Der Besuch

[304] Aus allem, was die Offiziere erzählt hatten, erhellte, daß der unglückliche Olivier, nach Verlust seines Verstandes, doch immer ein gutmütiger Narr geblieben sei, und daß wahrscheinlich das deutschtümelnde Wesen, welches damals zur Modesucht geworden, ihn etwas über die Gebühr ergriffen oder seinem Wahnsinn wenigstens die Farbe gegeben habe.

Alles das hatte mich tief erschüttert; ich konnte nachts lange keinen Schlaf finden. Als ich am andern Morgen erwachte, war es schon spät; aber ich fühlte mich erquickt und gestärkt. Die Welt erschien mir in viel heitererem Lichte als den Abend zuvor, und ich beschloß, meinen bedauernswürdigen Freund in seinem Verbannungsorte zu besuchen.

Nachdem ich noch flüchtig die Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt hatte, warf ich mich in den Wagen, fuhr bis in die Nacht und kam am folgenden Tage nach Flyeln, in der Nachbarschaft eines Seestädtchens gelegen. Das Dorf Flyeln liegt noch zwei Meilen hinter dieser Stadt. Als der Postmeister hörte, wohin ich wollte, lächelte und meinte, ich werde wohl eine vergebliche Reise machen, denn der Baron lasse sich nicht vor Fremden sehen. Auch erfuhr ich, daß sich sein Gemütszustand nicht gebessert habe, sondern der gute Mann mit der fixen Ideen behaftet sei, die ganze Welt wäre seit Jahrhunderten närrisch geworden, und die Heilung müsse von Flyeln ausgehen. In diesem Prozeß sondere er sich von allen Menschen ab, da die Welt ihn und er die Welt für närrisch halte. Seine Bauern, deren Grundherr er ist, befinden sich übrigens sehr wohl dabei, denn er tut viel für sie. Aber dafür müssen sie auch seinen Grillen in allen Kleinigkeiten[304] gehorchen. Schifferhosen, lange Jacken und runde Hüte tragen; sich den Bart lang wachsen lassen, und alle Leute, wenigstens auf Flyelnschem Grund und Boden, sogar ihren Oberherrn duzen. Abgerechnet diese seine Sparre, wäre er der vernünftigste Mann von der Welt.

Ungeachtet der Warnung des Postmeisters machte ich doch den Versuch, und fuhr hinaus nach Flyeln. Was lag mir daran, noch zwei Meilen vergeblich zu fahren, nachdem ich, um Oliviers willen, mich so weit von meinem Reiseweg hatte abbringen lassen? Und ich hatte keine Ursache zu befürchten, von ihm abgewiesen zu werden, da sein Gedächtnis gelitten haben sollte. Es war freilich ein erbärmlicher, wenig befahrener Weg, der bald durch tiefen Sand, bald durch ausgetretene Bäche und versumpften Boden, bald durch Kieferngestrüpp sich hinzog und meinem Wagen ein paar Male dem Umsturz nahe brachte. Eine Stunde von Flyeln aber wurde die Gegend besser, und eine schöne breite, auf beiden Seiten mit Obstbäumen bepflanzte Fahrstraße verkündete die Nähe eines reichen Gutsbesitzers. Die Felder in der weiten Ebene waren trefflich bestellt; rechts dehnte sich in der Ferne ein hoher Eichenforst mit dunklem Grün, wie ein ungeheurer Laubgewinde aus; links lag das unendliche Meer, ein wallender, weiter Spiegel, der am Rand des Gesichtskreises mit glänzenden Wolken ineinander floß. Flyeln, das Dorf, zeigte sich zwischen Fruchtbäumen, Weiden und Pappeln vor mir; seitwärts erhob sich ein großes, altertümliches Gebäude, das Schloß, wie aus einem Walde von wilden Kastanien hervorsteigend. Abwärts, dem Meere näher, lag das ebenfalls zu Oliviers Herrschaft gehörige Dorf Niederflyeln, malerisch an schroffe Felsen gelehnt, die zuletzt, als umbüschte Klippen, wie kleine Inseln, weit ins Meer hinausgingen. Einige Fischerboote, mit Segeln tanzten am Gestade; auf der Höhe des Meers erblickte man ein segelndes Schiff; die weißen Möwen flatterten scharenweis in den Lüften.

Je näher ich dem Dorfe und dem Schlosse kam, desto malerischer[305] und freundlicher wurde die Umgebung. Es lag in ihr der eigentümliche Reiz einer Seegegend, welche aus der Paarung des Ländlich-Anmutigen mit der Majestät des unübersehbaren Ozeans, des Geborgenen und Friedlichen einfacher Hütten mit dem weiten stürmischen Leben des tückischen Elementes, erwächst. In jedem Fall ist der Verbannungsort meines Freundes reizend genug, um dafür ohne Gram die Freiheit, in geräuschvollen Städten zu wohnen, aufopfern zu können.

Sowohl auf den Feldern als in den Gärten sah ich schon die angekündigten »Flyelner Bärte«. Auch der Wirt, vor dessen Schänke ich hielt und abstieg, war um Kinn und Mund reichlich mit Haarwuchs geschmückt. Er erwiderte meinen Gruß freundlich, schien aber doch über meine Ankunft verwundert. Willst du etwa den Gutsherrn besuchen? fragte er mich höflich. Ich ließ das etwas auffallende Du lächelnd durchgehen und bejahte es. So bitte ich um deinen Namen, Stand und Wohnort. Das muß dem Herrn Olivier gemeldet werden; er nimmt ungern Reisende an.

Aber mich nimmt er gewiß an! Laß er seinem Herrn nur melden, es wünsche ihn einer seiner ältesten und besten Freunde im Vorbeireisen auf ein paar Stunden zu sehen! Mehr lasse er ihm nicht sagen!

Wie du willst, erwiderte der Wirt, aber ich kann dir die abschlägige Antwort voraussagen!

Während der Wirt einen Boten suchte, ging ich langsam durchs Dorf in geradester Richtung gegen das Schloß, zu dem mich ein Fußweg hinzuleiten schien, der zwischen Häusern und Baumgärten dahinlief. Er führte mich aber irre, zu einem Gebäude hin, das ich für ein Waschhaus hielt. Seitwärts, jenseits einer Wiese, floß ein ziemlich breiter Bach, hinter welchem sich die hohen dunkeln Wildkastanien des altertümlichen Stammhauses der Freiherren von Flyeln schattig erhoben. Ich beschloß das Wagestück, mich bei Olivier unangemeldet einzuführen. Ich hatte dem Wirt absichtlich meinen Namen verschwiegen,[306] um, wenn mich Olivier vor sich ließe, zu sehen, ob er mich erkennen würde? Ich ging über die Wiese, fand nach langem Suchen, weiter abwärts über den Bach, Weg und Steg, die mich zwischen Buschwerk, gegen die Wildkastanien zurückführten. Diese beschatteten einen geräumigen, mit grünem Rasen bedeckten runden Platz neben dem Schlosse. Ringsum zog sich im Innern ein breiter mit Sand bestreuter Weg, links und rechts standen zierliche Ruhebänke unter den breiten Zweigen der Bäume, und auf einer der Bänke saß, ich war nicht wenig überrascht, Olivier. Er las in einem Buche. Zu seinen Füßen spielte ein dreijähriges Kind im Grase und neben ihm saß ein bildschöne Frau mit einem Säugling an der Brust. Die Gruppe hatte etwas Wunderbares. Ich stand still, halb vom Gesträuch verdeckt; keiner sah nach mir auf. Meine Augen hingen nur an dem guten Olivier. Der schwarze Bart, der sich ihm um Kinn und Lippen kräuselte und durch den Backenbart mit den dunkeln Locken seines Hauptes zusammenhing, stand ihm wohl. Seine übrige Tracht hatte etwas Eigenes und doch nicht gar Befremdendes. Auf dem Kopf trug er eine Art Barett mit einem Schirm gegen die Sonne; die Brust offen, mit weit überlegtem Hemdkragen; eine grüne weite Jacke, vorn übereinander geknöpft, mit bis gegen das Knie reichenden vorn ganz zusammengehenden Schößen, weiße weite Matrosenhosen und Halbstiefel. Es war ungefähr dieselbe Tracht, welche ich an den Bauern gesehen hatte, nur feinern Stoffs und geschmackvoller. Seine Miene war ruhig und nachdenkend. Auch als Mann, der den Vierzigern entgegenging, konnte er noch schön heißen. Sein Bart gab ihm ein heldenartiges Ansehen; es kam mir vor, als sähe ich eine edle Gestalt aus dem Mittelalter.

Indem trat der Bote meines Schänkwirts vom Schlosse in den Kreis der Bäume. Der junge Bursche zog den kleinen Rundfilz ab und sagte: Herr, es wünscht dich ein Fremder auf der Durchreise zu sprechen! Er sagt, er sei einer deiner ältesten und besten Freunde.[307]

Olivier sah auf und fragte: Durchreise? Ist er zu Fuß?

Nein, er kam mit der Post.

Wie heißt er? Woher ist er?

Das will er nicht sagen.

Er soll mich in Ruhe lassen; ich will ihn nicht sehen! rief Olivier und machte dem Jüngling eine Bewegung mit der Hand, sich fortzubegeben.

Aber du mußt mich doch sehen, Olivier! rief ich, trat hervor und verneigte mich mit einer Entschuldigung gegen die Frau. Er drehte, ohne meinen Gruß zu erwidern, verdrießlich den Kopf nach mir, musterte mich eine Weile mit scharfem Blick, wurde ernster, legte das Buch weg, trat mir näher und sagte: Mit wem habe ich zu sprechen?

Wie, Achilles kennt seinen Patroklus nicht mehr? entgegnete ich ihm.

O Popoi! fuhr er hochbestürzt auf, indem er die Arme auseinander breitete. Sei willkommen, mein edler Patroklus im französischen Frack und gepudertem Haar! – Damit lag er an meiner Brust. Trotz seiner sarkastischen Anrede wurden wir bewegt und zu Tränen weich. In dieser Umarmung schwand ein Zwischenraum von zwanzig Jahren. Wir atmeten wieder wie an den Ufern der Leine, wie zu Bovenden, Norten und auf den Schloßtrümmern der Gleichen.

Darauf führte er mich mit freudestrahlenden Augen zu der reizenden jungen Mutter, die verschämt errötete, und sagte zu ihr: Siehe, dies ist Norbert, du kennst ihn ja aus mancher meiner Erzählungen! – und zu mir: Das ist mein liebes Weib!

Sie lächelte mich unter ihren Locken mit einem wahren Engelslächeln an, und sagte mit einer Miene und einer Stimme, in der noch mehr Güte als in ihrem Worten lag: Edler Freund meines Olivier, sei mir recht sehr willkommen! Ich habe schon lange das Vergnügen deiner persönlichen Bekanntschaft gewünscht.

Ich wollte etwas Verbindliches erwidern; aber ich gestehe,[308] das überraschende trauliche du, welches mir Unbekanntem von so lieblichen Lippen und so unbefangen hingesprochen, entgegenklang, brachte mich für den Augenblick aus aller Fassung.

Meine Gnädige! stammelte ich endlich, ich habe mit dem Umwege von mehr als zwanzig Meilen das Glück nicht zu teuer erkauft, Sie und Ihren Herrn Gemahl, meinen ältesten Freund – –

Holla, Norbert! unterbrach mich Olivier lachend, nur gleich zu Anfang ein vorläufiges Wort, eine Bitte: nenne meine Frau, wie du deinen Gott nennst, einfach du! Störe die schlichten Sitten von Flyeln nicht mit den Schnörkeln deutscher Zeremonien- und Komplimentenmeister; das wäre für unsere Ohren ein unleidlicher Mißklang. Bilde dir jetzt ein, du seist von Deutschland und Europa zweitausend Jahre oder zweitausend Meilen weit geschieden, und lebtest wieder in einer ganz natürlichen Welt, etwa, wenn du willst, im Zeitalter des erfindungsreichen Odysseus!

Also, Olivier, sagte ich, und du begreifst es, mit einer so liebenswürdigen Frau du und du zu sein, läßt man sich nicht zweimal bitten: also Frau Baronin, du – – –

Noch einmal halt! rief Olivier laut lachend dazwischen. Deine Baronin paßt zum Du, wie dein französischer Frack und der rasierte Bart zu dem Namen Patroklus. Meine Bauern sind nicht mehr Leibeigene, sondern freie Herren; ich und meine Frau sind daher nicht mehr und nicht minder Barone, als meine Bauern. Nenne meine Amalia, wie sie hier jeder nennt, Mutter – der edelste Namen des Weibes – oder Frau!

Es scheint, versetzte ich, ihr lieben Leute habt hier mitten im Königreiche eine neue Republik gegründet und allen Adel abgeschafft.

Richtig, allen, bis auf den Adel der Gesinnung! antwortete Olivier. Und daraus siehst du, wir, hier zu Lande, sind noch unendlich aristokratischer, als in euerm Deutschland; denn bei euch dort trägt der Gemütsadel wahrhaftig wenig ein und der[309] Geburtsadel sinkt auch in den Kot, wohin er von Rechts wegen gehört.

Um Verzeihung, du bist etwas jakobinisch gelaunt! entgegnete ich. Wer sagt dir, daß der Geburtsadel bei uns in der öffentlichen Meinung fällt?

O Popoi! rief er, muß ich denn dich noch belehren! Ich kannte vor Jahren noch einen armen, lumpigen Juden, den eure frommen Christen lieber ungeboren als geboren gesehen hätten. Er arbeitete sich aber so viel zusammen, daß er bald Briefe mit dem Prädikat Edelgeboren erhielt. Nach einigen Jahren war er ein reicher Mann, und die höflichen Deutschen begriffen sogleich, daß der Mann von äußerst guter Geburt sein müsse. Alles schrieb ihm von da an sogleich als einem Wohlgebornen Herrn Banquier. Der Banquier half aber mit seinen Dukaten Finanzministern und völkerbeglückenden Kriegsministern aus der Geldklemme. Auf der Stelle wurde der nützliche Millionär ein Hochwohlgeborner Herr Baron von und zu. – Diese Aufklärung der Deutschen, dieser Spott mit dem Adelswesen führt in wenigen Jahrhunderten weiter als du glaubst. Ich glaube aber, ist der Geburtsadel bei euch erst null, so wird der Gemütsadel sich wieder geltend machen.

Um ihren Säugling zur Ruhe zu bringen und mein Zimmer zu ordnen, verließ uns die Baronin mit den Kindern. Olivier führte mich durch seinen Garten, dessen Beete mit den schönsten Blumen besetzt waren. Um einen Springbrunnen standen auf hohen Sockeln von schwarzem Gestein weiße marmorne Brustbilder mit goldenen Unterschriften. Ich las da: Sokrates, Cincinnatus, Columbus, Luther, Bartolome de las Casas, Rousseau, Franklin, Peter der Große. Ich sehe, du liebst noch gute Gesellschaft! sagte ich. Kann man unter den Lebenden Liebenswürdigere finden, als dein niedliches Weib mit den beiden Amoretten, und unter den Toten Ehrwürdigere, als diese da?

Hast du an meinem guten Geschmack gezweifelt? antwortete Olivier.[310]

Das eben nicht; aber, Olivier, du ziehst dich doch sonst, höre ich, von aller Welt zurück, versetzte ich.

Eben weil ich nur gute Gesellschaft liebe, die nirgends weniger in Europa zu Hause ist, als in der Gesellschaft von gutem Ton.

Doch wirst du zugeben, lieber Olivier, daß auch außer Flyeln noch gute Gesellschaft möglich sei!

Allerdings, Norbert, nur möchte ich keine Jahre und Geldsummen verschwenden, um sie zu suchen! Laß uns davon abbrechen! Ihr Europäer seid wie im Wichtigsten, wie im Geringsten, so ungeheuer von der heiligen Einfalt der Natur abgewichen, seit Jahrtausenden zu solchen verkünstelten Tieren entartet, daß euch die Unnatur zur zweiten Natur geworden ist, und ihr einen schlichten Menschen gar nicht mehr versteht. Ihr seid Zerrbilder des Menschengeschlechts geworden, von außen und von innen, daß einem gesunden Wesen unter euch grauen muß. Nein, ehrlicher Norbert, brechen wir davon ab; du würdest mich gar nicht verstehen, wenn ich redete! Ich schätze dich, ich liebe dich, ich bedaure dich!

Bedauern? Warum das?

Weil du unter Narren lebst und wider dein Wissen mit ihnen ein Narr sein mußt.

Bei diesen Worten Oliviers merkte ich, daß er auf seine fixe Idee kam. Es wurde mir unheimlich bei ihm; ich wollte ihn auf andere Gegenstände bringen, sah ängstlich umher, und fing, da mir eben sein Bart wieder auffiel, diesen zu loben an, und daß er ihm so wohl stehe. Seit wann läßt du ihn wachsen? fragte ich.

Seit ich zur Vernunft kam und den Mut hatte, vernünftig zu sein. – Gefällt er dir auch wirklich, Norbert? Warum trägst du nicht auch einen?

Ich zuckte die Achseln und sagte: Wenn es allgemein Sitte wäre, trüge ich ihn mit Freuden.

Da haben wir's! Weil also die Narrheit Sitte ist, die Natur mit dem Barbiermesser auch am Kinn des Mannes mit Stumpf und[311] Stiel auszurotten, hast du nicht einmal den Mut, auch nur in dieser Kleinigkeit vernünftig zu sein. Diesen Schmuck des Mannes gab Mutter Natur so wenig vergebens, als die Locken des Hauptes. Aber der Mensch in seinem Wahne bildete sich ein, weiser als der Schöpfer zu sein, schmierte Seife ums Kinn und glättete es mit dem Messer. So lange die Nationen nicht ganz von der Natur abgefallen waren, behielten sie noch den Bart bei. Trotz dessen, daß ihn noch Christus und die Apostel trugen, erklärte ihn Papst Gregor VII. in den Bann; und doch behielten ihn die Geistlichen am längsten bei, wie noch heute die Kapuziner. Aber als alte Gecken begannen, sich ihres grauen Haares zu schämen, fingen sie an, es am Kinn zu vertilgen und auf dem Kopfe unter Perücken zu verstecken. Weil man sich gegenseitig in allem zu belügen gewohnt war, suchte man sich auch um das Alters zu belügen. Greise hüpften mit blonden Haupthaaren und glattem Kinn, wie weibische Jünglinge, und das machte auch ihre Gemütsart weibischer; und alle andern folgten, weil sie zur Wahrheit keinen Mut hatten. Stelle mir neben die Heldengestalt eines Achilles, Alexander oder Julius Cäsar einen unserer heutigen Generalfeldmarschall-Lieutenants in ihrer geschmacklosen Uniform, einen unserer Elegants oder Zierbengel im Tanzmeister-Schritt neben einen Antinous; dich, Herr Geheimrat von Norbert, neben einen Senator des alten Griechenlands oder Roms, muß man da nicht über unsere Karikaturen aus vollem Halse lachen? –

Du hast recht, Olivier, sagte ich verlegen, und wer wird leugnen, daß die altrömische oder griechische Tracht edler als die unsrige sei? Allein wir Europäer, bei uns im Norden der fest anschließenden Kleider gewohnt und bedürftig, würden uns bei dem malerischen Faltenwurf der Orientalen und Südländer etwas unbehaglich fühlen.

Sieh mich an, Norbert! sagte Olivier lächelnd, stellte sich vor mich hin, drückte das Barett auf seinem Kopf ein wenig seitwärts, stemmte keck die linke Hand auf seine Hüfte und sagte:[312] Ich Nordländer, in meiner anschließenden, bequemen und einfachen Tracht, würde ich denn neben einem altrömischen Bürger so sehr übel aussehen? Warum gefällt uns noch immer die spanische, italienische und deutsche Tracht des Mittelalters? Weil sie, obwohl nordisch, schön ist. Ein österreichischer Reiter im Helm, selbst der Husar würden heute noch dem Auge Julius Cäsars gefallen. Warum, ihr andern steifen Herren, folget ihr nicht dem Bessern, wie unsere Frauen schon begonnen haben, seit sie die Schleppen und gepuderten Toupés ablegten? Würdet ihr euch einmal schämen, von außen Karikaturen zu sein, vielleicht würdet ihr dann auch von innen aufs Natürlichere kommen. Es liegt etwas Wahres in dem Sprichwort: Kleider machen Leute; und ich sage dir, Norbert, meine Amalie hat mich hübscher gefunden, seit ich mir den Bart nur leicht mit der Schere stutzte, aber nicht ganz abnehme; ja, ich glaube, es ist seitdem ihre Zuneigung etwas inniger geworden, seit sie ihre Wange nicht mehr an ein glattes Weibergesicht, sondern an das männliche lehnt; denn das Weib will den Mann männlich!

Indem Olivier so sprach, war er ganz Feuer. Er stand in der Tat wie ein kräftiges, aus einem alten Gemälde lebendig hervorgegangenes Heldengebilde früherer Jahrhunderte vor mir; wie jemand aus einer Welt, die nicht mehr unsere Welt ist, und die wir nur bewundern, aber nicht wiederherstellen können.

Wahrhaftig, du könntest mich, sagte ich zu ihm, zum ehrlichen Bart bekehren, und ich gewänne dabei noch, daß ich der täglichen Folter des Bartscherers entginge!

Freund, rief Olivier lachend, dabei könnte es nicht bleiben; der Bart zieht viel anderes nach sich! Denke dir deine Figur im krausen Bart, und dazu den dreieckigten Schnabelhut auf dem Kopf, wie ein Trödler; das gepuderte Haupt mit dem Rattenschwanz im Nacken, und den französischen Frack mit Rockschößen, die dir hinten wie ein Bachstelzen- oder Schwalbenschwanz stehen. Fort mit den Narrheiten! Kleide dich bescheiden, schamhaft, warm, bequem, aber geschmackvoll, daß es[313] auch dem Auge wohltut und die erhabene Menschengestalt nicht verzerre! Alles Zwecklose verbanne! Eben das Zwecklose ist das Unvernünftige, eben das Unvernünftige ist das Unnatürliche!

Als wir noch über diesen Gegenstand unsern Wortwechsel fortsetzten, ließ uns die Baronin durch einen Diener zum Mittagessen rufen. Ich ging neben Olivier hin und hatte den Kopf voller Gedanken, die ich leider nicht aussprechen durfte. Es war mir ganz wunderlich zumute, und ich mußte den Baron ein paar Mal seitwärts ansehen. In meinem Leben war mir's nicht geworden, einen Irren so philosophieren zu hören. Ich war auch gar nicht imstande, seinen Bemerkungen über die europäische Kleidertracht gründliche Einwendungen entgegenzustellen; was er sagte, schien mir richtig. Hier ließ sich mit Recht das Sprichwort anwenden: Kinder und Narren reden die Wahrheit.

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 304-314.
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