Eine alte Geschichte.

[197] Ein Häuptling hatte viele Unterthanen und unter ihnen einen Gelehrten. Dieser prophezeite und sprach: »Im kommenden Jahre nach dem Jahreswechsel dürfen die Leute kein Wasser aus den Brunnen nehmen; wer es dennoch thut, dessen Verstand wird darunter leiden.«

So kam es, dass die Leute grosse Töpfe bereitstellten und die grössten Wassergefässe, Fässer und Behälter kauften und dieselben mit Wasser füllten, ehe noch das neue Jahr anbrach.

Nach Beginn des neuen Jahres verbrauchten sie das Wasser, welches sie angesammelt hatten. Das Wasser der Armen schwand bald dahin, denn ihre Gefässe waren keine grossartig gearbeiteten; sie schöpften daher wieder Wasser aus den Brunnen zu ihrem Gebrauche. Und es geschah, dass jeder, welcher dieses Wasser genoss, an Verstand einbüsste. Allmälig waren die Leute der ganzen Stadt so weit gekommen, nur der Häuptling hatte noch seinen ganzen Verstand bewahrt, denn er war allvermögend, seine Gefässe fassten eine Menge Wasser, das nicht zu Ende ging.[197]

Aber alle anderen Leute zeigten einen gestörten Verstand und machten häufig ohne Grund Skandal. Der Herrscher setzte sie wieder zurecht und manchmal war es so, als ob sie sich dem, was sie nicht thun sollten, willfährig zeigten, bis schliesslich der Häuptling einsah, »es giebt kein Ausweg, ich bemühe mich vergebens und wir verstehen einander nicht; es ist besser, ich mache es auch so wie sie.« Er ging hin und liess Wasser aus einem Brunnen schöpfen, trank davon und war genau so wie sie, und sie verstanden einander wieder.

Quelle:
Velten, C[arl]: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stuttgart/Berlin: W. Spemann, 1898, S. 197-198.
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