[37] Hoffnung

Eine Weile stand ich zweifelhaft und verlegen vor ihm. Scham und Wut, Reue und Entschlossenheit zu jedem Verbrechen, das mich für den Augenblick retten konnte, kämpften in mir. Ich kann nicht beschreiben, was in mir vorging; denn was die Geschichte des flüchtigen Augenblicks war, würde unter meiner Feder sich zu einem Buche ausdehnen, und doch könnte ich's nicht in aller Klarheit darstellen.

»Wenn Sie nicht der sind, wofür ich Sie halte«, sagte ich endlich, »so müßte ich wünschen, daß Sie es wären. Retten Sie mich, sonst bin ich verloren. Retten Sie mich, denn Sie allein sind an meinem entsetzlichen Schicksal schuldig.«

»So macht's der Mensch!« sagte er grinsend: »Er will immer der Reine sein, und hätte er sich auch im Bruderblut gebadet.«[37] »Ja, Sie, mein Herr, waren die erste Ursache alles namenlosen Greuels dieser Nacht. – Warum kamen Sie in der Nacht zu meinem Gartenhause, wo ich ruhig und harmlos schlief, um den Anbruch des Morgens zu erwarten? Hätten Sie mich nicht geweckt, wäre alles nicht geschehen, was geschehen ist.«

»Aber weckte ich Sie zu Treulosigkeit und Mordbrand? So macht's der Mensch. Wenn er Tausende gemeuchelmordet hat, möchte er alle Schuld auf den Bergmann wälzen, der das Eisen aus den finstern Schachten der Erde heraufgeholt hat. Herr, auch Ihr Atemholen ist am Verbrechen Ursache, weil Sie ohne Atem es nicht begehen konnten. Aber ohne Atem hätten Sie auch kein Leben gehabt.«

»Warum spielten Sie denn im Garten bei mir die Rolle des Teufels und sagten so bedeutungsvoll, wer dem Satan nur ein Haar bietet, dessen Kopf zerrt er sich daran nach, wie an einem Seil?«

»Gut das! Habe ich darum Lüge gesprochen? Wer könnte die Wahrheit fürchterlicher bezeugen als Sie selbst? Habe ich das Haar von Ihnen begehrt? Oder haben Sie es mir angeboten? – Aber, Herr, da Sie Julien, Ihre erste Geliebte, sahen, da hätten Sie Ihrer Fanny eingedenk sein müssen. Sie vertrauten Ihrer Tugend zu viel, oder vielmehr, Sie dachten an keine Tugend. Religion und Tugend hätten Ihnen gesagt: Fliehe heim zum Gartenhaus. Herr, der Mensch, sobald sein Versuchungsstündchen schlägt, darf sich der Sünde gegenüber auch das Erlaubteste nicht erlauben. Der erste leichtfertige Gedanke, den man durchschlüpfen läßt, ist das bewußte Haar in des Teufels Klaue.«

»Sie haben recht. Konnte ich aber das voraussehen?«

»Allerdings konnten Sie.«

»Es war unmöglich. Denken Sie nur an das abscheuliche Zusammentreffen der Umstände.«

»Daran hätten Sie als eine Möglichkeit denken sollen. Konnten Sie nicht an den Starosten denken, da Sie sein Weib im Arm hielten? Nicht an die Feuersbrunst, da Sie das Licht in das[38] Stroh schleuderten? nicht an den Brudermord, da Sie die Rosse gegen die Brust des Eigentümers antrieben? – denn der oder ein anderer, jeder Mensch ist Ihr Bruder.«

»Mag sein. Aber bringen Sie mich nicht zu größerer Verzweiflung! Sie müssen wenigstens zugeben, daß der erste Fehltritt hätte ohne alle andern Gräßlichkeiten geschehen können, wenn nicht das Schrecklichste zusammengetroffen wäre, was immer zusammentreffen könnte?«

»Sie irren! Was lag denn Schreckliches darin, daß der Starost seine Frau besuchte? was denn Schreckliches darin, daß man in der Scheune Stroh hatte wie in allen Scheunen? was Schreckliches, daß Ihr unglücklicher Bruder friedlich auf dem Rückweg begriffen war? Nein, Herr, was Sie ein abscheuliches Zusammentreffen heißen, konnte für Sie, wenn Sie auf rechtschaffenen Wegen geblieben wären, ein erfreuliches gewesen sein. Die Welt ist gut, das Gemüt macht sie zur Hölle. Der Mensch ist's, der erst Dolch und Gift macht; außerdem wären die Dinge friedliche Pflugschar oder heilsame Arznei geworden. Denken Sie an keine Rechtfertigung.«

Da schrie ich verzweiflungsvoll auf, denn ich übersah meine ganze Abscheulichkeit. »O!« rief ich, »bis zu dieser Nacht bin ich schuldlos gewesen, ein guter Vater, ein treuer Gatte, ohne Vorwürfe – jetzt bin ich ohne Ruhe, ohne Ehre, ohne Trost!«

»Nein, Herr, auch darin muß ich widersprechen. Sie sind in dieser Nacht nicht erst geworden, was Sie sind, sondern Sie sind es längst gewesen. Man wird nicht in einer Stunde vom Engel zum Teufel, wenn man nicht schon alle Anlagen zum Teufelwerden besitzt. Es fehlte nur an Gelegenheit, daß der inwendige Mensch auswendig wurde. Es fehlte Ihnen die Julie und die Einsamkeit. Im Stahl und Stein schläft das Feuer, wenn man's gleich nicht sieht – nur zusammengeschlagen, es wird schon funkeln. Ein Funke nebenbei fliegt ins Pulverfaß, und eine halbe Stadt mit ihrer Glückseligkeit wird in Schutt und Trümmern gegen den Himmel geschleudert. Lobe mir doch[39] keiner die frommen Leute, die in stolzer Unschuld den armen Sünder zum Galgen begleiten! – daß ihrer nicht mehrere daran hängen, ist bloß Gunst des Zufalls.«

»So tröste ich mich. So ist, wenn Sie die Wahrheit sprechen, die ganze Welt nicht besser als ich und Sie dazu.«

»Nein Herr, Sie irren abermals. Ich gebe Ihnen die halbe Welt preis, aber nicht die ganze. Ich glaube noch an Tugend und Seelengröße, woran Sie eben mit Ihrer vermeinten Seelengröße nie stark glaubten. Aber die halbe Welt, ja! Und besonders in unsern Tagen, wo der Grundzug der Gemüter Schlaffheit, Selbstsucht und feige Gleisnerei ist. Das ist auch der Ihrige. Darum stehen Sie auch hier als Verdammter.«

»Sie können recht haben; aber ich bin nicht besser und schlechter als alle andern Menschen dieser Zeit.«

»Was Sie sind, das scheint Ihnen die Welt zu sein. Wir sehen nie das Draußen in uns, sondern uns selbst in dem Draußen. Es ist alles nur Spiegel.«

»Um Gottes willen, Herr!« rief ich außer mir, »retten Sie mich, denn die Zeit verrinnt. Wenn ich schlecht war, könnte ich nicht besser werden?«

»Allerdings. Not bringt Kraft.«

»Retten Sie mich und Weib und Kind! Ich kann besser, ich will besser werden, da ich mit Schaudern sehe, welcher Verbrechen ich fähig war, deren ich mich nie fähig gehalten haben würde!«

»Es kann werden. Aber Sie sind ein Schwächling. Schwäche ist die Säugamme der verruchtesten Taten. Ich will Sie retten, wenn Sie sich selbst retten können. Kennen Sie mich nun, und was ich von Ihnen will?«

»So sind Sie ein Engel, mein Schutzgeist.«

»Ich bin Ihnen nicht vergebens im Garten erschienen vor Verübung der Greuel. Ich warnte Sie. Doch Mut! Wer Glauben und Mut für das Göttliche bewahrt, behält alles.«

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 37-40.
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