Die besessene Prinzessin.

[85] Neben dem großen Amontempel zu Karnak erhebt sich in Theben ein umfangreiches Heiligtum, das dem unter anderem als Mondgott geltenden Chunsu, der häufig als Neferhetep »der schön Ruhende« bezeichnet wurde, errichtet war. Daneben stand ein kleines Bauwerk, welches man einer Sonderform dieser Gottheit, dem Chunsu, dem Ausführer der Pläne geweiht hatte. Diese, in älteren Texten nur selten genannte Gestaltung gewann in den späteren Zeiten des Aegyptertumes an Ansehen und wurde vor allem als heilender Gott betrachtet. Um den Glauben an seine erfolgreiche Tätigkeit zu steigern, erdichtete man eine Reihe von Wunderkuren, die ihm gelungen waren und die man in die Blütezeiten Aegyptens verlegte. Ihre Schilderung wurde auf Stein aufgezeichnet und in dem Heiligtume aufgestellt. Uns ist eine derselben auf einem Denkstein, der jetzt in der Nationalbibliothek zu Paris aufbewahrt wird, erhalten geblieben. Sie behauptet selbst aus der Zeit des um 1350 v. Chr. herrschenden Ramses II. zu stammen, doch zeigt[86] ihre Sprache, daß sie bedeutend später, etwa am Anfange des ersten Jahrtausends v. Chr. abgefaßt wurde.

Der oberste Teil des Steins enthält eine Darstellung, die wie üblich das Bild der geflügelten Sonnenscheibe krönt, welche alles Böse von dem Steine abhalten sollte. Unter diesem Bilde wird links eine große Barke, deren Kajüte das Bildnis des Gottes Chunsu in Theben, des schön Ruhenden, umschließt, von acht Priestern getragen, während vor ihr der König Ramses II. weihräuchernd steht. Rechts tragen vier Priester eine weniger schön ausgestattete Barke, die den Chunsu, den Ausführer der Pläne in Theben, den großen Gott, den Verscheucher der Bösen, enthält. Ihm weihräuchert sein Priester Namens Chunsu-hâ-neter-neb »Chunsu steht an der Spitze aller Götter«. Unter diesen Bildern, die sich auf die Begrüßung zwischen den beiden Chunsu nach der Rückkehr der letzteren aus dem Lande Bechten beziehen, folgt die Inschrift. Diese ist ganz in der feierlichen Umständlichkeit eines amtlichen Berichtes abgefaßt, und beginnt daher auch nach feststehender ägyptischer Sitte mit einer sehr ausführlichen Titulatur des Königs, aus dessen Zeit sie zu stammen vorgibt.


* * *


Der Horus, der kräftige Stier, der feststeht mit seinen Diademen, der so beständig in seinem Königtume ist wie der Sonnengott Tum, der Gold-Horus, der kräftig ist mit seinem Schlachtbeil, der niederschlägt die neun fremden Bogenvölker, der König von Ober- und Unterägypten,[87] der Herr beider Länder – Er ist die Sonne, mächtig in Wahrheit, gebilligt von der Sonne – der leibliche Sohn des Sonnengottes Râ – der von Amon geliebte Ramses – der geliebt wird von Amon-Râ, dem Herrn der Throne beider Länder (von Ober- und Unterägypten) und von den neun Göttern, den Herrn von Theben. Der schöne Gott, der Sohn des Gottes Amon, den geboren hat die Göttin Mut, den erzeugt hat der Gott Râ-Harmachis, der glänzende Sprößling des Herrn des Alls, der gezeugt worden ist von dem Gatten seiner Mutter (einer Gestaltung des Amon), der König von Aegypten, der Herrscher des Auslandes, der Fürst, der ergriff die fremden neun Bogenvölker. Sobald er aus dem Schoße seiner Mutter kam, leitete er die siegreichen Kämpfe, Befehle erteilte er sofort, nachdem er aus dem Ei kam. Der Stier mit festem Herzen, von dem männliche Kraft ausgeht, er ist ein königlicher, göttlicher Stier, der hervorgeht aus dem Sonnengotte, seine Siege sind denen des (Kriegsgottes) Month ähnlich, seine Tapferkeit ist so groß wie die des Sohnes der Göttin Nut (des kriegerischen Gottes Set).

Seine Majestät befand sich in Neharina (in Nordostsyrien), wie das in jedem Jahre seine Gewohnheit war. Wie Fürsten aller Länder bis zu den äußersten Enden der Welt kamen unter Verbeugungen und in feierlicher Weise zu Seiner Majestät. Auf ihren Rücken befanden sich ihre Gaben, Gold, Silber, Lapislazuli, Malachit, allerhand wertvolle Holzarten aus dem Götterlande (Arabien, von woher, aus dem Osten, der Sonnengott stammte); einer ging immer hinter[88] dem andern her. Da ließ auch der Fürst von Bechten (einem in Asien zu suchenden, sonst unbekannten Lande) seine Tribute herbeibringen, er ließ seine älteste Tochter an der Spitze ihrer Gefährtinnen sich nahen, um Seine Majestät zu preisen und Leben von ihr zu erflehen. Sie erschien dem Herzen Seiner Majestät als ein sehr schönes Mädchen, schöner als irgend ein anderes Wesen, und so ließ der König denn ihren Namen (in das Verzeichnis seiner Haremsinsassen) einzeichnen als den einer großen Königlichen Gemahlin, und nannte sie Nefer-u-Râ (die Schönheiten des Sonnengottes). Als Seine Majestät nach Aegypten gelangt war, da ließ sie für das Mädchen all die Zeremonien vollziehen, die für eine Königliche Gemahlin üblich waren.

Als der zweiundzwanzigste des Monats Payni des fünfzehnten Regierungsjahres des Königs herankam, da befand sich Seine Majestät in Theben, der siegreichen Stadt, der Herrin der Städte, um seinen Vater Amon-Râ, den Herrn der Throne der Welt, bei seinem schönen Feste im südlichen Theben zu preisen, an dem Orte, der von Anbeginn an den Lieblingssitz des Gottes gebildet hatte. Da kam man und meldete Seiner Majestät: »Es ist ein Bote von dem Fürsten von Bechten gekommen, der brachte viele Gaben für die Königliche Gemahlin.« Man ließ den Boten mit seinen Gaben vor Seine Majestät kommen, und da sprach er und pries Seine Majestät: »Preis sei dir, du Sonne der neun fremden Bogenvölker! Mögest du uns Leben schenken!« Das sagte er, indem er sich vor Seiner Majestät niederwarf, und dann sprach er weiter vor Seiner Majestät: »Ich komme[89] zu dir, mein Fürst und Herr, wegen der Bentrescht (die Tochter der Freude), welche durch (deine Vermählung mit) der Königlichen Gemahlin Neferu-Râ deine jüngere Schwester geworden ist. Ein Uebel ist in ihre Glieder eingedrungen. Deine Majestät möge einen Schriftgelehrten aussenden, um nach ihr zu sehen.«

Da sagte Seine Majestät: »Man bringe mir die Bibliotheksschreiber und die Palastschreiber hierher.« Man brachte sie sofort zu ihm. Da sagte Seine Majestät: »Ich ließ euch rufen, damit ihr meine Worte vernehmt. Wohlan! Besorgt mir einen Mann, der kundig ist in seinem Herzen, der schrifterfahren ist mit seinen Fingern und der zu eurem Kreise gehört.« Da führten sie den Königlichen Schreiber Thuti-em-heb vor Seine Majestät. Seine Majestät befahl ihm mit dem Boten nach Bechten zu gehen. Als der Schriftgelehrte nach Bechten gelangte, da fand er, daß Bentrescht von einem Dämon besessen war, und fand, daß er selbst zu schwach war, um mit diesem Dämon zu kämpfen. So schickte denn der Fürst von Bechten zum zweiten Male zu Seiner Majestät und ließ ihr sagen: »O Fürst und Herr! Befiehl, daß ein Gott herbeigebracht werde, um den Dämon zu bekämpfen.«

Dieser Bote kam am ersten des Monats Pachons des sechsundzwanzigsten Regierungsjahres des Königs zu Seiner Majestät, zu der Zeit, als das Fest des Gottes Amon gefeiert wurde und Seine Majestät sich in Theben befand. Da begab sich Seine Majestät zu dem Gott Chunsu, dem schön Ruhenden in Theben, und sagte: »O mein schöner Herr! Da stehe ich[90] wieder vor dir wegen der Tochter des Fürsten von Bechten.« Da eilte Chunsu in Theben, der schön Ruhende, zu Chunsu, dem Ausführer der Pläne, dem großen Gotte, dem Verscheucher der Bösen. Und es sprach Seine Majestät vor Chunsu in Theben, dem schön Ruhenden: »O mein schöner Herr! Möchtest du doch dein Antlitz wenden zu Chunsu, dem Ausführer der Pläne, dem Verscheucher der Bösen, damit er nach Bechten gehe.« Da nickte der Gott zweimal mit dem Kopfe als Gewährung der Bitte. Und der König fuhr fort: »Und es möge deine Zauberkraft mit ihm sein, wenn ich die Majestät dieses Gottes nach Bechten gehen lasse, um die Tochter des Fürsten von Bechten zu retten.« Da nickte Chunsu, der schön Ruhende in Theben, zweimal eifrig mit dem Kopfe als Gewährung der Bitte, und er verlieh viermal seine Zauberkraft dem Chunsu, dem Ausführer der Pläne in Theben.

Seine Majestät gab Befehl, daß man Chunsu, den Ausführer der Pläne in Theben, zu einem großen Schiffe bringen solle. Fünf Lastschiffe, Wagen und zahlreiche Pferde sollten rechts und links von ihm einherziehen. So gelangte dieser Gott nach Ablauf von einem Jahr und fünf Monaten nach Bechten. Der Fürst von Bechten zog mit seinen Soldaten und seinen Heerführern dem Gotte Chunsu, dem Ausführer der Pläne, entgegen, und warf sich vor ihm nieder auf seinen Bauch und sagte: »Du kommst zu uns, du erfreust uns auf Befehl des Königs von Ober- und Unterägypten Ramses II.«

Da trat dieser Gott in den Raum, in dem sich Bentrescht befand. Er verlieh der Tochter[91] des Fürsten von Bechten seine Zauberkraft, und sie ward sofort gesund. Da sprach der Dämon, der sich in ihr befand, vor Chunsu, dem Ausführer der Pläne in Theben: »Du kommst in Frieden, du großer Gott, du Verscheucher der Bösen. Bechten ist deine Stadt, ihre Bewohner sind deine Sklaven, ich bin dein Sklave. Ich werde an den Ort gehen, von dem ich gekommen bin. Dadurch will ich dein Herz befriedigen, da du ja deswegen hierher gekommen bist. Ich bitte aber deine Majestät, zu befehlen, daß für mich und für den Fürsten von Bechten ein Fest gefeiert werde.«

Da nickte dieser Gott seinem Priester zustimmend zu und sagte: »Der Fürst von Bechten soll vor diesem Dämon ein großes Opfer darbringen!« Während sich diese Ereignisse zwischen dem Gotte Chunsu, dem Ausführer der Pläne in Theben, und diesem Dämon abspielten, standen der Fürst von Bechten und seine Soldaten dabei und fürchteten sich sehr. Dann brachte der Fürst von Bechten ein großes Opfer vor Chunsu, dem Ausführer der Pläne in Theben und vor diesem Dämon, der bei den Fürsten von Bechten geweilt hatte, dar. Er veranstaltete für sie einen Festtag. Dann ging dieser Dämon in Frieden auf Befehl des Chunsu, des Ausführers der Pläne in Theben, an den Ort, der ihm beliebte. Da jubelte der Fürst von Bechten laut auf und mit ihm alle Leute, die in Bechten lebten.

Da pflegte der Fürst von Bechten mit seinem Herzen Rat und sagte: »Ich werde dem Lande Bechten diesen Gott als Geschenk geben und[92] werde ihn nicht wieder nach Aegypten gehen lassen.« So verweilte denn dieser Gott drei Jahre und neun Monate in Bechten. Da lag eines Tages der Fürst von Bechten auf seinem Ruhebette, und da sah er, wie dieser Gott aus seiner Kapelle herauskam, er hatte die Gestalt eines goldenen Falken und flog zum Himmel empor nach Aegypten zu. Als der Fürst erwachte, war er voll Schrecken und sagte zu dem Priester des Chunsu, des Ausführers der Pläne in Theben: »Dieser Gott, der bei uns verweilt hat, zog nach Aegypten, es möge nunmehr sein Wagen nach Aegypten ziehen.«

Der Fürst von Bechten ließ diesen Gott nach Aegypten ziehen. Er gab ihm sehr viele Geschenke mit von allerhand Dingen, Soldaten und sehr viele Pferde. Als sie nun in Frieden nach Theben gelangt waren, da ging Chunsu, der Ausführer der Pläne in Theben, zu der Wohnung des Chunsu in Theben, des schön Ruhenden. Er stellte die Geschenke, die ihm der Fürst von Bechten gegeben hatte, alle die schönen Dinge, vor Chunsu in Theben, dem schön Ruhenden, hin, und nahm nichts von dem allen für seine eigene Wohnung in Anspruch. Es kehrte aber Chunsu, der Ausführer der Pläne in Theben (nach all diesen Ereignissen) in Frieden in seine Behausung zurück am neunzehnten des Monates Mechir im fünfunddreißigsten Jahre der Regierung des Königs von Ober- und Unterägypten Ramses, dem Leben verliehen ward gleichwie dem Sonnengotte Râ ewiglich.

Quelle:
Wiedemann, Alfred: Altägyptische Sagen und Märchen. Leipzig: Deutsche Verlagsactiengesellschaft, 1906, S. 85-93.
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