Sechstes Kapitel

[290] Johannes war geheilt und konnte wieder gehen; doch seine Knochen waren so schlecht zusammengewachsen, daß er auf beiden Beinen hinkte, und man mußte ihn sehen, wie er in wackeligem Entengang ebenso schnell wie früher mit der Geschicklichkeit eines bösartigen, diebischen Tieres dahineilte.

Diesen Abend stand Johannes bei Anbruch der Dämmerung auf der Straße nach Réquillart auf der Lauer; begleitet von seinen unzertrennlichen Genossen Bebert und Lydia. Auf einem wüsten Felde hatte er sich hinter einem Pfahlzaun verborgen, einer kleinen Gewürzkrämerei gegenüber, die an der Krümmung eines Pfades stand. Eine alte, fast blinde Frau hatte hier einige Säcke Linsen und Erbsen, ganz schwarz vom Staub, zum Verkauf ausgestellt. Johannes schielte mit seinen kleinen Äuglein nach einem alten geräucherten Stockfisch, der, über und über mit Fliegenschmutz bedeckt, vor der Tür hing. Zweimal schon hatte er Bebert ausgesandt, daß er den Fisch herunterhole; aber jedesmal zeigten sich Leute an der Wegkrümmung. Es sei doch[290] ärgerlich, meinte er, daß man in seinen Geschäften gestört werde.

Jetzt erschien ein Herr zu Pferde bei der Wegkrümmung, und die Kinder warfen sich neben dem Zaun platt auf die Erde, als sie Herrn Hennebeau erkannten. Seit dem Streik konnte man ihn oft so auf den Straßen einsam durch die aufrührerischen Dörfer streifend und ruhigen Mutes sich von den in der Gegend herrschenden Zuständen überzeugen sehen. Niemals flog ein Stein an seinen Ohren vorbei; er begegnete nur schweigsamen Leuten, die langsam den Hut zogen; am häufigsten stieß er auf Liebespärchen, die unbekümmert um die Politik in den Winkeln standen. Im Trab ritt er vorüber, das Haupt emporgerichtet, um niemand zu stören. Er sah sehr wohl die drei Kinder in einem Haufen beisammen, die Jungen mit dem Mädchen. Selbst die Kinder suchten sich schon dieses elende Leben zu erheitern! Mit Tränen in den Augen verschwand er steif im Sattel, den Rock militärisch zugeknöpft.

»Verdammt! Wird das heute kein Ende nehmen?« fluchte Johannes ... »Geh, Bebert, zerre den Fisch am Schwanz.«

Doch jetzt kamen wieder zwei Männer, und der Kleine unterdrückte einen Fluch, als er die Stimme seines Bruders Zacharias erkannte, der Mouquet erzählte, wie er ein Vierzigsousstück in einem Rock seines Weibes eingenäht gefunden hatte. Beide lachten vor Vergnügen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Mouquet schlug für den nächsten Tag eine große Kolbenspielpartie vor; man solle um zwei Uhr von Rasseneurs Schenke aufbrechen und nach Montoire bei Marchiennes gehen. Zacharias nahm den Vorschlag an. Man solle sie mit dem Streik in Frieden lassen, sagten sie; wenn man nicht arbeite, wolle man sich wenigstens ein Vergnügen gönnen. Damit bogen sie in die Wegkrümmung ein, als Etienne, der vom Kanal her kam, sie anhielt, um mit ihnen zu sprechen.[291]

»Wollen denn die Kerle hier übernachten?« sagte Johannes außer sich. »Es wird schon dunkel, und die Alte wird die Bude zumachen.«

Jetzt kam noch ein Grubenarbeiter, der nach Réquillart ging. Etienne entfernte sich mit ihm; als sie bei dem Pfahlzaun vorüberkamen, hörte der Knabe sie von der Versammlung im Walde sprechen. Man hatte die Zusammenkunft auf den nächsten Tag verschieben müssen aus Furcht, in einem Tage nicht alle Arbeiterdörfer verständigen zu können.

»Die große Geschichte wird morgen losgehen«, flüsterte Johannes seinen Kameraden zu. »Wir müssen dabei sein. Nachmittags wollen wir uns auf die Strümpfe machen.«

Als die Straße endlich frei war, schickte er Bebert wieder aus.

»Zerre nur keck an dem Schwanz! ... Aber nimm dich in acht, denn die Alte hat einen Besen.«

Glücklicherweise war schon finstere Nacht. Bebert machte einen Satz in die Höhe und riß den Fisch herunter. Er rannte davon, seine Beute schwingend wie einen fliegenden Drachen; seine Genossen liefen hinterdrein. Die Krämerin kam erstaunt aus ihrer Bude hervor; sie begriff nicht, was geschehen war, und sah die Davoneilenden nicht, die sich im Dunkel der Nacht verloren.

Diese drei Taugenichtse wurden nachgerade der Schrecken der ganzen Gegend. Sie hatten nach und nach von dem Lande Besitz ergriffen wie eine wilde Horde. Zuerst hatten sie sich mit dem Werkhof des Voreuxschachtes begnügt und sich im Kohlenlager umhergewälzt, von wo sie schwarz hervorkamen wie die Neger. Dann spielten sie Versteck zwischen den Holzstößen, wie in einem Urwald. Dann hatten sie von dem Hügel Besitz ergriffen; sie glitten die kahlen Stellen hinab, die noch heiß waren von Erdbränden. Sie schlüpften in das Gestrüpp, das die ehemaligen Gruben überwucherte, blieben da ganze Tage verborgen[292] und gaben sich ruhig ihren Spielen hin. Allmählich dehnten sie ihre Eroberungen immer weiter aus, prügelten sich blutig zwischen den Kohlenziegelhaufen und rannten in den Feldern umher, wo sie allerlei Pflanzen ohne Brot aßen; sie durchsuchten die Uferböschungen des Kanals, um Sumpffische zu fangen, die sie roh verschlangen; sie wagten sich kilometerweit fort und drangen bis zu dem Walde Vandame vor, wo sie sich im Frühjahr mit Erdbeeren, im Sommer mit Haselnüssen und Heidelbeeren vollstopften. Bald gehörte ihnen die ganze ungeheure Ebene.

Doch was sie unaufhörlich auf den Straßen zwischen Montsou und Marchiennes umhertrieb, war ein wachsendes Bedürfnis zu stehlen, dem sie mit den gierigen Augen junger Wölfe nachgingen. Johannes blieb der Führer, jagte seine Truppe auf jede Beute los, plünderte die Zwiebelfelder, die Weingärten, die Schaufenster der Kaufläden. Für alle diese Missetaten beschuldigte man in der Gegend die streikenden Grubenarbeiter; man sprach von einer großen, organisierten Räuberbande. Eines Tages zwang er sogar Lydia, ihre Mutter zu bestehlen; er hatte sich von ihr zwei Dutzend Zuckerstücke bringen lassen, die Frau Pierron in einem gläsernen Pokal auf einem Fensterbrettchen aufbewahrte; die Kleine, die dafür halbtotgeprügelt wurde, verriet ihn nicht, so zitterte sie vor seiner Rohheit! Das schlimmste war, daß er bei all diesen Diebstählen den Löwenanteil für sich behielt. Auch Bebert mußte ihm die Beute abliefern und war froh, wenn der Häuptling ihn nicht ohrfeigte.

Seit einiger Zeit trieb Johannes Mißbrauch mit seiner Macht; er prügelte Lydia, wie man sein rechtmäßiges Weib prügelt, und nutzte die Leichtgläubigkeit Beberts aus, ihn in allerlei unangenehme Abenteuer zu verwickeln, weil es ihm Spaß machte, den dicken Jungen, der stärker war als er und ihn mit einem Faustschlage hätte zu Boden strecken können, wie einen Packesel umherzujagen. Er verachtete alle[293] beide, behandelte sie wie seine Sklaven, erzählte ihnen, daß er eine Prinzessin zur Geliebten habe, vor der zu erscheinen sie unwürdig seien. In der Tat geschah es seit acht Tagen, daß er an irgendeiner Straßenecke, bei irgendeiner Wegkrümmung plötzlich verschwand, nachdem er ihnen mit schrecklicher Miene befohlen hatte, nach dem Dorfe zurückzukehren. Vor allem aber sackte er die Beute ein.

So geschah es auch heute.

»Gib her«, sagte er, seinem Kameraden den geräucherten Fisch entreißend, nachdem alle drei bei einer Wegkrümmung nahe bei Réquillart stehengeblieben waren.

Bebert protestierte.

»Ich will etwas davon haben«, sagte er; »ich habe ihn doch genommen.«

»Wie, was?« schrie Johannes. »Du bekommst davon, wenn ich dir gebe; heute gewiß nicht, aber morgen, wenn etwas übrigbleibt.«

Er schnauzte auch Lydia an und stellte die beiden nebeneinander hin wie Soldaten, die das Gewehr schultern. Dann stellte er sich hinter sie und schrie sie an:

»Jetzt werdet ihr fünf Minuten so stehenbleiben, ohne euch umzudrehen ... Wenn ihr wagt, euch umzudrehen, werdet ihr von wilden Tieren gefressen ... Nachher geht ihr geradeswegs nach Hause, und wenn Bebert unterwegs Lydia zu berühren wagt, werde ich es erfahren, und dann gibt es Hiebe.«

Damit verschwand er im Dunkel mit einer solchen Leichtigkeit, daß man selbst das Geräusch seiner nackten Füße nicht hörte. Die beiden Kinder blieben fünf Minuten unbeweglich stehen, ohne sich umzudrehen, aus Furcht, von unbekannter Hand geohrfeigt zu werden. Aus ihrem gemeinsamen Schrecken war allmählich eine tiefe Zuneigung zueinander entstanden. Er dachte daran, sie kräftig in seine Arme zu schließen, wie er es von anderen sah; sie hätte wohl eingewilligt. Aber sie wagten nicht, dem Führer ungehorsam zu sein. Obgleich[294] die Nacht stockfinster war, schritten sie nebeneinander hin, ohne sich zu umarmen, zärtlich und verzweifelt zugleich, in der Überzeugung, daß der Anführer sie von rückwärts ohrfeigen werde, wenn sie sich zu berühren wagten.

Zur nämlichen Stunde war Etienne nach Réquillart gekommen. Am vorhergegangenen Tage hatte die Mouquette ihn flehentlich gebeten wiederzukommen, und er kam, wenn er sich auch schämte. Er kam übrigens in der Absicht, mit ihr zu brechen. Er wollte ihr erklären, daß sie ihn nicht länger verfolgen solle. Man lebe nicht in froher Zeit, und es sei unanständig, sich dem Vergnügen hinzugeben, wenn alle Welt Hungers sterbe. Weil er sie nicht zu Hause fand, beschloß er, sie zu erwarten, und spähte nach den vorüberkommenden Schatten.

Unter dem eingestürzten Turm gähnte halb verschüttet der alte Schacht. Ein aufrecht stehender Balken, der einen Rest des Daches trug, glich einem Galgen. Zwischen der geborstenen Vermauerung waren zwei Bäume aufgesprossen, eine Esche und eine Platane, die aus dem Schlunde der Erde hervorgewachsen schienen. Es war ein verlassener, wüster Winkel, der Rand eines Abgrundes, von Gras und Gestrüpp überwuchert, mit alten Hölzern verlegt, mit Schlehen- und Weißdornsträuchern bestanden, wo im Frühjahr die Grasmücken ihre Nester bauten.

Hinter einem Busch verborgen wartete Etienne geduldig, als er zwischen den Zweigen ein anhaltendes Rascheln vernahm. Er glaubte, es sei eine scheue Blindschleiche. Doch zu seinem Erstaunen sah er ein Zündhölzchen aufflammen, und maßlos war seine Verblüffung, als er Johannes erkannte, der eine Kerze anzündete und alsbald unter der Erde verschwand. Von einer lebhaften Neugier ergriffen, näherte sich Etienne dem Loch: das Kind war verschwunden, ein schwacher Lichtschein kam vom zweiten Leiterabsatz herauf. Er zögerte einen Augenblick; dann ließ er sich hinabrutschen,[295] an den Wurzeln sich festhaltend; ihm war, als falle er die fünfhundertvierundzwanzig Meter hinab; endlich fühlte er eine Leitersprosse unter den Füßen. Vorsichtig stieg er hinab. Johannes mußte nichts gehört haben; Etienne sah unter sich das Licht immer tiefer versinken, während der Schatten des Kleinen, unheimlich und kolossal, sich tanzend fortbewegte, dem Wackeln seiner kranken Beine folgend. Er hüpfte mit der Behendigkeit eines Affen, hielt sich mit den Händen, mit den Füßen, mit dem Kinn fest, wenn die Leitersprossen fehlten.

»Verdammte Kröte!« fluchte Etienne, dem der Atem ausblieb. »Wo zum Teufel geht er denn hin?«

Schon zweimal war er in Gefahr abzustürzen. Seine Füße glitten auf dem feuchten Holze aus. Wenn er wenigstens eine Kerze gehabt hätte wie der Junge; aber er stieß sich jeden Augenblick; er war nur von dem fahlen Lichtschein geleitet, der unter ihm forteilte. Es war wohl schon die zwanzigste Leiter, und der Abstieg dauerte noch fort. Jetzt begann er sie zu zählen; einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Es ging noch immer tiefer hinab. In der erstickenden Hitze summte ihm der Kopf; er glaubte in einen Glutofen hinabzusinken. Endlich gelangte er zu einer Galerie, wo er Johannes mit seinem Licht in einem Seitengang verschwinden sah. Dreißig Leitern: das machte ungefähr zweihundertzehn Meter.

»Wird er mich noch lange herumführen?« dachte er. »Sicherlich ist's der Stall, wo er sich vergräbt.«

Doch der Gang, der zum Stalle führte, war auf der linken Seite durch einen Einsturz verlegt. Die Reise begann von neuem und war jetzt noch schwieriger und gefährlicher als zuvor. Fledermäuse flogen scheu durch die Gänge oder klebten an dem Gewölbe. Er mußte sich sputen, um das Licht nicht aus den Augen zu verlieren; er betrat also die nämliche Galerie. Allein wo das Kind leicht mit der Geschmeidigkeit einer Schlange[296] durchkam, rieb er sich die Haut von den Gliedern. Die Galerie verengte sich – gleich allen alten Gängen – mit jedem Tage mehr unter dem unaufhörlichen Druck des Erdreiches; an manchen Stellen war es nur noch ein Schlauch, der auch bald verschwinden mußte. Bei der Verengung barsten die Hölzer, und Etienne war bei jedem Schritte in Gefahr aufgespießt zu werden. Mit großer Vorsicht drang er vor auf den Knien oder auf dem Bauche, immer die tastenden Hände voraus. Plötzlich fühlte er eine Schar Ratten über seinen Körper dahinlaufen.

»Donner Gottes! Sind wir endlich zur Stelle?« brummte er erschöpft und atemlos.

Er war am Ziele angelangt. In einer Entfernung von einem Kilometer erweiterte sich der Schlauch, und er gelangte in einen Abschnitt, wo die Galerie wunderbar erhalten war. Es war der hintere Teil der ehemaligen Abfuhrgalerie, die, quer in das Gestein gehauen, einer großen, natürlichen Grotte glich. Doch Etienne mußte jetzt haltmachen; er sah aus der Ferne, wie der Junge seine Kerze zwischen zwei Steinen niederstellte und es sich bequem machte, ruhig und erleichtert, wie ein Mensch, der froh ist, zu Hause zu sein. Eine vollständige Einrichtung verwandelte diesen Winkel der Galerie in eine bequeme Behausung. In einem Winkel lag auf der Erde ein Haufen Heu, das ein weiches Lager bildete; aus alten Hölzern war eine Art Tisch zurechtgemacht; darauf lagen vor allem: Brot, Äpfel, mehrere angebrochene Schnapsflaschen. Es war eine wahre Räuberhöhle voll Beute, die seit Wochen aufgehäuft worden, darunter sogar unnütze Dinge wie Seife und Stiefelwichse, Dinge, die nur um des Diebstahls willen gestohlen worden.

»Du hältst wohl die Welt zum besten?« rief Etienne, nachdem er sich einen Augenblick verschnauft hatte. »Du kommst da herunter, um zu schwelgen, während wir oben Hungers sterben?«[297]

Johannes zitterte am ganzen Leibe und glaubte versinken zu müssen. Doch als er den jungen Mann erkannte, beruhigte er sich bald.

»Willst du mit mir essen?« fragte er schließlich. »Ein Stück gebratenen Schellfisch ... Du sollst gleich sehen.«

Er hatte seinen Fisch nicht aus der Hand gelegt und begann den Fliegenschmutz abzukratzen mit einem schönen neuen Messer, einem jener kleinen Dolchmesser in Beinschale, auf das irgendein Wort eingelegt ist. Auf diesem war »Aus Liebe« zu lesen.

»Du hast da ein schönes Messer«, bemerkte Etienne.

»Es ist ein Geschenk von Lydia«, erwiderte Johannes, der sich hütete hinzuzufügen, daß Lydia es auf sein Geheiß einem fahrenden Krämer in Montsou entwendet hatte.

Während er fortfuhr, den Fisch abzukratzen, setzte er in stolzem Ton hinzu:

»Man ist bei mir gut aufgehoben, nicht wahr? ... Es ist etwas wärmer als da oben und riecht viel besser.«

Etienne hatte sich gesetzt und hörte ihm neugierig zu. Sein Zorn war geschwunden; ein Interesse erfaßte ihn für dies verlotterte Kind, das in seinen Lastern so unerschrocken und findig war. In der Tat fühlte er sich wohl in der Tiefe dieser Höhle; die Hitze war nicht mehr so stark; die gleiche Temperatur herrschte hier in allen Jahreszeiten, während oben der Dezemberfrost die Haut der Armen zum Platzen brachte. Wenn die Galerien alt wurden, reinigten sie sich von den schädlichen Gasen; man verspürte jetzt nur noch den Geruch der alten ausgegorenen Hölzer, einen feinen Äthergeruch, wie verschärft durch einen Stich von Gewürznelke. Diese Hölzer boten jetzt übrigens einen ergötzlichen Anblick; sie hatten die blaßgelbe Farbe des Marmors, waren ausgezackt, gleichsam mit weißen Spitzen besetzt; ein schneeiges, flockiges Wachstum schien sie mit einer Verzierung von Seide und Perlen zu bekleiden. Andere wieder starrten von Pilzen,[298] Weiße Falter, Fliegen und Spinnen flogen umher, eine farblose Tierwelt, die niemals die Sonne gesehen.

»Hast du denn keine Furcht?« fragte Etienne.

Johannes blickte ihn erstaunt an.

»Furcht? Wovor? Ich bin doch allein.«

Endlich war der Schellfisch abgekratzt. Johannes zündete eine kleines Holzfeuer an, breitete die Glut aus und ließ den Fisch braten. Dann schnitt er ein Brot in zwei Teile. Es war ein furchtbar gesalzenes Essen, aber für gute Magen sehr köstlich.

Etienne hatte seinen Teil genommen.

»Es nimmt mich nicht mehr wunder, daß du fett wirst, während wir abmagern«, sagte er. »Es ist doch unanständig von dir, dich so zu mästen, ohne an die andern zu denken.«

»Warum sind die andern so dumm?«

»Übrigens hast du ganz recht, dich zu verbergen; wenn dein Vater erführe, daß du stiehlst, würde er dir das Fell über die Ohren ziehen.«

»Die Spießbürger bestehlen uns wohl nicht? Du sagst es doch selbst immer. Dies Brot, das ich bei Maigrat stibitzte, ist sicher ein Brot, das er uns schuldete.«

Der junge Mann sagte nichts; er hatte den Mund voll und war verlegen. Er betrachtete den Jungen mit seinem breiten Mund, seinen grünen Augen, seinen großen Ohren, in seiner Entartung einer Mißgeburt gleich, mit trübem Verstande und der Verschlagenheit eines Wilden, der allmählich vertiert. Die Grube, die ihn hervorgebracht, hatte ihm auch den Garaus gemacht, indem sie ihm die Beine zerschlug.

»Bringst du auch Lydia manchmal hierher?« fragte Etienne weiter.

»Die Kleine? Fällt mir nicht ein!« erwiderte Johannes mit einem verächtlichen Lachen. – »Die Weiber sind geschwätzig.«

Er lachte wieder in unermeßlicher Verachtung gegen Lydia und Bebert. Niemals habe man so alberne Kinder gesehen, meinte er. Wenn er sich erinnerte, wie sie alle[299] seine Lügen ruhig hinnahmen und mit leeren Händen ihrer Wege gingen, während er hier sich mit gebratenem Fisch gütlich tat, mußte er sich vor Lachen die Seiten halten. Er schloß seine Betrachtungen, indem er mit dem Ernst eines kleinen Philosophen bemerkte:

»Es ist besser allein zu sein; da verträgt man sich immer.«

Etienne hatte sein Brot verzehrt und trank einen Schluck Wacholderbranntwein. Einen Augenblick hatte er sich gefragt, ob es nicht Johannes' Gastfreundschaft mit Undank lohnen hieße, wenn er den Jungen beim Ohr ans Tageslicht führe und ihm das fernere Stehlen verbiete unter der Drohung, seinem Vater alles zu sagen. Indem er jedoch diesen tief verborgenen Schlupfwinkel betrachtete, kam er auf einen Einfall: wer weiß, ob er seiner nicht für seine Kameraden oder für sich selbst bedürfe, falls die Dinge da oben eine schlimme Wendung nehmen sollten? Er ließ daher den Knaben schwören, nicht mehr über Nacht auszubleiben, wie es manchmal geschah, wenn er zu lange auf seinem Heulager verweilte. Dann nahm er ein Endchen Kerze und ging voraus, während der andere sein Hauswesen in Ordnung brachte.

Die Mouquette erwartete ihn in verzweifelter Stimmung, trotz der großen Kälte auf einem Balken sitzend. Als sie ihn erblickte, warf sie sich ihm an den Hals; ihr war, als habe er ihr ein Messer ins Herz gestoßen, als er ihr seinen Entschluß mitteilte, sie nicht mehr aufzusuchen. Mein Gott, warum denn? Liebte sie ihn nicht genug? Weil er fürchtete, daß er der Versuchung, bei ihr einzutreten, nachgeben könne, zog er sie auf die Straße und erklärte ihr in schonender Weise, daß sie ihn in den Augen der Kameraden bloßstelle, daß sie der Sache der Politik schade. Sie war erstaunt. Wie konnte das der Politik schaden? Sie kam schließlich auf den Gedanken, daß er sich vielleicht ihrer schäme; sie wäre übrigens nicht verletzt, fände es vielmehr natürlich; und sie machte ihm den Vorschlag, daß er[300] sie vor den Leuten ohrfeige, damit es den Anschein habe, als wollten sie miteinander brechen. Aber er solle sie doch von Zeit zu Zeit besuchen, und sei es auch nur auf wenige Augenblicke. Schier außer sich, flehte sie ihn an; sie versprach, sich zu verbergen, ihn nur fünf Minuten bei sich zu halten. Wenngleich er sehr gerührt war von ihren Bitten, weigerte er sich. Es müsse sein, sagte er. Als er sie verließ, willigte er aber ein, sie noch einmal zu küssen. Schritt für Schritt waren sie bei den ersten Häusern von Montsou angelangt, und sie lagen im vollen Mondlichte einander in den Armen, als eine Weibsperson an ihnen vorüberging.

»Wer ist das?« fragte Etienne unruhig.

»Es ist Katharina«, sagte die Mouquette. »Sie kommt von der Jean-Bart-Grube nach Hause.«

Die Weibsperson ging jetzt gesenkten Hauptes mit müden Schritten weiter. Der junge Mann blickte ihr nach, trostlos, daß sie ihn gesehen, von Gewissensbissen gefoltert. Lebte sie nicht mit einem Manne? Hatte sie ihm nicht das nämliche Leid verursacht auf dem Wege nach Réquillart, als sie sich jenem Manne gab? Aber trotz alledem kränkte es ihn, ihr Gleiches mit Gleichem vergolten zu haben.

»Du magst mich nicht, weil du eine andere liebst«, sagte die Mouquette, als sie schieden.

Am folgenden Tage herrschte prächtiges Wetter; es war ein klarer Frosthimmel, einer jener schönen Wintertage, an denen die hartgefrorene Erde unter den Schritten klingt wie Kristall. Johannes hatte sich um ein Uhr entfernt; er mußte Bebert hinter der Kirche erwarten, und sie mußten ohne Lydia aufbrechen, die von ihrer Mutter wieder im Keller eingesperrt war. Man hatte sie soeben herausgeholt und ihr einen Korb auf den Arm gehängt mit dem Bedeuten, daß sie ihn mit Löwenzahn gefüllt heimbringen müsse, wenn sie nicht wieder auf eine ganze Nacht mit den Ratten eingesperrt sein wolle. Von Angst ergriffen, wollte sie sogleich fort, um den Salat zu sammeln. Doch Johannes brachte sie[301] davon ab; man werde später sehen, meinte er. Auf Polen, das dicke Kaninchen des Rasseneur, hatte er es schon lange abgesehen. Als er bei dem »wohlfeilen Trunk« vorüberkam, lief das Kaninchen gerade auf die Straße heraus. Mit einem Satz hatte er es bei den Ohren erfaßt und schob es sogleich in den Korb der Kleinen. Dann rannten alle drei davon. Es wird ein schöner Spaß, das Tier wie einen Hund bis zum Walde zu jagen.

Doch sie blieben stehen, um Zacharias und Mouquet zuzusehen, die, nachdem sie mit zwei anderen Kameraden einen Schoppen getrunken hatten, ihre große Kolbenspielpartie begannen. Der Einsatz, eine neue Mütze und ein rotes Halstuch, war bei Rasseneur hinterlegt worden. Der erste Gang, vom Voreuxschacht bis zum Pachthof Paillot, eine Strecke von nahezu drei Kilometer, wurde unter den vier Spielern versteigert; Zacharias erstand ihn; er wettete auf sieben Schläge, während Mouquet acht forderte. Man setzte die Kugel, ein eiförmiges Stück Buchsholz, mit der Spitze nach oben auf das Pflaster. Alle hielten ihre »Kolben« bereit, Schlegel mit schiefgestellter Metallscheibe und langem, mit einer Schnur fest umsponnenem Stiel. Um zwei Uhr begann das Spiel. Zacharias erwies sich als sehr stark; mit seinem ersten Zug, der aus drei Schlägen bestand, schleuderte er die Kugel mehr als vierhundert Meter weit über die Rübenfelder; denn es war verboten, in den Dörfern und auf den Straßen, wo Leute sich aufhielten, dies gefährliche Spiel zu treiben. Mouquet, der ebenfalls einen kräftigen Arm hatte, schleuderte den Ball mit einem einzigen Hieb hundertfünfzig Meter zurück. Das Spiel dauerte fort; das eine Lager trieb den Ball vorwärts, das andere Lager trieb ihn zurück, immer im Laufschritt, über die hartgefrorenen Felder.

Johannes, Lydia und Bebert waren eine Weile hinter den Spielern hergelaufen, entzückt über ihre prächtigen Schläge. Dann erinnerten sie sich des Kaninchens; sie ließen das Spiel im Stich, schüttelten den Korb, um[302] zu sehen, ob das Tier noch da sei, und holten es hervor, um zu sehen, wie schnell es laufen könne. Das Kaninchen rannte davon, die Kinder hinterdrein; es war eine Hetze, die eine volle Stunde dauerte; das Tier wurde gejagt, durch Zurufe erschreckt, und man suchte es abzufangen, was hundertmal mißlang. Wäre Polen nicht trächtig gewesen, sie hätten es nimmer eingeholt.

Johannes hatte einen Einfall. Er holte eine Schnur aus der Tasche und band sie an die linke Hinterpfote des Kaninchens. Das gab vielen Spaß; das Tier lief schwerfällig vor den drei Rangen einher mit so erbärmlich-drolligem Hinken, daß seine Peiniger sich vor Lachen die Seiten hielten. Dann legten sie ihm die Schnur um den Hals, damit es so laufe. Als das Tier müde wurde, zogen sie es auf Bauch und Rücken nach wie einen kleinen Karren. Es währte schon über eine Stunde, und das arme Tier keuchte zum Erbarmen, als sie es hastig wieder in den Korb schoben, weil sie nahe beim Walde von Cruchot wieder unter die Ballspieler gerieten.

Es schlug fünf Uhr; der Abend dämmerte. Noch ein Spiel galt es bis zum Walde von Vandame: dieses sollte entscheiden, wer die Mütze und das Halstuch gewinne. Zacharias scherzte mit spöttischer Gleichgültigkeit über die Politik; es werde drollig sein, meinte er, mit dem Spiel mitten unter die im Walde versammelten Kameraden zu geraten. Johannes tat, als wolle er sich nur im Freien umhertreiben; doch hatte er seit seinem Aufbruch vom Dorf den Wald als Ziel in Aussicht genommen. Er drohte Lydia mit Schlägen, als diese, von Furcht und Gewissensbissen ergriffen, davon sprach, nach dem Voreuxschacht zurückzukehren, um Löwenzahn zu sammeln. Sie sollten nicht mit bei der Versammlung sein? Er für sein Teil wolle hören, was die Alten redeten. Er drängte auch Bebert vorwärts und schlug vor, sie wollten sich den kurzen Weg bis zum Walde damit vertreiben, daß sie Polen losmachten und mit Steinwürfen verfolgten. Seine Absicht war, das[303] Tier zu töten: ihn erfaßte die Gier, es fortzutragen und in seiner Höhle zu Réquillart zu verzehren. Das Kaninchen begann mit hängenden Ohren wieder zu laufen; ein Steinwurf schlug ihm am Rücken eine Wunde, ein zweiter Steinwurf riß ihm den Schwanz weg; und trotz des wachsenden Dunkels wäre das Tier schließlich getötet worden, wenn die Rangen nicht Etienne und Maheu, die mitten in einer Lichtung standen, erblickt hätten. Sie stürzten sich mit wilder Hast auf das Tier und schoben es wieder in den Korb. Fast in derselben Minute führten Zacharias, Mouquet und die zwei anderen ihren letzten Kolbenhieb und schleuderten die Kugel nach dem Wald, wo sie wenige Meter von der Lichtung niederfiel. Alle waren beim Ort des Stelldicheins angelangt.

Seit Anbruch der Dämmerung sah man in der ganzen Gegend auf den Straßen und Pfaden der kahlen Ebene ein Wandern, ein Dahinströmen stiller Schatten, die einzeln und in Gruppen dem rötlich dunkelnden Walde zustrebten. Jedes Dorf leerte sich; selbst die Frauen und Kinder gingen dahin, als gelte es einen Spaziergang unter dem weiten, klaren Himmel. Es ward jetzt dunkel auf den Wegen; man sah nicht mehr die sich fortbewegende Masse, die nach dem nämlichen Ziel strebte; man fühlte sie nur, wie sie in ihrer unbestimmten Sehnsucht daherzog. Zwischen Hecken und Büschen war ein leichtes Rascheln vernehmbar, ein undeutliches Geräusch von Stimmen der Nacht.

Herr Hennebeau, der eben zu dieser Stunde heimwärts ritt, horchte auf, als er diese verschwommenen Geräusche hörte. Er war zahlreichen Paaren begegnet, einer langen Reihe von Spaziergängern, die den schönen Winterabend im Freien zubringen wollten. Es waren wieder Verliebte, die Mund auf Mund dahinwandelten. Es waren die gewöhnlichen Begegnungen, Mädchen und Burschen, die sich die einzige Freude, die nichts kostete, gönnten. Und diese Schwachköpfe, die das einzige Glück, das Glück der Liebe, im Übermaß genießen[304] konnten, beklagten sich noch über das Leben! Gern hätte er gehungert wie sie, wenn er das Leben von vorn hätte beginnen können mit einer Frau, die sich ihm geschenkt hätte mit der Vollkraft ihres Herzens. Für sein Unglück gab es keinen Trost; er beneidete diese Elenden. Gesenkten Hauptes kehrte er langsam heim, verzweifelt über dieses anhaltende Geräusch, das sich in der finstern Landschaft verlor, wo er nichts als Küsse hörte.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 290-305.
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