[36] Je suis le fils de cette race
Tenace,
Qui veut après avoir voulu
Encore, encore et encore plus.
E. V.
Das Lebenswerk großer Künstler enthält nicht nur einfach, sondern dreifach ein Kunstwerk. Das erste nur und nicht immer das wichtigste ist die tatsächliche Schöpfung, das zweite muß ihr Leben sein und das dritte jenes harmonisch durchgebildete, organisch verknüpfte Verhältnis zwischen Schaffen und Schöpfung, Dichtung und Leben. Zu überschauen, wie innerliches Wachstum mit äußerer Gestaltung, Krisen der Wirklichkeit mit künstlerischer Dekadenz verbunden sind, wie Entwicklung und Vollendung sich gleicherweise im Erlebten wie im Gestalteten durchdringen, muß eine gleiche künstlerische Wollust, eine ebenso reine Schönheitslinie auslösen wie das einzelne Werk. Bei Verhaeren sind diese Bedingungen des dreifachen Kunstwerkes voll erfüllt. So schroff und unvermittelt die Kontraste in seinen Büchern zu sein scheinen, die Gesamtheit seiner Entwicklung rundet sich doch zu einer klaren Linie, zur Figur des Kreises. Im Anfang war schon das Ende, im Ende der Anfang enthalten, der kühne Bogen kehrt in sich selbst zurück. Wie ein Weltreisender, der den ganzen ungeheuren Ball der Erde umzirkt, gelangt er schließlich zum Ausgangspunkt zurück. Anfang und Ende berühren sich im Motiv. Zum Lande, dem seine Jugend gehörte, kehrt das Alter zurück, Flandern gilt sein erstes Buch, und Flandern gelten seine letzten.
Freilich, zwischen diesen beiden Büchern »Les Flamandes« und »Toute la Flandre«, zwischen dem Werk[36] des Fünfundzwanzigjährigen und des Fünfzigjährigen, liegt die Welt einer Entwicklung mit all ihren Einsichten und Errungenschaften. Jetzt erst, wo die anfangs so unruhige Linie in sich selbst zurückgekehrt ist, läßt sich übersichtlich ihre harmonische Form erkennen. Aus einer rein äußerlichen Anschauung ist Durchdringung geworden, nicht die Pupille betrachtet schließlich mehr die äußeren Erscheinungen der Dinge, sondern alles ist von innen heraus in seiner Seele erfaßt und seiner Wirklichkeit nachgedichtet worden. Nichts ist mehr als Einzelnes gesehen, aus Neugier oder flüchtigem Interesse, sondern alles als ein Seiendes, als ein Gewachsenes und weiter Werdendes betrachtet. Das Motiv ist das gleiche im ersten und in den letzten Büchern; nur ist das erste eine isolierte Betrachtung, während in den großen Gestaltungen der letzten Epoche die ungeheuren Horizonte der modernen Welt hinter die Szenen gestellt sind, die Schatten der Vergangenheit einerseits, und auch die feurigen Ahnungen der Zukunft neues Licht über die Landschaft ergießen. Aus dem Maler, der nur die Außenfläche, die Patina schildert, ist dann der Dichter geworden, er, der das Seelische und Unfaßbare in musikalischer Schwingung verlebendigt. Diese beiden Werke verhalten sich zueinander wie Wagners Erstlinge »Rienzi« und »Tannhäuser« zu den späteren Schöpfungen, dem »Ring« und »Parzival«, was früher nur intuitiv war, wird schöpferisch bewußt. Und wie bei Wagner, gibt es auch bei Verhaeren noch heute solche, die jene noch in traditioneller Form befangenen Werke den späteren Gestaltungen vorziehen und so dem Dichter eigentlich fremder sind als diejenigen, die ein prinzipiell ablehnendes Verhältnis zu seinem künstlerischen Werke eingenommen haben.
»Les Flamandes«, der Erstling Verhaerens, erschien[37] in einer literarisch bewegten Zeit. Die realistischen Romane Zolas waren eben zur Diskussion gelangt und hatten Frankreich ebenso wie die angrenzenden Länder in Aufruhr versetzt. In Belgien war Camille Lemonnier der Vermittler dieses neuen Naturalismus, dem die absolute Wahrheit wichtiger war als die Schönheit, der in der Photographie, der exakten, wissenschaftlich genauen Wiedergabe der Wirklichkeit, den einzigen Zweck der Dichtung erblickte. Heute, da der exzessive Naturalismus überwunden ist, wissen wir, daß diese Theorie nur die Hälfte des Weges weit führt, daß die Schönheit nicht neben der Wahrheit lebendig sein könne, andererseits aber Wahrheit noch nicht mit Kunst identisch sei, sondern daß nur eine Umwertung des Schönen vorgenommen werden mußte, daß im Wirklichen, in den Realitäten die Schönheit zu suchen war. Jede neue Theorie braucht, um sich durchzusetzen, Übertreibungen. Und die Idee der Wirklichkeitsdarstellung auch im Poetischen hat den jungen Verhaeren verlockt, in der Schilderung seiner Heimat alles Sentimentale und Romantische sorglich zu vermeiden, und nur das Derbe, Urwüchsige und Wilde poetisch zum Ausdruck zu bringen. Ein Äußeres und Inneres, Natur und Absicht wirken hierbei zusammen. Denn der Haß gegen das Sanfte, Weiche, gegen Rundung und Ruhe stecken Verhaeren im Blute. Sein Naturell war von vornherein feurig und liebte, starken Anreiz mit vehementem Rückschlag zu erwidern. In ihm war von je eine Liebe zum Brutalen, Harten, Rauhen, Eckigen, eine Neigung für das Grelle und Intensive, für das Laute nnd Lärmende, die erst in den jüngsten Büchern dank des kühleren Blutes die klassische Rundung und Reinheit gewonnen hat. Damals aber leitete ihn noch der Haß gegen das Genrebilderhafte, jener Haß, der[38] sich in Deutschland gegen die Salontiroler Defreggers, die parfümierten Bauern Auerbachs, gegen die geschniegelte Mythologie der »poetischen« Bilder entlud, bewußt dazu an, das Gewaltsame, Unästhetische und im damaligen Sinne Unpoetische zu unterstreichen, gewissermaßen mit schweren Schuhen in den langweiligen Schritt der französischen Poeten hineinzustapfen. Barbar: mit diesem Worte suchte man ihn damals abzutun, nicht so sehr wegen der Härte und Rauheit seiner poetischen Sprache, die einen manchmal an die gutturalen Laute der Germanen erinnert, sondern um jener wilden Wahl des Instinktes willen, der immer das Laute und Lebendige vorzog, der nicht von Nektar und Ambrosia sich nährte, sondern rote, dampfende Fetzen Fleisch aus dem Leib des Lebens riß. Und wirklich barbarenhaft, germanisch wild ist dieser sein Einbruch in die französische Literatur, erinnernd an jene Völkerzüge der Teutonen in die romanischen Länder, wo sie mit wilder Wucht und rauhen Schreien in den Kampf stürmten, um viel später erst von den Besiegten die höhere Kultur, die feineren Instinkte des Lebens zu lernen. Verhaeren schildert in diesem Buche nicht das Liebenswürdige, das Träumerische in Flandern, nicht das Idyllische, sondern »les fureurs d'estomac, de ventre et débauche«, alle Explosionen der Lebenslust, die Orgien der Bauern und selbst der animalischen Welt. Vor ihm hatte sein Mitschüler Rodenbach den Franzosen von Flandern in Gedichten erzählt, die leise silbern klangen, wie das Spiel der Carillons über den schwebenden Dächern, er hatte sie erinnert an jene unvergeßliche Melancholie des Abends über den Kanälen von Brügge, an die Magie der Mondnacht über den Feldern. Verhaeren aber will nichts von dem Sterben wissen, er schildert das Leben dort, wo es am tollsten ist, »les décors monstrueux des[39] grasses kermesses«, die Feste des Volkes, wo Rausch und Wollust die zügellosen Kräfte der Menge aufstachelt, wo Kraft und Gier miteinander ringen, das Tierische siegreich wird über die Kultur und Moral. Und selbst in diesen Schilderungen, die oft strotzen von der Überschwenglichkeit des Rabelais, spürt man, wie selbst dieses explosive Leben ihm noch nicht toll genug ist, er sehnt sich nach Steigerungen über die Wirklichkeit hinaus, »jadis les gars avaient les reins plus fermes et les garces le plus beau téton«. Zu schwach sind ihm die Burschen, zu sanft die Dirnen, er will das Flandern von einst, wie es lebt auf den glühenden Bildern des Rubens und Jordaens und Brueghel. Die sind seine wahren Meister, sie, die Genießer des Lebens, die ihre Meisterwerke zwischen zwei Orgien schufen, deren Lachen und Schwelgen hineinklingt in die Motive. Gewisse Interieurs und sensuelle Genrebilder hat er ihnen geradezu nachgedichtet, wie die Burschen von Gier entflammt die Mädchen in die Hecken werfen, wie die Bauern johlend und trunken den Tisch umtanzen. Den großen Überschwang in allen sinnlichen Dingen selbst in Lust darzustellen, Überschwang mit Überschwang, das ist seine Sehnsucht. Und Ausschweifung – »un rût« – sind seine Farben und Worte, die dick und verschwenderisch aufgetragen sind, die flüssig und feurig quellen. Ausschweifung ist dies Prunken und Hinwerfen von kochenden Bildern. Eine ungeheure Sinnlichkeit tobt sich nicht nur im Motiv, sondern auch in der Gestaltung aus, eine Freude an diesen Menschen, die toll werden können, wie die Hengste in ihrer Brunst, die wühlen wollen in duftenden Speisen und in blühendem Frauenfleische, die sich trunken machen wollen mit Bier und Wein und dann in Tanz und Umarmung all dieses eingeschluckte Feuer[40] wieder entladen. Manchmal ist ein ruhendes Bild dazwischengestellt, festgebannt in dem dunklen Rahmen des Sonettes. Aber die heiße Welle strömt über diese Augenblicke des Atemholens hinweg, immer muß man an Rubens und Jordaens, die großen Verschwender, bei diesem Buche denken.
Aber die naturalistische Kunst ist eine malerische und nicht eine dichterische. Und es ist der große Mangel dieses Buches, daß nur ein begeisterter Maler es geschrieben hat und noch nicht der Dichter. Die Worte sind farbig, aber noch nicht frei, noch wiegen sie sich nicht in ihrem Rhythmus, noch stürmen sie nicht dahin und reißen das Gedicht empor, sondern der Alexandriner deichselt sie zu regelmäßigem Trott. Ein Mißverhältnis ist zwischen der inneren Unbändigkeit und äußeren Regelmäßigkeit dieser Gedichte. Noch ist der Inhalt nicht Erlebnis genug, um die ererbte Form zu zersprengen. Man fühlt, daß die wirkliche Gier »à travers un tempérament« gesehen ist, daß hier eine Kraft gegen alles Ererbte sich aufstemmt, eine Kraft, deren ungefüge Art die Vorsichtigen und Kurzsichtigen mit Schrecken begrüßten. Aber noch ist Kraft und Kunst hier nicht frei. Verhaeren ist schon der leidenschaftliche Betrachter, aber immer noch Betrachter, einer, der außen steht und nicht selbst innen im Wirbel, der alles mit Sympathie und Begeisterung sieht, aber der es noch nicht erlebt. Noch ist hier das flandrische Land nicht persönliches Empfinden geworden, noch nicht die neue Form und die neue Anschauung errungen, noch fehlt jene letzte Siedehitze der künstlerischen Erregung, die dann später alle Gefäße und Umschnürungen zersprengt, um nur ihrem eigenen freien Gefühle in seliger Trunkenheit nachzustürzen.[41]
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