns hinausgehen«, sprach sie.

Etienne hatte anfänglich gegen den Wahnsinn gekämpft; allein er schien anzustecken, seinen fester sitzenden Schädel zu erschüttern; er verlor das genaue[543] Bewußtsein der Wirklichkeit. Alle ihre Sinne verwirrten sich, besonders die Katharinas, die von Fieber geschüttelt und von einem Bedürfnis nach Worten und Gebärden ergriffen wurde. Das Sausen ihrer Ohren war zum Plätschern eines Baches, zu einem Vogelgezwitscher geworden; sie roch den starken Geruch gemähten Grases und sah es ganz klar vor sich; große gelbe Flecke schwebten vor ihren Augen, so breit, daß sie sich draußen wähnte am Kanal, in den Feldern, an einem sonnenhellen Tage.

»Wie schön warm es ist! ... Laß uns beisammen bleiben; immer, ach immer!«

Er preßte sie an sich; sie schmiegte sich in einer langen Liebkosung an ihn und fuhr wie ein glückliches Mädchen fort zu plaudern:

»Wie dumm waren wir. Ich liebte dich sogleich, aber du hast es nicht begriffen und mir geschmollt ...«

Er wurde von ihrer Heiterkeit angesteckt und scherzte mit ihr.

»Du hast mich einmal geschlagen«, sagte er; »jawohl, auf beide Wangen geschlagen.«

»Weil ich dich liebte«, flüsterte sie. »Ich wehrte mich dagegen, an dich zu denken; ich sagte mir, es sei aus. Und im Grunde wußte ich dennoch, daß wir uns eines Tages finden würden. Es fehlte nur eine glückliche Fügung, nicht wahr?«

Ein Schauder erfaßte ihn; er wollte diesen Traum abschütteln; dann wiederholte er langsam:

»Man soll niemals sagen, daß alles aus ist; es genügt ein klein wenig Glück, und alles kommt wieder.«

»Du behältst mich also bei dir? Diesmal ist's wirklich wahr?«

Sie entglitt fast seinen Armen. So schwach war sie, daß ihre Stimme erlosch. Erschrocken hielt er sie fest.

»Du leidest?« fragte er.

Sie richtete sich erstaunt auf.

»Nein ... keineswegs ... Warum?«[544]

Doch diese Frage hatte sie aus dem Traum erweckt. Sie starrte in die Finsternis und rang die Hände in einem Anfall von Weinkrämpfen.

»Mein Gott! mein Gott! wie schwarz ist es!«

Fort waren die Felder, das wohlriechende Gras, der Vogelsang, das helle Sonnenlicht; geblieben waren die eingestürzte, ersäufte Grube, die stinkende Nacht, diese trübselig feuchte Gruft, in der sie seit so vielen Tagen mit dem Tode rangen. Die Verwirrung ihrer Sinne erhöhte jetzt die Schrecknisse; sie wurde vom Aberglauben ihrer Kindheit wieder erfaßt; sie sah den schwarzen Mann, den alten, toten Bergmann, der nach der Grube zurückkehrt, um schlechten Mädchen den Hals umzudrehen.

»Horch! Hast du gehört?«

»Nein, nichts; ich höre nichts.«

»Es ist der Mann, du weißt ja ... Schau, da ist er ... Die Erde läßt alles Blut fließen, um sich dafür zu rächen, daß man ihr eine Schlagader durchschnitten. Er ist da, schau; er ist schwärzer als die Nacht! ... Ach, ich habe Furcht! Ich habe Furcht! ...«

Sie schwieg, am ganzen Leibe zitternd. Dann fuhr sie in ganz leisem Tone fort:

»Nein; es ist noch immer der andere.«

»Welcher andere?«

»Der, der bei uns ist; der nicht mehr ist.«

Das Gespenst Chavals ließ sie nicht zur Ruhe kommen; sie sprach in verworrenen Worten von ihm; erzählte von ihrem Hundeleben, von dem einzigen Tage, an dem er sich in der Jean-Bart-Grube freundlich gezeigt hatte; und erzählte von den anderen Tagen, an denen es Schläge gegeben, und wie er sie mit seinen Liebkosungen überhäuft, nachdem er sie mit Faustschlägen und Fußtritten halb getötet hatte.

»Ich sage dir, er kommt und wird uns hindern, beisammen zu bleiben ... Die Eifersucht packt ihn wieder ... Schick' ihn weg! Behalte mich bei dir! Behalte mich ganz! ...«[545]

Fest hatte sie sich an ihn gehängt; sie suchte seine Lippen und drückte leidenschaftlich ihren Mund auf seinen Mund. Die Finsternis hellte sich auf; sie sah die Sonne wieder, sie fand das ruhige Lachen der Verliebten wieder. Im Angesicht des Todes wurden sie ganz wahr gegeneinander; sie wollten nicht sterben, ohne die grausame Nacht durch die Strahlen ihrer Liebe zu erhellen.

Dann war gar nichts mehr. Etienne saß auf der Erde immer in dem nämlichen Winkel, Katharina lag unbeweglich auf seinen Knien. So gingen viele Stunden dahin. Er glaubte lange, daß sie schlafe; als er sie berührte, fand er, daß sie kalt und starr sei. Sie war tot. Dennoch rührte er sich nicht, aus Furcht, sie zu wecken. Viele Gedanken kamen ihm: der Wunsch, mit ihr fortzuziehen, die Freude des Zusammenlebens, aber all das war nur vorübergehend, so unklar, daß diese Gedanken kaum seine Stirn streiften wie der Hauch des Schlafes. Er wurde immer schwächer; es blieb ihm so viel Kraft, um eine langsame Bewegung mit der Hand zu machen und sich zu überzeugen, daß sie daliege wie ein schlafendes Kind, in eisiger Starre. Alles versank in Nichts; die Nacht selbst war versunken; er war nirgends mehr, außerhalb des Raumes, außerhalb der Zeit. Etwas pochte neben seinem Haupt; es waren Schläge, die immer stärker, immer näher klangen; in unermeßlicher Mattheit war er anfänglich zu träge, um zu antworten; und jetzt wußte er gar nichts mehr; er träumte, daß sie vor ihm hergehe, und daß er das leise Klappern ihrer Holzschuhe höre. Zwei Tage vergingen so; sie hatte sich nicht mehr bewegt; er berührte sie mit mechanischer Bewegung, beruhigt, daß sie sich so still verhielt.

Jetzt fühlte Etienne eine Erschütterung. Er hörte Gemurmel von Stimmen; Felsen stürzten nieder und rollten zu seinen Füßen. Als er eine Lampe erblickte, begann er zu weinen. Seine blinzelnden Augen folgten dem Lichtschein, entzückt von diesem roten Punkt, der die Finsternis durchdrang. Doch schon trugen ihn Kameraden davon, und er ließ es geschehen, daß sie ihm[546] zwischen den zusammengepreßten Zähnen einige Löffel Fleischbrühe einflößten. Erst in der Galerie Réquillart erkannte er einen von ihnen, den Ingenieur Negrel, der vor ihm stand. Diese beiden Männer, die einander verachteten, der meuterische Arbeiter und der ironische Vorgesetzte: sie sanken einander laut schluchzend in die Arme, in mächtiger Erschütterung alles Menschlichen, das sich in ihnen barg. Es war eine unendliche Traurigkeit, das Elend ganzer Geschlechter, das Übermaß des Jammers, in den das Leben versinken kann.

Als man die tote Katharina hinaufgeschafft hatte, sank die Maheu mit lautem Wehgeschrei an der Leiche ihrer Tochter nieder, und ein Schrei folgte dem andern, lange, unaufhörlich. Mehrere Leichen waren zutage gefördert und auf der Erde niedergelegt worden: Chaval, den man von einem Einsturz erschlagen glaubte, einen Schlepperjungen und zwei Häuer, gleichfalls zerschmettert, mit leerem Schädel und aufgedunsenem Bauch. Mehrere Weiber in der Menge verloren den Verstand, rissen sich die Kleider vom Leibe und zerfleischten sich das Gesicht. Nachdem man ihn an das Lampenlicht gewöhnt und ein wenig mit Nahrung gestärkt hatte, erschien Etienne endlich, bis auf die Knochen abgemagert, die Haare gebleicht. Alle traten zitternd beiseite, als dieser Greis vorüberkam. Auch die Maheu unterbrach ihr Jammergeschrei, um ihn entgeistert mit stieren Augen anzuschauen.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 525-547.
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