|
[51] Nous sommes tous des Christs qui embrassons nos croix.
E. V.
Jede Empfindung, jede Sensation ist im letzten Grunde Umformung von Schmerz. Alles, was von außen an die Epithel in Schwingung oder Berührung streift, rührt sie feindlich als Schmerz an. Als Schmerz, der dann durch die geheimnisvolle Chemie der Nerven, durch die Übertragung der Zentren sich in Impressionen, in Farben, Töne und Begriffe verwandelt. Der Dichter, dessen letztes Geheimnis es eigentlich ist, sensibler zu sein als die anderen, mit noch zarterem Filter diese Schmerzen der Berührung zum Gefühl zu läutern, muß feinnerviger sein als die anderen. Er muß, wo jene nichts oder ein unbestimmtes Empfinden spüren, schon deutlichen Eindruck haben und ihn mit Gefühl begleiten, ihn werten und erwidern. Bei Verhaeren war schon in den ersten Büchern eine besondere Art der Reaktion auf jeden Anreiz zu bemerken. Sein Gefühl antwortet eigentlich nur auf starke, intensive, grelle Reize, seine Feinfühligkeit war nicht abnorm, sondern nur der energische Rückschlag bemerkenswert. Die ersten künstlerischen Reize, die der flandrischen Landschaften, waren aber nur Empfindungen der Netzhaut, grelle Farben, malerische Reize, und erst in den »Moines« hatten sich feinere seelische Nuancierungen kristallisiert. Inzwischen war eine Wandlung in seinem äußeren Leben erfolgt. Verhaeren hatte sich von der Natur abgewandt, war in die Kultur eingetreten, die andere Erregungen bringt und andere Antworten verlangt. Verhaeren hatte große Reisen gemacht, er war in Paris und London gewesen, in Spanien und in Deutschland, mit ungestümer Hast hatte er alle großen Ideen, alle neuen Formen, die tausendfachen Begriffe[51] des Daseins an sich gerissen. Ohne Pause, unablässig, springen gegen ihn Erlebnisse an und machen ihn müde. Tausend Eindrücke sprechen zu ihm, jeder will Antwort, die großen, finsteren Städte entladen ihr elektrisches Feuer gegen ihn, füllen seine Nerven mit springendem Feuer. Der Himmel über ihm ist verdunkelt von der Wolke der Städte; in London irrt er wie in einem verlorenen Walde. Diese graue, neblige, wie aus Stahl gebaute Stadt wirft ihre ganze Melancholie auf die Seele dessen, der dort einsam lebt, unkund der fremden Sprache, und der noch einsamer wird, weil alle diese Manifestationen des neuen großstädtischen Lebens ihm noch unverständlich sind. Noch weiß er sie dichterisch nicht zu bändigen, und so bleiben sie schmerzhafter Ansprung, wirres, unverständliches Eindringen. Und in dieser neuen Atmosphäre verfeinern sich seine Nerven so rasch und so sehr, daß schon die leiseste Berührung der Außenwelt eine zuckende Reaktion äußert. Wie mit spitzen Nadeln dringt jedes Geräusch, jede Farbe, jeder Gedanke auf ihn ein, seine gesunde Sensibilität wird hypertroph, jene Feinhörigkeit, wie sie sich etwa bei der Seekrankheit einstellt, die jeden Lärm, auch den leisesten Laut wie einen Hammerschlag, jeden verfliegenden Geruch ätzend wie eine Säure, jede Lichtstrahlung wie weißen glühenden Stich auf die Nerven empfindet, unterwühlt seinen ganzen Organismus. Dazu kommt noch eine rein körperliche Indisposition, die mit der seelischen Erkrankung korrespondiert. Es stellte sich bei Verhaeren damals ein nervöses Magenleiden ein, eine jener Reziprozitäten der Physischen und Psychischen, wo kaum zu sagen ist, ob das Magenleiden die neurasthenischen Zustände oder die Schwäche der Nerven die Hemmungen der Verdauungsfunktion erzeugt. Innerlich[52] sind beide Krankheiten koordiniert, beide eine Ablehnung des äußeren Eindruckes, eine ohnmächtige Verweigerung der chemischen Umsetzung. So wie der Magen jede Speise als Schmerz, als Fremdkörper empfindet, so stößt das Ohr jeden Laut als Störung, der Blick jeden Eindruck als Schmerz von sich. Die nervöse Ablehnung der Außenwelt war damals in Verhaerens Leben bereits pathologisch. Die Klingel an der Tür mußte abgeschafft werden, weil sie den Nervösen erschreckte, die Hausbewohner mußten die Schuhe durch Filzpantoffeln ersetzen, die Fenster waren versperrt gegen den Lärm der Straße. Diese Jahre im Leben Verhaerens sind der Tiefstand, die Krise seines Lebensgefühles. In solchen Depressionen sperren sich die Kranken von der Welt ab, von den Menschen, vom Lichte, von dem Lärm, von den Büchern, von allen Berührungen der Außenwelt, weil sie instinktiv fühlen, daß alles ihnen Schmerzerneuerung und nichts ihnen Lebensbereicherung werden kann. Sie suchen die Welt leiser zu machen, tönen ihre Farben ab, vergraben sich in die Monotonie der Einsamkeit. Diese »soudaine lassitude« greift dann über ins Moralische, der Wille erlahmt, weil er keinen Sinn für das Leben findet, alle Werte stürzen in sich zusammen, die Ideale versinken in furchtbarstem Nihilismus. Die Erde wird zum Chaos, der Himmel zum leeren Raum, alles entäußert sich zum Nichts, zum Negativen. Solche Krisen im Leben eines Dichters sind fast immer steril. Und es ist darum von unerhörtem Wert, daß hier ein Dichter sich selbst noch in diesem Zustande beobachtet und veranschaulicht hat, daß er ohne Angst vor der Häßlichkeit, vor der Verworrenheit seines Ichs, die Geschichte einer seelischen Krise künstlerisch geschildert hat. In der Trilogie Verhaerens: »Les Soirs«, »Les[53] Débâcles«, »Les Flambeaux noirs« besitzen wir ein Dokument, das den Pathologen ebenso wie den Psychologen unschätzbar sein muß. Denn hier hat ein tiefer innerlicher Wille, aus jeder Form des Lebens die letzte Konsequenz zu ziehen, das Stadium einer geistigen Erkrankung hart bis an die Grenze des Wahnsinns geschildert, hat ein Dichter beharrlich, so wie ein Arzt noch im wühlenden Schmerz die Symptome seines Leidens verfolgt, in Gedichten den Entzündungsprozeß der Nerven verewigt.
Die Landschaft dieser Bücher ist nicht die heimatliche mehr und kaum noch eine irdische. Sie ist grandiose Traumlandschaft, Horizonte wie von einem anderen Stern, eine jener Welten, die zum Monde ausgekühlt sind, wo die Erdwärme erloschen ist und eisige Windstille kühl die menschenverlassene Ferne füllt. Schon im Buch der Mönche war die heitere Rubenslandschaft verdunkelt, und im nächsten, »Aux Bords de la Route«, hatte sich graue Wolkenhand über die Sonne gelegt. Hier aber sind alle Farben des Lebens verglommen, kein Stern glänzt von diesem stahlgrauen metallischen Himmel, nur ein grausamer, kalter Mond gleitet manchmal darüber wie ein ironisches Lächeln. Es sind Bücher fahler Nächte, wo Wolken mit ungeheuren Flügeln den Himmel verschließen, die Welt eng wird, die Stunden wie Ketten kalt und schwer sich um die Dinge legen. Eisige Kühle erfüllt diese Werke. »Il gèle ...« beginnt ein Gedicht, und dieser schaurige Ton klingt wie das Heulen von Hunden immer und immer wieder in die endlose Fläche. Tot ist die Sonne, tot die Blumen, die Bäume, selbst die Sümpfe sind erfroren in diesen weißen Mitternächten:
»Et la crainte saisit d'un immortel hiver,
D'un grand Dieu soudain, glacial et splendide.«[54]
Immer träumt der Fiebernde von dieser Kälte wie in geheimer Sehnsucht nach ihrer Kühlung. Niemand spricht zu ihm, nur durch die Straßen heulen sinnlos die Winde wie Hunde um das Haus. Manchmal kommen Träume, aber sie sind »fleurs du mal«, sie glühen giftig und gelb aus dem Eise. Immer monotoner werden die Tage, immer furchtbarer, wie Tropfen schwer und schwarz fallen sie herab.
Mes jours toujours plus lourds s'en vont roulant leurs cours.
In diesen Versen ist gedanklich und onomatopoetisch die ganze Furchtbarkeit dieser Öde ausgedrückt. Ohnmächtig hämmert das Ticken der Uhr in diese endlose Leere und mißt eine unfruchtbare Zeit. Immer dunkler wird die Welt, immer drückender, die Träume verzerrt der Hohlspiegel der Einsamkeit zu furchtbaren Fratzen, und wie Geister besprechen sich böse Gedanken im ruhelosen Herzen.
Und wie Nebel, wie eine schwere, erstickende Wolke sinkt über die Seele die Müdigkeit. Zuerst war die Lust an den Dingen gestorben, dann der Wille selbst nach Freude. Nichts will die Seele mehr. Die Nerven haben ihre Fühler von der Außenwelt zurückgezogen, sie fürchten sich vor jedem Eindruck, sie sind matt. Was zufällig noch an sie herantreibt, wird nicht mehr Farbe, nicht mehr Ton, nicht mehr Eindruck, die Sinne sind zu schwach, Eindrücke chemisch umzusetzen: so bleibt alles nur Schmerz, ein leiser, nagender Schmerz. Das Gefühl, dem nun die Nerven keine Nahrung mehr bringen, verhungert, keine Sehnsucht wird mehr wach. Es ist Herbst geworden, alle Blüten sind abgefallen, und der Winter naht.
»Il fait novembre dans mon âme
Et c'est le vent qui clame,
Comme une bête dans mon âme.«[55]
Langsam, aber unaufhaltsam wie eine schwellende Flut steigt ein böser Gedanke hervor: der Gedanke der Sinnlosigkeit alles Lebens, die Idee des Sterbens. Als letzte Sehnsucht schwingt das Wort auf: »Mourir mourir, comme des fleurs trop grands«, denn wie wund ist der ganze Körper von diesen Berührungen mit der Außenwelt, von diesen kleinen, nagenden Schmerzen. Kein einziges großes Gefühl steht mehr aufrecht: alles ist zerfressen von diesem kleinen, nagenden, zuckenden Schmerz. Da bäumt sich der Gequälte auf, so wie ein Tier, gefoltert von den Stichen der Insekten, die Ketten zerreißt und wahnsinnig ins Blinde stürmt. Der Kranke will sich losreißen vom Folterbett, aber er kann nicht mehr zurück. Man kann nicht mehr »se recommencer enfant avec calcul«. Reisen, Träume, all das sind nur Betäubungen, nach denen die Qual des Erwachens doppelt wieder einsetzt. Ein einziger Weg ist offen: der Weg nach vorwärts, der Weg zur Vernichtung. Aus tausend kleinen Schmerzen ersehnt sich der Wille einen einzigen tödlichen, statt des langsamen Verbrennens einen Blitz. Der Kranke will – so wie der Fiebernde sich die Wunde aufreißt – diesen Schmerz, der nur peinigt, aber nicht vernichtet, so groß und mörderisch machen, daß er tödlich wird, er will sich den Stolz retten, selbst die Ursache seines Unterganges zu sein. Der Schmerz soll nicht dieses kleine Stacheln bleiben, er will nicht »mourir, immensement emmaisté d'ennui«, sondern verzehrt werden von einem großen, feurigen, wilden Schmerz; er will einen schönen und tragischen Untergang. Der Wille zum Erlebnis wird hier Wille zum Schmerz und selbst zum Tode. Alle Qual erdulden, nur nicht dies Eine, dies Niedrige, dies Kleine, nur sich selbst nicht so verächtlich fühlen, nicht so krank und niedergebeugt.[56]
»N'entendre plus se taire en sa maison d'ébène
Qu'un silence de fer, dont auraient peur les morts.«
Und mit flagellantischer Lust nährt der Kranke dieses fiebrige Feuer, bis es aufflammt zum lodernden Brande. Verhaerens tiefstes Kunstgeheimnis war von je die Lust am Überschwang, die Kraft der Übertreibung. Und so reißt er auch diesen Schmerz, diese Neurasthenie empor zu einer wundervollen, feurigen und grandiosen Ekstase. Ein Schrei, eine Lust bricht aus dieser Befreiungsidee. Zum erstenmal flammt wieder das Wort der Freude auf in dem Schrei: »La joie enfin me vient de souffrir par moi même, parsque je le veux.« Perverse Freude freilich nur, ein Sophisma, der falsche Triumph des Selbstmörders über das Leben, der das Schicksal besiegt zu haben glaubt, während es ihn doch überwunden hat. Aber auch dieser Trug ist schon sublim.
Durch diese plötzliche Einmengung des Willens wird diese physische Qual der Nerven zum seelischen Ereignis, die Krankheit des Körpers greift über in das Denken, die Neurasthenie wird eine »déformation morale«, der leidende Zwiespalt seines Ichs teilt sich gewissermaßen selbst in einen Schmerzerreger und einen Schmerzbereiter. Das Seelische will sich vom Körperlichen losreißen, sich dem gefolterten Leib entziehen.
»Pour s'en aller vers les lointains et se défaire
De soi et des autres un jour,
En un voyage ardent et mol comme l'amour
Et légendaire ainsi qu'un départ de galère.«
Aber unerbittlich hängen die beiden zusammen, keine Flucht ist möglich, wie sehr auch der Ekel ihn jagt, wenigstens einen Teil seiner selbst zu einem reineren, stilleren und höheren Zustand zu retten. Niemals, glaube ich, ist der Abscheu eines Kranken vor sich[57] selbst, der Wille eines Lebendigen zur Gesundheit grausamer und grandioser geworden, wie in diesem Buche teuflischster Empörung gegen sich selbst. Zerrissen in zwei Teile ist die leidende Seele. In furchtbarer Personifizierung ringen der Henker und der Gerichtete miteinander oder vielmehr gegeneinander. »Se cravacher soi-même«, und schließlich der wütende Schrei: »Se cracher soi-même!« das sind die entsetzlich gellen Schreie des Hasses und des Selbstekels. Mit allen Strängen ihrer aufgepeitschten Kraft reißt die Seele sich von dem faulenden und gequälten Körper los, und ihre tiefste Qual ist die Unmöglichkeit der Zerspaltung. In dieser Zerrissenheit flackert schon die erste Flamme des Wahnsinns.
Niemals hat so grausam tief – wenn wir Dostojewski beiseite lassen – das Skalpel eines Dichters in der Wunde seines Ichs, niemals so gefährlich nahe am Lebensnerv gewühlt. Und niemals, vielleicht nur im »Ecce homo« Nietzsches, ist ein Dichter so bewußt dieser Nähe an den Abgrundsrand des Daseins getreten, um sich zu weiden am Gefühl des Schwindels und an der tödlichen Gefahr. Der Brand der Nerven hat bei Verhaeren langsam das Gehirn entzündet. Aber der andere, der Dichter in ihm, war wach geblieben, er hat bemerkt, wie das Auge des Wahnsinns langsam, unabwendbar und wie magnetisch angezogen sich ihm nähert. »L'absurdité grandit en moi comme une fleur fatale.« Mit leisem Schauer, aber mit geheimnisvoller Lust zugleich hat er die Nähe des Furchtbaren gefühlt. Lange schon hat er gespürt, daß durch dieses Sich-selbst-zerreißen sein Denken aus den klaren Kreisen getreten ist. Und in einem grandiosen Gedicht, wo er die Leiche seiner Vernunft die graue Themse hinabschwimmen sieht, schildert der Kranke jenen tragischen Untergang.[58]
»Elle est morte, morte de trop savoir,
De trop vouloir sculpter la cause,
Elle est morte atrocement,
D'un savant empoisonnement,
Elle est morte aussi d'un délire
Vers un absurde et rouge empire.«
Aber keine Angst faßt ihn bei diesem Gedanken. Verhaeren ist ein Dichter, der die letzten Steigerungen liebt. Und so wie der körperlich Kranke in tiefster Lust nach dem Rausch der Krankheit, nach ihrem Überschwang, nach dem Tod gerufen hat, so will nun auch das kranke Denken seinen Rausch, die Auflösung aller Ordnung, seinen herrlichsten Untergang: den Wahnsinn. Auch hier steigert sich die Lust der Schmerzbereitung zum höchsten Superlativ, zur Lust an der Selbstzerstörung. Und wie der Kranke inmitten seiner Qual jäh nach dem Tode schreit, so schreit der Gefolterte hier in grausamer Sehnsucht nach dem Wahnsinn:
»Aurai-je enfin l'atroce joie,
De voir nerfs par nerfs comme une proie
La démence attaquer mon cerveau?«
Er hat alle Tiefen des Geistes gekostet, aber alle Worte der Religion und der Wissenschaft, alle Elixiere des Lebens haben ihn nicht retten können vor dieser Qual. Alle Sensationen kennt er, alle sind klein geblieben, haben ihn angestachelt, keine ihn erhöht, keine ihn emporgetragen. Und da brennt sein Herz dieser letzten entgegen. Er kann sie nicht mehr erwarten, er will ihr entgegengehen. »Je veux marcher vers la folie et ses soleils.« Er ruft den Wahnsinn wie einen Heiligen, wie den Erlöser, er zwingt sich »à croire en la démence ainsi qu'une foi«. Ein herrliches Bild ist es, erinnernd an die Legende vom Herkules, der,[59] gequält vom feurigen Nessusgewande, sich selbst auf den Scheiterhaufen wirft, um rasch in einer großen Flamme zugrunde zu gehen, statt versengt durch tausend kleine Qualen jämmerlich zu verenden.
Hier ist der höchste Zustand der Verzweiflung erreicht, die schwarze Fahne des Todes und die rote des Wahnsinns umarmen sich. Mit unerhörter Konsequenz hat Verhaeren, verzweifelnd an einer Deutung des Lebens, den Widersinn zum Sinn der Welt erhoben. Aber gerade in dieser gänzlichen Umkehr ist schon die Überwindung. Johannes Schlaf hat es in seiner schönen Studie mit großem Schwung ausgeführt, wie gerade in jenem Augenblick der Kreuzgebärde, wo der Kranke ausruft: »Je suis l'immensement perdu«, wo er sich an das Endlose verloren fühlt, er gleichzeitig der Erlöste und Befreite wird. Gerade dieser Gedanke, der hier bis zum Wahnsinn den kleinen Schmerz empor-gepeitscht hatte,
»A chaque heure violenter sa maladie,
L'aimer et la maudire et la sentir«,
ist schon das tiefste Leitmotiv des Verhaerenschen Werkes, der befreiende Schlüssel. Denn er ist nichts anderes als seine Lebensidee, durch grenzenlose Liebe das Widerstrebende zu bezwingen, »aimer le sort jusque dans ces rages«, niemals einem Ding auszuweichen, jedes zu nehmen und es emporzusteigern, bis es schöpferisch ekstatische Lust wird, jedes Leid mit einer neuen Willigkeit zu empfangen. Selbst dieser Schrei nach dem Wahnsinn, das wohl äußerste Dokument menschlicher Verzweiflung, ist eine ungeheure Sehnsucht nach Klarheit, in diesem qualvollen Ekel vor der Krankheit schreit eine in unseren Tagen vielleicht unbekannte Lebensfreude, und der ganze Konflikt, der eine Flucht vor dem Leben scheint, ist im letzten Grunde ein[60] namenloser, ungeheuerer Heroismus. Voll ist hier das große Wort Nietzsches erlebt: »Für eine dionysische Aufgabe gehört die Härte des Hammers, die Lust selbst am Vernichten in entscheidender Weise zu den Vorbedingungen.« Und was in dieser Epoche des Werkes noch als negativ scheint, ist im höheren Sinne Vorbereitung zum Positiven, zu den entscheidenden Vollendungen.
Darum bleibt diese Krise und ihre Gestaltung ein unvergängliches Denkmal unserer zeitgenössischen Literatur, denn sie ist gleichzeitig ein ewiges Denkmal der Überwindung menschlichen Leidens durch künstlerische Kraft. Die Krise Verhaerens, seine innerliche Auseinandersetzung um den Wert des Lebens ist tiefer gegangen als die jedes anderen Dichters unserer Zeit. Noch heute stehen die Leiden jener Tage mit Falten und Keilhieben eingespalten in seiner hohen Stirne, keine Gesundung und Erstarkung hat diese edlen Narben verlöschen können. Ein Brand ohnegleichen, eine Flamme der Leidenschaft war diese Krise. Nicht eine einzige Errungenschaft von früher ist aus ihr gerettet worden. Verhaerens einstiges Verhältnis zur Welt ist zusammengebrochen, sein katholischer Glaube, seine Religion, sein Heimats-, sein Welt- und Lebensgefühl, alles ist vernichtet. Und wenn er nun sein Werk aufbaut, so wird es ein anderes sein müssen, mit anderem künstlerischen Ausdruck, mit anderen Empfindungen, anderen Erkenntnissen und anderen Harmonien. Dieser Orkan hat die Landschaft seiner Seele, wo einst Frieden und bescheidenes Leben geherrscht hatten, in eine pfadlose Öde verwandelt. Aber diese Öde und Einsamkeit hat Raum und Freiheit zum Aufbau einer neuen, reicheren und tausendfach wertvolleren Welt.[61]
Buchempfehlung
Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.
200 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro