[40] Rettung

[40] Indem der Rotrock diese Worte sprach, kam es mir vor, als wenn sein glutfarbenes Kleid wie helle Flammen um ihn brannte, und wie grünes Feuer schoß es um uns her aus dem Boden empor, aber es waren nur die Bäume. Die Farben zuckten vor meinen Blicken wunderbar durch einander. Zuletzt losch alles aus. Ich lag in Ohnmacht. Ich wußte nichts mehr von mir. Es war mir etwas geschehen.

Dann fühlte ich eine dumpfe Rückkehr des Bewußtseins, im Ohr einen fernen Ton, ums Auge eine Dämmerung von ineinander verschillernden Strahlen. Wie Gedanke, Klang und Licht heller wurden, sann ich über meinen Zustand, aber ich konnte nicht ergründen, was mit mir geschehen sei.

Entweder ist es Ohnmacht oder Wahnsinn oder Sterben – dachte ich; reißt sich die Seele von ihren Nerven, der Geist von seiner Seele los, was bleibt noch? Es geht mit den Sinnen ein Weltall aus, und der Geist schmilzt als unselbständige Kraft ins Reich der Kräfte ein. Dann wäre der Mensch eine Schaumblase, ausgeworfen an der bewegten, ewig wechselnden Oberfläche vom Ozean des Alls, in sich abspiegelnd die grünenden Eilande und die Unendlichkeit des Himmels. Und die abgespiegelten Eilande und Himmel verfliegen mit der Wasserblase, die ins All zurückgeht. – Nein, nein, rief's in mir; darum warst du Verbrecher, weil du Glauben an Gott und dich selbst verloren und dich den Hirngespinsten einseitiger Klügelei ergeben hattest. Das gewaltige Geisterall ist kein totes Meer und der Menschengeist kein Schaum.

So ungefähr dachte ich und schlug die Augen auf. Und über mir schwebte, wie von Wolken gehalten, der Alte in freundlichem Ernst. Ich sah nicht mehr die harten, eisernen Züge, sondern ein mildes Wesen in seinen verklärten Mienen. Doch blendete mich der Glanz, und ich schloß die Augen bald wieder zu und träumte fort. Ich konnte kein Glied regen.[41]

Was ist mir oder wird aus mir, dacht' ich; denn mich deuchte, ich hörte Getümmel von Städten und Dörfern an mir vorüberziehen, bald Sausen bewegter Wälder, bald Ströme rauschen und Meeresbrandungen an Klippen, bald Glockenton der Herden und ferne Hirtengesänge.

»Was geschieht mir? wohin komme ich?« seufzte ich leise mit großer Anstrengung.

Über mir hing immer die Gestalt des Alten, und sein Auge war sorgsam auf mich niedergerichtet. »Ich rette dich!« sagte er mit unendlich sanftem Ton: »Fürchte dich nicht mehr. Du hast dein Leben und deinen Tod gesehen. Schwächling, werde Mann. Ein zweites Mal rette ich dich nicht wieder.«

Darauf dämmerte mir es wieder vor meinen Augen, und mir war, als läge ich in einer Felsenhöhle, in welche das Tageslicht durch enge Klüfte hineinschimmerte. Aber der Alte hing noch immer über mir. Da sagte er: »Jetzt bist du gerettet, und ich verlasse dich. Ich habe deine Wünsche erfüllt.«

»Aber«, seufzte ich, »meine Fanny, meine Kinder! Gib sie mir noch in diese Wüste.«

Der Alte sprach: »Sie gehören dir schon.«

»Und das Gedächtnis meiner Greuel wische aus für alle Ewigkeit, wenn du kannst.«

Der Alte sprach: »Ich will es verwischen, es wird dich nicht mehr betrüben.«

Indem er dies sagte, zerfloß es über mir wie ein Dunst, und ich starrte die grauen Felsen über mir an und begriff von allem nichts. Aber mir war unaussprechlich wohl. Und doch glich alles einem Feenmärchen.

Wie ich noch die Felsen über mir anstarrte, drückte ein unsichtbares Wesen seine Lippen auf die meinigen. Ich fühlte einen warmen Kuß.

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 40-42.
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