Der Schafhirt

[88] Ich weiß nicht, wie lange es etwa her ist, da lebten einmal ein Herr und eine Frau, die ein einziges Kind hatten. Dies war ein frischer Bursche, dem das Stillsitzen nicht taugen wollte. Schon in früher Jugend bat er seine Eltern, sie möchten ihm doch erlauben, in die Welt hinauszuziehen und sein Glück zu versuchen.

»Nein«, sprach der Vater, »bevor du nicht sechzehn Jahre alt bist, darfst du nicht fort, aber dann kannst du ziehen, wohin es dich gelüstet.«

Der Sohn mußte sich fügen und wartete ungeduldig die Zeit ab, bis sein sechzehntes Lebensjahr verstrichen war. Er zählte die Tage und Stunden und richtete sich einstweilen alles zur Reise[88] zurecht. Als er das sechzehnte Jahr vollendet hatte, nahm er Abschied von den Eltern, setzte sich auf sein Pferd und ritt wohlgemut von dannen. Ohne Ziel und Plan ging es so fort in die weite Welt hinein, und je länger er ritt, desto besser wollte es ihm gefallen.

Eines Tages führte ihn der Weg durch einen stockfinsteren Wald. Wie er so gedankenlos dahinritt, drang auf einmal der herrlichste Gesang an sein Ohr, so daß er stillhielt und eine Zeitlang den lieblichen Tönen lauschte. Er beschloß den Sänger aufzusuchen und ritt dem Ort zu, von dem der Gesang zu kommen schien. Er war nicht lange geritten, da öffnete sich der Wald, und vor ihm lag eine schöne, große Wiese, auf der ein Hirtenknabe seine Schafe hütete. Er nahte sich dem Knaben und redete ihn an: »Möchtest du nicht tauschen mit mir? Ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir dafür deine Schafe zu hüten!«

Der Hirt wußte nicht, wie ihm geschah. Er machte eine Zeitlang große Augen, aber als er merkte, daß es mit dem Handel Ernst sei, schlug er sogleich ein, hieß den Fremden vom Pferd steigen und übergab ihm seinen Stab und seine Tasche.

»Siehst du«, sagte er, »wenn du ein rechter Hirt sein willst, so mußt du schon einen tüchtigen Stecken haben, und eine Schale mit ein paar Brocken ist auch ein gutes Zeug. Aber jetzt laß dir sagen: Die Schafe, die du zu hüten hast, gehören dem Bauern da drüben auf dem Hügel. Wenn du abends heimfährst, so werden die Schafe schon von selbst in den Stall gehen. Du aber gehst in die Küche und setzt dich auf den Hackstock. Wenn dich die Bäuerin fragt: ›Hansl, was magst denn?‹, so sagst du: ›Ein Butterbrot.‹ Du mußt aber recht niedergeschlagen tun und ein saures Gesicht machen, dann wird die Bäuerin fragen: ›Hansl, was fehlt dir denn?‹ Darauf antwortest du: ›Mir fehlt sonst nichts.‹ Dann wird sie schon merken, daß nicht der Hansl Schafhirt ist, sondern ein anderer. Wenn du aber brav bist, wird sie schon zufrieden sein mit dir, und du wirst es gut haben.«

Nachdem er so geredet hatte, schwang er sich aufs Pferd und ritt auf und davon.

Der neue Schafhirt saß nun unter seinen Tieren, welche fleißig am Gras rupften und von Zeit zu Zeit während des Kauens zu[89] ihm aufschauten, als wollten sie sich besinnen, ob das der Rechte sei. Er ging zu den Schafen und Lämmlein herum und streichelte und kratzte sie unten am Hals, was sie recht gern zu leiden schienen. Bald wurde er neugierig, wie es etwa in der Umgegend aussehe. Er stieg auf einen nahe gelegenen Hügel und beschaute sich von da aus die ganze Nachbarschaft. Da sah er nicht weit von sich auf einem Hügel ein großes und prächtiges Schloß. Es wunderte ihn, wem etwa das große Gebäude gehören möchte, aber weil er niemanden bei sich hatte, den er fragen konnte, gab er sich einstweilen zufrieden und stieg wieder zu seinen Schafen hinab.

Es dauerte nimmer lange, so begann es dunkel zu werden, und er trieb seine Herde dem großen Bauernhaus zu. Die Schafe liefen in ihren Stall, der Hirt aber ging in die Küche und setzte sich auf den Hackstock. Die Bäuerin schaute ihn zuerst nicht viel an und setzte gerade jene Fragen, die ihm der andere Hirte vorausgesagt hatte. Sie erkannte ihn auch an seinem traurigen Wesen, allein er gefiel ihr sonst nicht übel, und sie ließ sich den Tausch gerne gefallen. Auch führte sie ihn zum Bauern und gab ihm allerlei Regeln, nach denen er sich im neuen Dienst zu verhalten habe.

»Vor allem gib acht«, sagte sie, »daß kein Schaf über den Grenzstein läuft und im Feld unserer Nachbarn grast. Denn dies sind drei Riesen, die da drüben im Schloß wohnen und den Leuten solchen Schrecken einjagen, daß unser König demjenigen sogar seine Tochter versprochen hat, der den dreien den Garaus macht.«

Der Junge war froh, einmal zu wissen, wem dieses prächtige Schloß gehöre, und versprach auch, den Ermahnungen der Bäuerin treu zu gehorchen.

Das Schafhüten gefiel ihm gar nicht übel, und der beständige Aufenthalt unter Gottes freiem Himmel kam ihm lustiger vor als das ewige Stubenhocken. Er kaufte sich eine Zither und spielte und sang auf der Wiese, daß die Berge ringsum widerhallten.

Die Riesen im Schloß hörten sein Spiel und seinen Gesang, und es dauerte nicht lange, bis einer von ihnen aus Neugier zu ihm herüberkam. Der Kerl war so lang, daß er über alle Bäume[90] hinausreichte, und der Hirt sah ihn schon von weitem daherkommen. Schnell stieg er auf den Wipfel eines hohen Baumes und schaute dem Riesen entgegen. Als dieser nahe kam und ihn fragte, warum er auf dem hohen Baume sitze, sagte er: »Ich bin heraufgestiegen, damit ich dich anschauen kann.«

Der Riese hatte große Freude an dieser Antwort und sagte: »Steig nur vom Baum herab; ich will jetzt Wein und Brot vom Schloß herüberholen, und dann werden wir miteinander essen und trinken, singen und spielen.«

Als er dies gesagt hatte, drehte er sich um und machte einige große Schritte gegen das Schloß hin. Der Hirtenknabe fing an, vom Baum herabzusteigen, allein bis er auf den Boden kam, war auch der Riese schon wieder zurückgekehrt. Er hatte eine ganze Menge Wein und Brot mitgebracht und hieß nun den Hirten lustig sein und sich gütlich tun. Der Hirt hatte aber ein Fläschchen mit einem starken Schlaftrunk bei sich, und davon goß er unbemerkt einige Tropfen in das Trinkglas des Riesen.

Sie hatten kaum zu trinken angefangen, da packte den Riesen ein gewaltiger Schlaf. Er legte sich seiner ganzen Länge nach auf das Gras und fing an zu schnarchen. Der Hirt wartete nicht lange, nahm ihm sogleich sein Messer von der Seite, schnitt ihm den Kopf ab und schnitt auch die Zunge aus dem Kopf heraus. Dann begrub er den Leichnam und ließ sich gar nicht anmerken, daß etwas geschehen war. Er gab wieder auf seine Schafe acht und sang und spielte die Zither, daß man es weitum hören konnte.

Alsbald kam der zweite Riese, tat freundlich mit dem Hirten, setzte sich zu ihm nieder, packte Brot und Wein aus und lud den Hirten dazu ein. Der Hirt brachte wieder ein paar Tropfen von seinem Schlaftrunk in das Glas des Riesen und wartete, bis er einschlief. Dann nahm er ihm das Messer von der Seite, schnitt ihm den Kopf ab und die Zunge heraus und grub den Leichnam ein.

Als er damit fertig war, schaute er wieder zu seinen Schafen und sang und spielte dazu auf der Zither. In kurzer Zeit kam der dritte Riese, trank, sang und spielte mit dem Hirten, bekam aber auch einen Schlaftrunk und verlor seinen Kopf. Der Hirt[91] scharrte seinen Leichnam zu den anderen zwei ein, die drei Zungen aber steckte er zu sich, um sie einmal als Wahrheitsbeweis brauchen zu können.

Nicht lange Zeit darauf traf es sich, daß ein Förster, der seiner Arbeit nachging, an diesen Ort kam und die drei Riesenleichname samt den abgeschnittenen Köpfen fand. Der Förster hatte eine übergroße Freude, nahm die drei Köpfe und ging alsbald zu dem König. Er erzählte ihm, daß er den drei Riesen das Licht ausgeblasen habe, und forderte ihn auf, ihm seine Tochter dem Versprechen gemäß zur Gemahlin zu geben. Der König wollte ihm aufs Wort hin nicht glauben, sondern forderte auch Beweise für seine Behauptung. Der Förster zeigte ihm die drei Köpfe, und als er diese sah, so war er zufrieden und führte den Förster der Tochter als ihren Bräutigam vor.

Die Prinzessin aber wollte von dieser Heirat nichts wissen, denn sie konnte den Förster nicht liebgewinnen, und behauptete steif und fest, ein anderer und nicht der Förster müsse die Riesen getötet haben.

Inzwischen kam der Schafhirt an den Hof, zeigte dem König die Zungen der drei Riesen und erbat sich von ihm seine Tochter zur Frau. Weil er die Zungen brachte, erkannte man ihn als den eigentlichen Täter, und die Königstochter wurde mit der größten Freude seine Gemahlin.


(mündlich aus Kramsach)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 88-92.
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