[27] Vollendung des Greuels

Indem ich die Treppe hinabging, nahm ich mir vor, in mein Haus zu eilen, meine Frau, meine Kinder zu wecken, sie noch einmal an mein Herz zu drücken, dann wie ein Kain in die Welt hinauszuflüchten, um nicht der Gerechtigkeit in die Hände zu fallen. Aber schon auf der Treppe sah ich meine Kleider ganz vom Blut des Starosten überschüttet. Ich zitterte, erblickt zu werden.

Die Haustür nach der Straße war verschlossen. Als ich zurückeilte, um durch den Hof zu entkommen, hörte ich von der Treppe herab Menschen eilen, schreien und rufen hinter mir. Ich lief über den Hof, zur Scheune. Ich wußte, von da hinaus käme ich in Gärten und Felder außerhalb des Städtchens. Aber[27] die mir nachsetzten, eilten behend genug. Ich war kaum in der Scheune, als mich einer beim Rock erwischte. Mit Höllenangst riß ich mich los und schleuderte meine brennende Kerze in die neben mir hoch aufgetürmten Strohwellen. Es gab plötzlich Flammen. So hoffte ich, mich zu retten. Es gelang. Man ließ von mir los, vermutlich um den Brand zu tilgen. So entkam ich ins Freie.

Ich stürzte blindlings fort, setzte über Hage und Gräben. Meine Fanny, meinen August, meinen Leopold noch einmal zu sehen, daran war nicht zu denken. Der Trieb der Selbsterhaltung überschrie alle andern Gefühle des Herzens und der Natur. Wenn ich an meine gestrige Heimkunft, an meine Erwartungen auf den heutigen nahen Morgen dachte, konnte ich das Geschehene gar nicht für möglich halten. Aber meine blutigen, klebrigen Kleider, der kühle Morgenwind, der mich durchschauerte, sagten mir nur zu sehr das Gegenteil. Ich lief fast atemlos, bis ich nicht mehr konnte. Hätte ich ein Mordwerkzeug bei mir geführt, wäre ein Strom in meiner Nähe gewesen, ich würde aufgehört haben zu leben.

Triefend vom Schweiße, ohne Atem, erschöpft an allen Kräften, mit zitternden Knien setzte ich meine Flucht in langsameren Schritten fort. Ich mußte zuweilen stehenbleiben, um mich zu erholen. Ich war mehrmals daran, ohnmächtig niederzusinken.

So gelangte ich nach dem nächsten Dorf bei unserm Städtchen. Indem ich davor stand und noch überlegte, ob ich es umgehen oder keck durchwandern sollte – denn noch war es mondhell, und die Sonne nicht zum Aufgang –, fing es im Dorfturm an zu läuten. Bald klangen mir auch von andern entfernten Ortschaften Glockentöne. Es war Sturmgeläute.

Jeder Ton zermalmte mich. Ich sah mich um. O Gott, hinter mir weite, dunkelrote Glut, eine ungeheure Flammensäule, die bis zu den Wolken hinaufleckte! Das ganze Städtchen stand in Flammen. Ich – ich war der Mordbrenner! – O meine Fanny, o[28] meine Kinder, welch ein entsetzenvolles Erwachen aus dem stillen Morgenschlummer hat euer Vater bereitet. –

Da ergriff es mich, wie bei den Haaren und hob mich in die Höhe, und meine Sohlen wurden leicht wie Federn. Ich lief in mächtigen Sprüngen um das Dorf herum einem Kiefernwald zu. Die Flammen meiner Heimat leuchteten wie Tageshelle, und die heulenden Sturmglocken dröhnten mit zerreißenden Klängen durch mein zerrüttetes Wesen.

Wie ich die Nacht des Waldes erreicht hatte und so tief hinein war, daß ich nichts mehr vom roten Licht der Feuersbrunst gewahren konnte, in welcher bisher immer mein Schatten vor mir hergaukelte, konnte ich nicht weiter. Ich fiel zur feuchten Erde nieder und brüllte meinen Schmerz aus. Ich schlug mit der Stirn gegen den Boden und raufte krampfhaft Gras und Wurzeln aus. Ich hätte sterben mögen und wußte es nicht zu machen.

Untreuer, Mörder, Mordbrenner, das alles fast in gleicher Stunde. O der Rotrock hatte wohl recht: es gibt unter euch keine Heiligen, als denen die Gelegenheit zur Sünde fehlt. Bietet dem Teufel nur ein Haar, so hat er euern Kopf. Welches unselige Schicksal führte den Satan ins Gartenhaus zu mir! Hätte ich seinen Punsch nicht genommen, ich hätte Julien gesehen, ohne Fannys zu vergessen; hätte ich dies gekonnt, der Starost wäre nicht ermordet; ich würde meine Heimat nicht in Brand gesteckt haben – ich läge nicht hier in der Verzweiflung, mir selbst zum Greuel, der Menschheit zum Fluch.

Inzwischen heulten die Sturmglocken unaufhörlich und schreckten mich wieder empor. Ich freute mich, daß es noch nicht Tag war. So durfte ich hoffen, noch eine gute Strecke unbekannt zurückzulegen. Aber ich sank wieder weinend nieder, da ich mich erinnerte, es sei der erste Mai, es sei meiner Fanny Geburtstag. Wie hatten wir Glücklichen ihn sonst im Kreise der Unserigen heiter gefeiert! Und heut! Welch ein Tag! Welch eine Nacht! – Da durchfuhr mich der Gedanke: es ist Walpurgisnacht![29] – Sonderbar! der alte Aberglaube machte diese Nacht von jeher zur Nacht des Schreckens, in der böse Geister ihr Fest begangen haben sollten, und der Teufel seine Hexen auf dem Gipfel des Blocksberges versammelte. Fast hätte ich an die Wahrheit der albernsten Abscheulichkeit glauben mögen. Der verdächtige Rotrock fiel mir wieder lebhafter mit allen seinen sonderbaren Reden ein. Jetzt – warum soll ich leugnen? – jetzt hätte ich meine Seele darum gegeben, er wäre wirklich gewesen, der er sich bei mir im Gartenhaus scherzend genannt hatte, um mich zu retten, um mir mein Gedächtnis zu rauben, um mir mein Weib, meine Kinder in irgendeinem Winkel der Erde wiederzugeben, wo wir unentdeckt leben könnten.

Aber die Sturmglocken tobten lauter. Ich spürte das Grauen des Morgens. Ich flog auf vom Boden und setzte meine Flucht fort im Gebüsch und kam zur Landstraße.

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 27-30.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Walpurgisnacht
Die Walpurgisnacht