Der Esel

[163] Vor uralter Zeit war bei einem Grafen auf einem Schloß ein gar braves, stilles Mädchen im Dienst. Sie diente ihrer Herrschaft treu und redlich und lebte in Zucht und Sittsamkeit. Dies und ihre Schönheit gewannen ihr die Herzen aller, und die Gräfin liebte das Mädchen fast wie ihr eigenes Kind. So lebte es schon[163] manches Jahr auf dem Schloß vergnügt und glücklich, als ihr plötzlich ein unliebsames Ereignis die Ruhe störte. Es trug sich nämlich zu, daß sich in einer Nacht etwas, sie wußte nicht was, zu ihr in das Bett legte; es war ihr da ganz unheimlich zumute, und dies um so mehr, als sie auf ihre Fragen nie eine Antwort erhielt. Es schien ihr, als ob der unheimliche Schalk, bevor er in das Bett stieg, etwas Schweres auf den Boden geworfen hätte, denn es hatte einen starken Klatsch getan. Das Mädchen konnte vor Angst und Furcht nicht schlafen und zitterte wie Espenlaub. Morgens, als es Ave-Maria läutete, verschwand das unheimliche Wesen.

Was sich in dieser Nacht zugetragen hatte, wiederholte sich von nun an in den folgenden Nächten, und das Mädchen konnte vor Furcht nicht mehr schlafen und sah gar blaß und traurig aus. Das merkte die Gräfin, und sie fragte die Magd, was ihr fehle. Da faßte sich das Mädchen ein Herz und erzählte ihrer Gebieterin haarklein, wie in jeder Nacht ein unbekanntes Ding komme und zu ihr ins Bett steige.

Als die Gräfin dies gehört hatte, sprach sie: »Sei getrost, mein Kind! Ich werde dir ein Steinchen geben, und wenn du da durchschaust, wirst du die Gestalt des unheimlichen Wesens, das deine Ruhe stört, sehen.«

Nach diesen Worten ging sie zu einem Kästchen, langte einen glänzenden Karfunkel heraus und gab ihn dem Mädchen mit freundlicher Miene. Die Gräfin dachte aber im Herzen, wenn du meinen verwunschenen Stiefsohn durch diesen Zauberstein anschaust, dann ist er aufs neue verzaubert und kann erst nach sieben Jahren wieder erlöst werden. Die Magd nahm den Karfunkel mit Dank an und versprach, ihn nach dem Rat der Gebieterin zu gebrauchen.

Als es wieder Nacht wurde und die Magd im Bett lag, kam wieder der unheimliche Besuch. Es klatschte etwas zu Boden, und dann stieg etwas in das Bett und legte sich neben die Magd. Diese hatte den Karfunkel und beobachtete damit das, was in das Bett gestiegen war. Sie staunte nicht wenig, als der schönste Jüngling neben ihr lag. Er hatte lange, blonde Haare, und sein Gesicht war rot und weiß wie Milch und Blut. Kaum hatte sie aber angefangen, ihn zu betrachten, so fuhr er sie an: »Was[164] hast du, verfluchte Hexe, mir getan! Jetzt muß ich wieder meine Eselshaut nehmen und an den Ort der Verwünschung zurückkehren, bis mich jemand erlöst.« Mit diesen Worten sprang er aus dem Bett, nahm die auf dem Boden liegende Eselshaut, hüllte sich in diese und verschwand in Eselsgestalt.

Die Magd hatte keinen Frieden mehr und konnte die ganze Nacht hindurch keine Viertelstunde schlafen. Beim ersten Hahnenschrei verließ sie ihr Bett, ging in die Kirche und klagte dem heiligen Georg ihre Not. Als sie auf das Schloß zurückgekehrt war und die Gräfin zu ihr kam und sie fragte, wie es in der Nacht gegangen wäre, erzählte sie ihr alles und fragte die Frau, wie der arme Esel erlöst werden könnte. Die Gräfin wollte auf diese Frage keine Antwort geben und meinte, man sollte den Esel Esel sein lassen.

Dem Mädchen kam aber der Esel nicht mehr aus dem Kopf, und es dachte bei Tag und bei Nacht daran. Da hörte es einmal, daß in dem Wald ein alter Einsiedler wohne, der ebenso durch Frömmigkeit wie durch Weisheit berühmt sei. Bald hatte es sich entschlossen zu dem ehrwürdigen Mann seine Zuflucht zu nehmen, und an einem Feiertag ging es in den grünen Wald hinaus, um den Einsiedler aufzusuchen. Als es schon eine gute Strecke im Wald gegangen war, kam es endlich zur Klausnerhütte, vor der der Einsiedler saß. Er hatte einen langen, weißen Bart und trug eine grobe, braune Kutte. Das Mädchen ging auf ihn zu, küßte ihm die Hand und teilte ihm ihr Anliegen mit. Als der Greis es gehört hatte, sprach er: »Mein liebes Kind, da kann ich dir nicht helfen. Geh aber noch eine Viertelstunde weiter, und dann wirst du wieder einen Waldbruder finden, der kann dir vielleicht in deiner Not guten Rat geben.«

Das Mädchen war mit dem Bescheid zufrieden, dankte dem frommen Alten und ging weiter in den Wald hinein, um den anderen Einsiedler auch zu sehen. Als sie eine Viertelstunde durch die hohen Tannen und die breitästigen Buchen gegangen war, kam sie endlich zur zweiten Klausnerhütte, vor der der Einsiedler saß. Er hatte einen noch längeren weißen Bart als der erste und sah noch ehrwürdiger aus. Das Mädchen ging auf ihn zu, küßte ihm die Hand und teilte ihm ihr Anliegen mit. Als der Greis es gehört hatte, sprach auch er: »Mein gutes Kind, da[165] kann ich dir nicht raten. Geh aber noch eine Viertelstunde weiter, und dann wirst du wieder einen Waldbruder finden, der kann dir vielleicht in deiner Not guten Rat geben.«

Die Magd war mit dem Bescheid zufrieden, dankte dem frommen Alten und ging weiter in den Wald hinein, um den dritten Einsiedler aufzusuchen. Der Wald wurde immer dichter, und kein Weg führte durch die eng aneinander stehenden Buchen. Sie ließ sich aber dies nicht verdrießen und ging in gerader Richtung vorwärts. Als sie eine Viertelstunde gegangen war, kam sie zur dritten Klausnerhütte, und davor saß der Einsiedler. Dieser war uralt und sah aus wie ein Waldmann. Sein Bart reichte ihm bis an die Füße, und seine Augenbrauen wölbten sich hoch und dicht. Das Mädchen ging auf ihn zu, küßte ihm die Hand und teilte ihm ihr Anliegen mit.

Als der Greis dies gehört hatte, sprach er mit tiefer Stimme: »Mein gutes Kind, da kann ich dir guten Rat geben. Eine halbe Stunde von hier liegt ein Teich, in dem alle Verwünschten sich aufhalten müssen. Geh du hin, und du wirst den Esel und noch viele andere, die dorthin verbannt sind, erlösen können. Um dies zu tun, brauchst du nur die verschiedenartigen Felle, die am Ufer liegen, schnell in den See zu werfen.«

Der greise Waldbruder zeigte der Magd dann den Weg, den sie nehmen sollte, und gab ihr seinen Segen.

Sie war über diesen Rat hoch erfreut, dankte ihm und küßte ihm die Hand. Dann ging sie in der vom Einsiedler gezeigten Richtung vorwärts. Das war ein harter Weg. Es ging durch dick und dünn, über Stock und Stein. Als das Mädchen so eine halbe Stunde sich vorwärts gearbeitet hatte, fing der Wald an lichter zu werden, bald stand es im Freien, und ein großer, blauer See lag vor seinen Füßen. Am Ufer lagen viele, viele Felle von verschiedenen Tieren. Sie sah sich ein bißchen um, und als sie die Eselshaut erblickt hatte, ergriff sie diese sogleich und warf sie in den See, und so machte sie es mit den übrigen Fellen, bis sie damit fertig war.

Sooft sie aber ein Fell in das Wasser geworfen hatte, tauchte ein erlöster Mann oder eine erlöste Frau auf und stieg an das Ufer. Als kein Fell mehr vorhanden und alle Verwünschten erlöst waren, trat der schöne Jüngling, den sie einst durch den Karfunkel[166] gesehen hatte, an der Spitze der übrigen Erlösten zur Magd, verneigte sich vor ihr und dankte ihr für die Rettung in seinem und der anderen Namen. Er erzählte ihr, wie er durch seine böse Mutter, die Gräfin, in einen Esel verwandelt worden war. Als er ihr alles erzählt hatte, fragte er sie, ob sie seine Frau werden wollte. Das Mädchen nahm den Antrag gerne an, und nachdem sie aus dem Wald zurückgekehrt waren, wurde die Hochzeit mit aller Pracht gefeiert.


(mündlich im Gnadenwald bei Absam)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 163-167.
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