[160] Dehnungsfähigkeit des Eisenbetons. Nach mehrfachen Veröffentlichungen in den Jahren 1899 bis 1902 hat Considère an Hand von Versuchen eine große Dehnbarkeit des auf Zug beanspruchten und mit Eiseneinlagen versehenen Betons beobachtet. Während bei Beton oder Zementmörtel nur eine Dehnung zwischen 0,1 bis 0,2 mm pro Meter bis zum Bruch nachgewiesen werden konnte, gab Considère die Dehnung des Betons in Verbindung mit Eiseneinlagen bis zu 2 mm auf den Meter an.[160]
Biegungsversuche, die anfangs 1903 an der Materialprüfungsanstalt in Stuttgart für Wayß & Freytag, A.-G., angestellt wurden, ergaben eine geringere Dehnbarkeit des Eisenbetons von 0,26 bis 0,30 mm auf den Meter. Versuche von Kleinlogel, veröffentlicht im Jahre 1904, ergaben maximale Dehnungen der Betonbalken bei Biegung am unteren Rand, die sich zwischen 0,15 und 0,20 mm bewegten. Zahlreiche Versuche, die im Jahre 1906 für den Deutschen Ausschuß für Eisenbeton an der Materialprüfungsanstalt in Stuttgart nach Fig. 1 angestellt wurden, führten zu dem Ergebnis, daß die Dehnungen des armierten Betons von der Verteilung der Eiseneinlagen in der Zugzone abhängig sind. Die Rißbildung beginnt besonders an den Kanten, also an den Stellen, die am weitesten von der Eiseneinlage entfernt sind.
In dem Querschnitt, Fig. 2, dehnt sich der Riß bei 6000 bis 6500 kg Belastung etwa bis ab und cd aus und rückt dann bei 7000 kg Belastung nach a1b1 bezw. c1d1 vor. Die ersten Kantenrisse wurden hier bei einer Dehnung von 0,127 bis 0,176 mm auf 1 m Länge beobachtet. Die größten Dehnungen von 0,324 mm bei feuchter Lagerung und 0,367 mm bei Wasserlagerung wurden erhalten, indem die Eisenmenge in Form eines 7 mm dicken Bleches mit Ausfräsungen gleichmäßig auf die ganze Balkenbreite verteilt wurde.
Bei den naß aufbewahrten Probekörpern zeigten sich bei Belastung schon vor Auftreten der Risse feuchte Flecken, die sich mit zunehmender Last vergrößerten und ihre Anzahl vermehrten. Traten bei Steigerung der Last Risse auf, so fielen sie stets auf solche Wasserflecken; aber nicht an allen Wasserflecken entstanden Risse. Diese Erscheinung ist schon von Turneaure 1904 und von Feret 1906 beschrieben worden und erklärt sich aus einer Lockerung des Gefüges an einzelnen Stellen der auf Zug beanspruchten Unterfläche, wodurch die Feuchtigkeit von innen nach außen tritt und den Wasserfleck erzeugt. Die Wasserflecken traten immer bei einer Dehnung von 0,08 bis 0,10 mm auf den Meter ein und waren unabhängig von der Verteilung des Eisens im Querschnitt. Diese Dehnung entspricht der Bruchdehnung des nichtarmierten Betons. Dadurch, daß die Eiseneinlagen an den Stellen, wo das Gefüge des gezogenen Betons gelockert ist, in verstärktem Maße unterstützend eingreifen, wird die Rißbildung noch hinausgeschoben und eine etwas größere Dehnung gegenüber dem nichtarmierten Beton erreicht.
Bei dem gewöhnlichen Rundeisen mit rauher Oberfläche sind die Zugriffe im Beton sehr sein, bei glatt bearbeitetem Eisen sind sie weiter voneinander entfernt und größer, entsprechend dem Maß des gegenseitigen Gleitens zwischen Eisen und Beton. Bei den amerikanischen Spezialeisen, wo das Gleiten verhindert wird, treten die ersten Dehnungsriffe des Betons unter den gleichen Biegungsmomenten ein wie bei der Rundeisenarmierung, dagegen sind sie weit zahlreicher und bleiben seiner.
Nach dem heutigen Stand muß man annehmen, daß Considère und andre Forscher, welche eine sehr große Dehnbarkeit des armierten Betons beobachtet haben, die äußerst seinen Dehnungsriffe nicht frühzeitig genug bemerkt haben.
Das verhältnismäßig frühe Auftreten der Dehnungsriffe bei den Eisenbetonbalken führte zu dem Vorschlag, die Eisen mit künstlicher Anspannung einzubetonieren und bis zur genügenden Erhärtung des Betons in Spannung zu erhalten. Die dann sich selbst überlassenen Eisen werden im Querschnitt des Balkens unten Druck, oben Zugspannungen erzeugen, die bei der Belastung erst auf Null zurückgehen müssen, ehe die der Biegung entsprechenden Spannungen auftreten.
Versuche über den Einfluß der Vorspannung der gezogenen Eisen wurden an der Materialprüfungsanstalt in Stuttgart angestellt und zeigten, daß die Rißbildungslast etwa um so viel hinausgeschoben wurde, als der Last entsprach, welche die Vorspannung der Eisen zum Verschwinden brachte. Dagegen war ein Einfluß bei der Bruchlast nicht mehr zu erkennen, da mit dem Ueberschreiten der Streckgrenze die Wirkung der Vorspannung verloren ging. Die praktische Anwendung der Vorspannung ist sehr schwierig, da man nicht nur gerade, sondern auch abgebogene Eiseneinlagen hat.
Literatur: [1] Considère, Génie civil 1899; Beton und Eisen 1903, Heft V. [2] Kleinlogel, Beton und Eisen 1904, Heft II, und Heft I der Forscherarbeiten aus dem Gebiete des Eisenbetons, Wien 1904. [3] Mörsch, Eisenbetonbau, 2. Aufl. 1905 u. 4. Aufl. 1912. [4] Considère, Beton und Eisen 1905, Heft 3. [5] Turneaure, Engineering News 1904, S. 213. [6] R. Feret, Etude experimentale du ciment armé 1906. [7] C. v. Bach, Heft 39 der Mitteilungen über Forschungsarbeiten und Nr. 26 der Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 1907. [8] Ders., Mitteilungen über Forschungsarbeiten 1909, Heft 7274.
Mörsch.