|
[191] Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen. Da die Mutter der Kinder aber eine Kannibalin war, so hatte der Vater beide gleich nach ihrer Geburt zu ihrem Großvater geschickt, bei dem lebten sie und wuchsen auf. Als sie nun groß waren, sprachen sie eines Tages zu dem alten Manne:
»Wir sind lange genug hier gewesen; es verlangt uns heimzugehen, um unsere Eltern zu sehen.«
Der Großvater antwortete:
»Werdet ihr auch zurückkommen? Ihr wißt doch, daß eure Mutter eine Menschenfresserin ist?«
Die Kinder aber blieben bei ihrem Vorsatz, und so willigte der Großvater schließlich ein und ließ sie ziehen. Doch ehe sie sich auf den Weg machten, warnte er sie noch und sprach:
»Seht zu, daß nur euer Vater um eure Anwesenheit wisse und nicht eure Mutter. Meidet sie!«
Als die Sonne untergegangen war, sagte Kinazinei, der Knabe, zu seiner Schwester:
»Laß uns nun gehen, meine Schwester; denn der Weg ist weit.«[192]
Die ganze Nacht über schritten sie rüstig vorwärts und erreichten ihres Vaters Hütte kurz vor Sonnenaufgang. An der Tür der Hütte blieben sie stehen und horchten, ob sie der Mutter Stimme hören würden. Als sie sicher waren, daß nur der Vater daheim war, öffneten sie und traten ein. Kaum sah der Vater seine Kinder, als er vor Entsetzen die Hände zusammenschlug und ausrief:
»O meine Kinder, warum seid ihr hierhergekommen? Wißt ihr denn nicht, daß eure Mutter eine Kannibalin ist? Sie wird euch töten, wenn sie euch hier findet.«
Während er noch so redete, hörte man einen gewaltigen Lärm wie das Rollen von Donner; das war das Nahen der Menschenfresserin. Schnell nahm der Mann seine Kinder in einen entlegenen Winkel der Hütte, bedeckte sie mit Fellen und gebot ihnen, sich ganz still zu verhalten. Kaum hatte er sie auf diese Weise sorgfältig versteckt, als die Mutter eintrat; in der einen Hand hielt sie ein Tier, in der anderen den toten Körper eines Mannes. Plötzlich stand sie still, und mit rollenden Augen in dem Raume umherspähend, sprach sie:
»Hier ist etwas, das gut riecht! Ich glaube, meine Kinder sind hier.«
Doch der Mann antwortete:
»Du träumst! Wie sollten deine Kinder hierherkommen!«
Sie aber beruhigte sich nicht, sondern ging von Ecke zu Ecke, immer dem Geruche nach. Als sie zu den Fellen kam, hob sie dieselben hoch und fand die Kinder.
»Es tut mir leid um euch, meine Kinder, euch hier zu sehen,« sagte sie traurig, »denn mein Gelüst nach Menschenfleisch ist zuzeiten so groß, daß ich meiner eigenen Kinder nicht schonen kann. Ihr hättet nicht herkommen sollen; denn ihr wußtet, daß ich eine Menschenfresserin bin.«[193]
Darauf bereitete sie für ihren Mann und die Kinder das Tier zum Essen, für sich aber den toten Mann. Als es nun Abend geworden war, legten sie alle sich schlafen. Der Vater aber nahm die Kinder schnell beiseite und sagte:
»Gebt wohl acht, ihr werdet im Magen eurer Mutter Menschen tanzen, wilde Tiere brüllen und Hunde bellen hören. Dann wisset, daß sie schläft. Steht alsbald leise auf und geht eilends fort; denn wenn sie euch morgen früh sieht, wird sie euch verschlingen.«
Es währte denn auch gar nicht lange, so hörten sie einen entsetzlichen Lärm in dem Magen ihrer Mutter, und hurtig standen sie auf und machten sich auf den Rückweg. Um Mitternacht erwachte das Weib und ward sehr zornig, als es fand, daß die Kinder fortgegangen waren. Schnell stand es auf, nahm eine Axt und folgte ihnen. Als die Kinder hinter sich sahen, gewahrten sie mit Schrecken ihre Mutter, die ihnen schon ganz nahe gekommen war. Sie waren zu müde, um schnell rennen zu können, und fürchteten sich sehr. Schließlich sagte der Knabe zu dem Mädchen:
»Vielleicht werden unsere Tränen und Bitten unsere Mutter rühren. Laß uns stehen bleiben und sie erwarten.«
Doch das Mädchen erwiderte:
»Sie ist hungrig und wird weder unserer Tränen, noch unserer Bitten achten.«
Doch der Knabe beharrte:
»Laß es uns versuchen.«
Bald war die Kannibalin ganz nahe gekommen; da fingen die Kinder an, laut zu klagen und um ihr Leben zu flehen. Und wirklich wurde die Frau gerührt davon und kehrte um. Als sie in ihre Hütte trat, ergriff sie[194] ihren Mann, um ihn zu töten und zu essen; denn sie war sehr hungrig. Doch der wehrte sich und rief:
»Ho, ho, wenn du mich tötest, wer ist denn dann dein Mann?«
Da ließ sie ihm das Leben, machte sich aber sofort auf den Weg, um von nun an ihre Kinder zu verfolgen. Nahe bei dem Dorf ihres Großvaters holte sie sie ein und verschlang beide. Dann ging sie in das Dorf und verschlang Männer, Frauen und Kinder und schließlich auch alles Vieh, welches sich vorfand. Gegen Abend machte sie sich auf den Heimweg. Als sie durch ein tiefes Tal kam, sah sie von weitem einen schönen, bunten Vogel, der wuchs zusehends und war schließlich so groß wie ein Haus. Als die Frau ganz nahe gekommen war, fing der Vogel an mit lauter Stimme zu singen:
»Ich bin der schönste Vogel dieses Tales; warum kommst du, mich zu stören?«
Während er so sang, kam er langsam schrittweise näher und nahm schließlich der Frau ihre Axt fort; dabei sang er immerzu. Die Kannibalin fing an, sich zu fürchten, und sprach:
»Vogel, gib mir meine Axt wieder, ich will dein Fleisch ja nicht!«
Da riß der Vogel ihr einen Arm aus. Sie schrie laut auf vor Schmerz und sprach:
»Vogel, gib mir, was mein; gib mir zurück, was du mir genommen hast; dann will ich weitergehen.«
Doch der Vogel schien sie gar nicht zu hören, sondern sang immer denselben alten Sang:
»Ich bin der schönste Vogel dieses Tales!«
Da rief die Frau wieder mit lauter Stimme:
»Vogel, gib mir wieder, was du mir genommen hast! Ich muß heimgehen zu meinem Mann und für ihn kochen!«[195]
Da riß ihr der Vogel ein Bein aus, daß sie zur Erde fiel. Der Vogel aber sang weiter und weiter die nämlichen Worte. Als die Frau sah, daß ihr Leben in Gefahr war, sann sie auf eine List, um zu entkommen.
»Vogel,« sprach sie, »du kannst nicht gut singen. Ich will dich singen lehren, wenn du mir wiedergibst, was mein, und mich gehen läßt.«
Da breitete der Vogel seine Flügel aus und riß ihr mit seinem Schnabel den Magen auf. Aus dem Magen aber kamen hervor alle Leute und alles Vieh, das die Frau in den letzten Tagen verschluckt hatte, und sie selber starb unter großen Schmerzen. Ihre eigenen Kinder kamen auch wieder zum Vorschein, und die anderen Leute machten sie zu Herren des Landes.
»Denn,« sprachen sie, »durch euch sind wir wieder zum Leben zurückgekommen; ihr habt uns alle gerettet.«
Das Mädchen heiratete einen mächtigen Häuptling und Kinazinei die Tochter eines Häuptlings.
Buchempfehlung
Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro