Jugend in Flandern

[28] Seize, dix-sept et dix-huit ans!

O ce désir d'être avant l'âge et le vrai temps,

Celui

Dont chacun dit

Il boit à larges brocs et met à mal les filles.

E. V.


Die Geschichte der modernen belgischen Literatur beginnt durch ein Spiel des Zufalls im selben Hause. In Gent, der Lieblingsstadt Kaiser Karls, der alten, schweren, wallumgürteten flandrischen Stadt, steht abseits von den lauten Straßen St. Barbe, das graue Kloster der Jesuiten. Ein Kloster mit dicken, kühlen, abwehrenden Mauern, stummen Gängen, schweigsamen Refektorien, ein wenig erinnernd an die schönen Colleges in Oxford, nur daß hier den Wänden die heitere Ranke des Efeus fehlt und den begrünten Höfen der buntgestickte Teppich der Blumen. Dort begegnen sich auf der Schulbank zwei seltsame Knabenpaare in den siebziger Jahren, vier Namen finden sich unter den Tausenden, die später der Stolz ihres Landes sein sollten. Zuerst Georges Rodenbach und Emile Verhaeren, dann Maeterlinck und Charles van Lerberghe. Zwei Freundschaftspaare, die beide heute durch den Tod zerrissen sind. Die Schwächeren, die Zarteren, Georges Rodenbach und Charles van Lerberghe, sind gestorben, Emil Verhaeren und Maeterlinck, die beiden Heroen Flanderns, sind mit ihrem Ruhm und ihrer Kunst noch mitten in einem unabsehbaren Wachstum. Alle diese aber haben in dem alten Kloster den Anfang genommen. Bei den Jesuitenpatres empfingen sie ihre humanistische Bildung, lernten sogar Gedichte schreiben, vorerst allerdings in lateinischer Sprache, wobei merkwürdigerweise Maeterlinck abfiel gegen den formbewußteren van Lerberghe, Verhaeren gegen den geschmeidigeren Georges[28] Rodenbach. Mit Ernst und Nachdruck erzogen sie die Patres, Vergangenes zu bewahren, Gewohntes zu glauben, in alten Regeln zu denken und Neues zu hassen. Nicht nur dem Katholizismus, auch dem Priestertum sollten sie gewonnen werden, diese Klostermauern sie beschützen vor dem feindlichen Atem der neuen Welt, die in Flandern wie überall stark und stärker ihre Stimme zur Jugend wandte.

Aber es ist anders gekommen bei allen diesen, und besonders bei Verhaeren, vielleicht ebendarum, weil er als Schößling einer strenggläubigen Familie der Geeignetste war, ein Priester zu werden, weil er jede Überzeugung nicht geistig aufnahm, sondern tätig lebte, weil sein innerstes Wesen Hingebung und glühender Glaube an große Ideen war. Aber in ihm war die Stimme des freien Landes, in dem er aufgewachsen war, zu stark, der Ruf des Lebens in seinem Blut noch zu laut, um sich so früh schon von allem abzuwenden, zu unbändig sein Sinn, als daß er sich mit Gegebenem und Althergebrachtem begnügt hätte. Die Eindrücke der Kindheit waren lebendiger als die Lehren der Scholastiker. Denn Verhaeren ist am Lande geboren, in St. Amand an der Schelde (am 21. Mai 1855), mit dem Blick zu den großen Horizonten der Heide und des Meeres. Auf das glücklichste flochten hier freundliche Bedingungen den Kranz der Jugendjahre. Seine Eltern waren vermögende Leute, hatten sich aber von der lauten Stadt zurückgezogen in diesen kleinen flandrischen Winkel, ein kleines Haus war ihr Eigen, wo im Vorgarten bunte Blumen flammten. Und hart hinter dem Haus begannen schon die großen gelben Felder, die blühenden und verworrenen Hecken, und nahe war der Fluß mit seinen langsamen Wellen, die sich nicht mehr eilen, denn sie fühlen ihr Ziel, das[29] unendliche Meer, schon nahe. Von den ungebundenen Kindertagen hat der Alternde in seinem wunderbaren Buch der »Tendresses premières« erzählt. Hat von dem Knaben, der er war, erzählt, wie er über die Felder lief, in den glitzernden Boden gefahren ist, auf die Türme geklettert, die Bauern beim Säen und Ernten beobachtete, und die Mägde belauschte, wenn sie beim Waschtrog die alten flandrischen Lieder sangen. In alle Berufe hat er gesehen, in alle Winkel gespürt. Beim Uhrmacher ist er gesessen, hat gestaunt, wie aus surrenden kleinen Rädern die Stunde wurde, wie beim Bäcker der glühende Bauch der Öfen das Korn schluckte, das tagsvorher noch in rauschenden Ähren durch seine Hand geglitten war und nun schon Brot wurde, golden, warm und duftend. Bei den Spielen hatte er die frohe Kraft der Burschen bestaunt, wenn sie mit gewaltiger Kugel die taumelnden Kegel hin-schmetterten, war mit den Musikanten gegangen, die wanderten von Dorf zu Dorf, von Messe zu Messe. Und er hat am Ufer der Schelde die farbenbewimpelten Schiffe kommen und gehen sehen und ihnen nachgeträumt in die großen Fernen, die er nur kannte von den Schilderungen der Matrosen, den Bildern alter Bücher. All dies, diese tägliche körperliche Vertrautheit mit den Dingen der Natur, dieser erlebte Einblick in die tausend Tätigkeiten des Alltags, ist ihm unverlierbar geblieben. Und unverlierbar auch jener menschlich nahe Zusammenhang mit seinen Heimatgenossen. Von ihnen hat er gelernt, alle diese tausend Dinge zu benennen, den geheimnisvollen Mechanismus aller Verrichtungen und Fertigkeiten zu verstehen und damit auch alle ihre kleinen Sorgen und Mühen, diese vielen vereinzelten kleinen Lebensseelen, die sich zusammenfügen zur Seele des ganzen Landes. Und darum ist[30] Verhaeren der einzige der modernen Dichter in französischer Sprache, der bei seinen Heimatgenossen in allen Ständen wirklich populär geworden ist. Als ihresgleichen geht er heute noch unter ihnen, sitzt in ihrem Kreise, nun, da ihn der Ruhm längst schon an die ersten Stellen gewiesen, plaudert am Wirtstisch mit den Bauern und liebt es zu hören, wie sie vom Wetter sprechen und der Ernte und den tausend kleinen Dingen ihrer engen Welt. Er gehört zu ihnen und sie zu ihm. Er liebt ihr Leben, ihre Sorgen, ihre Arbeit, liebt dieses ganze Land mit den Nordstürmen, mit Hagel und Schnee, mit dem Zorn des Meeres und der Drohung der Wolken. Stolz betont er seine Zugehörigkeit, und wirklich, in seinem Gange, in seinen Bewegungen ist manchmal etwas von dem Bauern, der schwer stapfend, mit hartem Knie hinter dem Pfluge schreitet, seine Augen »sind grau wie das Meer seiner Heimat, die Haare gelb wie das Korn seiner Felder«. In seinem ganzen Wesen und Werke ist dieses Elementare. Man fühlt, daß er nie den Zusammenhang mit der Natur verloren hat, noch immer organisch mit den Feldern, dem Meer, mit der freien Luft verbunden ist, er, der den Frühling schmerzhaft empfindet, die weiche Luft wie einen Druck, und nur das Wetter seiner Heimat liebt, den Ungestüm und die wilde, ungebändigte Kraft.

Darum hat er auch später das andere, das Polare, die großen Städte anders und intensiver empfunden als die Dichter, die in ihnen aufgewachsen waren. Was jenen selbstverständlich erschien, war ihm Erstaunen, Abscheu, Erschrecken, Bewunderung und Liebe. Für ihn war die Atmosphäre, in der wir atmen, schwer, stickig und vergiftet, die Gassen zwischen den Häuserburgen zu eng, zu verschnürt, stündlich hat er, mit Schmerz zuerst und dann mit Bewunderung, die schöne Furchtbarkeit[31] der ungeheuren Dimensionen, die Fremdartigkeit der neuen Lebensformen gefühlt. So wie wir zwischen den Schluchten der Berge mit erschreckt-erhabenem Staunen, so ist er durch die Städte gegangen, langsam sich erst an sie gewöhnend, er hat sie durchsucht, sie beschrieben, sie gefeiert und in tiefstem Sinn erlebt. Ihr Fieber ist in sein Blut geströmt, ihre Revolten haben sich in ihm aufgebäumt, ihre Hast und Unrast hat seine Nerven aufgepeitscht ein halbes Menschenleben lang. Aber dann ist er wieder heimgekehrt. Der Fünfzigjährige ist wieder heimgeflüchtet zu den Feldern, zu dem einsamen Himmel der Heimat. In einem kleinen Hause lebt er irgendwo in Belgien, wo die Eisenbahn nicht mehr hinkommt, freut sich an den heiteren und arglosen Menschen, die schlichtem Tagewerk zugehörig sind, wie die Freunde und Begleiter seiner Kindheit es waren. Mit gesteigerter Freude drängt er von Jahr zu Jahr an das Meer, als brauchten es seine Lunge und sein Herz, um wieder stark atmen zu können, um jubelnder und begeisterter das Leben zu empfinden. In dem Fünfzigjährigen ist eine wunderbare Wiederkehr der gesunden, seligen Kindheit, und dem Flandern, dem seine ersten Verse galten, gelten wieder seine letzten.

Gegen diesen vererbten Sinn, gegen diese helle und unverlierbare Lebensfreude haben die Patres von St. Barbe nichts vermocht. Sie konnten nur seinen großen Lebenshunger abdrängen von den materiellen Dingen, und hinwenden gegen die Wissenschaft, gegen die Kunst. Der Priester, den sie aus ihm machen wollten, ist er wirklich geworden, nur daß er alles predigte, was sie versagten, alles befeindete, was sie anpriesen. Wie Verhaeren die Schule verläßt, ist er schon erfüllt von jener edlen, doch fiebernden Lebensgier,[32] jener unbändigen Sehnsucht nach intensiven und bis zum Schmerz gesteigerten Reizen, die für ihn so charakteristisch ist. Dem geistlichen Stand war er abhold. Aber auch die Fabrik seines Onkels lockt ihn nicht, deren Leitung ihm zugedacht war. Noch ist es nicht ausgesprochen der dichterische, aber jedenfalls ein freier, lebendiger Beruf mit vielfältigen Möglichkeiten, den er sich ersehnt. Um Zeit zur endgültigen Entschließung zu gewinnen, studiert er die Rechte und wird Advokat. In diesen Jahren des Studiums in Löwen hat Verhaeren unbändig seine Lebenslust ausgetobt, hat als echter Fläme das Übermaß mehr geliebt als das Maß. Noch heute erzählt er gerne von seiner gefährlichen Neigung für das gute belgische Bier, wie sie sich betranken, wie sie tanzten auf allen Kirmessen, pokulierten und fraßen, wenn der Furor über sie kam, wie sie groben Unfug trieben, der sie nicht selten mit der Stadtwache in Konflikt brachte. Entschiedenheit war immer ein Zug seines Wesens, und so war sein Katholizismus in jenen Jahren kein schweigsamer und unpersönlicher, sondern seine Strenggläubigkeit war streitbar. Ein Bündel feuriger Köpfe – der Verleger Deman war darunter und der Tenor van Dyk – gründete damals eine Zeitung, in der sie gewaltig gegen die moderne verdorbene Welt loszogen und sich selbst nicht zu propagieren vergaßen. Rasch verbot ihnen die Universität diese frühreifen Kundgebungen; aber bald gründeten sie ein zweites Blatt, nun schon mehr im Zusammenhang mit den großen Bewegungen der Zeit. Dazwischen entstehen Verse. Und noch leidenschaftlicher ist die Tätigkeit des jungen Dichters, als er im Jahre 1881 in Brüssel ins Barreau eintritt. Dort lernt er starke Lebendigkeit kennen, der Kreis der Maler und Künstler nimmt ihn auf, es bildet[33] sich ein Cénacle junger, kunstbegeisterter Talente, die sich in krassem Gegensatz zur konservativen Bourgeoisie Brüssels empfinden. Verhaeren, der damals alle Snobismen als das Neue gierig aufnimmt, in phantastischer Kleidung umherstolziert, macht sich bald durch die stürmische Leidenschaft und seine ersten literarischen Versuche bekannt. Schon in der Schule hatte er begonnen, Verse zu schreiben. Lamartine war sein Vorbild gewesen, dann Victor Hugo, der Faszinator der Jugend, der Herr der großen Geste, der unbestrittene Meister des Wortes. Diese Verse des jungen Verhaeren sind nie ediert worden, und sie werden auch wenig interessant sein, weil hier noch unbändiges Lebensgefühl in tadellosen Alexandrinern sich zu äußern versuchte. Immer mehr fühlte er mit seinem künstlerischen Wachstum die Berufung zum Dichter, die geringen Erfolge als Advokat bestärkten ihn noch mehr, und so warf er endlich, dem Rate Edmond Picards folgend, die Robe des Advokaten ab, die ihm schon so eng und verschnürt dünkte wie einst die Soutane.

Und dann kam jene Stunde, jene erste entscheidende Stunde. Verhaeren und Lemonnier, beide erzählen sie gern, beide mit jener innigen, stolzen Freude an einer unerschütterlichen dreißigjährigen Freundschaft, beide in herzlicher Bewunderung, einer für den anderen ... Einmal, es war ein regnerischer Tag, kam Verhaeren plötzlich zu Lemonnier, den er nicht kannte, in die Wohnung, kam herein mit seinem bäurisch schweren Schritt, seiner herzlichen Geste und begann ohne Umschweife: »Je veux vous lire des vers!« Es war das Manuskript seines ersten Buches »Les Flamandes«, und nun las er, während draußen der Regen niederschlug, mit seiner harten, scharf skandierenden Stimme, seiner[34] großen Begeisterung und der beschwörenden Geste diese von Leben zuckenden Bilder aus Flandern, dies erste freie Bekenntnis heimatlicher Liebe und aufschäumender Vitalität. Und Lemonnier sprach ihm zu, beglückwünschte, half und änderte, und bald erschien das Buch zum Schrecken von Verhaerens strenggläubiger Familie, zum Entsetzen der Kritiker, die solchen Kraftausbrüchen ratlos gegenüberstanden. Gehaßt und geliebt, Interesse erzwang es sofort, erregte allerdings in Belgien weniger Zuspruch als Widerspruch, aber doch allerorts Sturm und jene grollende Unruhe, wie sie immer dem gewitterhaften Nahen eines Neuen vorangeht.[35]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 28-36.
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