8. Das versunkene Dorf.

[169] Auf den triftreichen Höhen von Gergelylak, wo man heute nur einsame, von Schafheerden bevölkerte Weideplätze und keine Menschenwohnungen erblickt, lag einst ein stattliches Dorf, dessen Bewohner überreich[169] und deshalb auch übermüthig waren. Der Ueberfluß des Goldes und der glänzenden Habe ließen Gottesfurcht und gute Sitten immer mehr schwinden, und dafür zogen alle mögliche Frevel und Laster als bleibende Gäste in die Wohnungen ein. Lange ließ der Himmel die Uebelthaten ungerächt, bis deren Maaß überschwoll und ein grauenvoller Unheilstag das goldene Dorf von der Erde tilgte und es mit allen seinen Häusern, Bewohnern und Schätzen tief in den Schooß derselben sinken ließ. Harte Buße ward den lasterhaften Bewohnern vom zürnenden Himmel auferlegt. Sie müssen sich durch die Erde mit den Fingern einen Weg zur Kirche und wieder zurück in ihre Häuser graben, das dauert, Hergang und Hingang, jeder genau ein halbes Jahr. Einmal nur im Jahre, wenn die Sünder in der Geisterkirche beisammen sind, um einen vollen Tag hart und furchtbar zu büßen, tönt schaudervoll die unterirdische Glocke, deren dumpfen Hall man bisweilen auf der Oberfläche vernimmt. Wer ihn hört, dem zittert das Herz. Und diese Buße der Sünder soll währen bis zum jüngsten Tage.

Eines Tages ließ ein Schäfer auf den Höhen von Gergelylak seine Heerde weiden, und entlockte seiner Fuliara, einer in Ungarn üblichen Schalmei, melancholische Töne. Da vernimmt er, zur Mittagsstunde, einen andern, schauerlichen Klang, der tief aus dem Bergesinnern zu dringen scheint, und endet, von Furcht durchbebt, schnell sein Spiel und spricht ein Gebet für die büßenden Unterirdischen. Indem nimmt er wahr, daß eins seiner Schafe hinkt und sich am Fuße verwundet[170] hat. Der Blutspur folgend, sieht er eine rostige Eisenspitze aus der Erde ragen. Er starrt mit seiner Schippe die Erde hinweg und entdeckt ein Metallkreuz von uralter Form. So wie er dieses Kreuz mir der Hand berührt, ist ihm, als schaue er durch die Erde wie durch den Spiegel eines Sees tief, tief hinab und sehe unten das versunkene Dorf in aller seiner Goldpracht und seinem alten Glanze, aber keinen Einwohner vermochte er zu erblicken, die waren alle in der Kirche und büßten für ihre Sünden. Da entdeckte der überraschte Seher auch, sich ganz nahe, den massiv goldnen Knopf des Kirchthurms und gedachte, diesen Knopf mit leichter Mühe an sich zu bringen. Allein diese Mühe war gänzlich fruchtlos; wie sehr der Schäfer auch sich abmühte, der Goldknopf saß eisenfest am Thurme des versunkenen Dorfes. Lange starrt der Hirte, habsüchtig nach dem Golde, auf den Knopf und hinab in die Tiefe, endlich erhebt er sich und geht, sich Hülfe herbeizurufen, so ungern er auch mit seinen Gesellen den Reichthum zu theilen sich entschließt. Die Mittagsstunde ist längst vorbei, als er mit mehreren Gefährten und mit allerlei Handwerksgeräthschaften versehen, wieder auf den Hügeln von Gergelylak anlangt. Nun sucht er die Eisenspitze und das Kreuz; er findet sie nicht, hat auch in seiner Hast und Eile vergessen, ein Zeichen daneben zu stecken. Die Kameraden murren, glauben sich von ihm geäfft, er will sich verantworten und ihnen das verwundete Schaf zeigen. Da ist kein einziges von der ganzen Heerde verwundet, alle sind heil. Statt des goldnen Thurmknopfes empfängt der[171] Hirte viele Prügel, und nach drei Tagen war er todt. Es ist nicht gut, den Ton der Glocke des verfluchten Dorfes zu hören, und noch schlimmer, hinunter zu sehen, denn Letzteres zeigt nahen Tod an.

Quelle:
Bechstein, Ludwig: Die Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Oesterreich. 1. Band, Leipzig: B. Polet, 1840, S. 169-172.
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