II. Von Wiens Thoren.

[3] Die harmlosen und scherzfröhlichen Bewohner der Kaiserstadt hatten vor Alters ein Sprüchwort, und haben dasselbe vielleicht heute noch, das lautete, wie ein Reisender um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts erzählt: »Wien hat starke Mauern und feste Basteien und sechs wohlbewachte Thore, und doch kann man in die Stadt herein kommen, ohne ein Thor zu passiren.« – Dieß sind die Namen der Thore: Das Stubenthor, (das Ungarische) das Kärnthnerthor, das Burgthor, das Schottenthor, das Neuthor und der rothe Thurm, und weil der rothe Thurm nicht den Namen eines Thores führte, obwohl er eins war, da er noch stand, so zielte darauf hin der Scherz. Gerade durch diesen Thurm ging die stärkste Passage[3] in die innere Stadt, denn Alles, was zu Schiffe anlangte oder vom jenseitigen Donau-Ufer herüberkam, das mußte hierdurch seinen Weg nehmen.

An diesem rothen Thurme stand auch gleich eine gute Lehre für die fremden Einwanderer:


Welcher kommt durch diese Port,

Dem rath ich mit getreuem Wort,

Daß er halt Fried in dieser Stadt,

Oder er macht ihm selbst Unrath,

Daß ihn zwei Knecht' zum Richter weisen

Und schlagen ihn in Stock und Eisen.

Quelle:
Bechstein, Ludwig: Die Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Oesterreich. 1. Band, Leipzig: B. Polet, 1840, S. 3-4.
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