14. Die dankbaren Thiere.

[144] Es war eine alte Frau, die hatte einen Knaben, der war sehr dumm. Die Mutter war arm und hatte nichts andres zum Lebensunterhalt, als dass sie Flachs spann. Eines Tages sprach der Sohn zu ihr: »Mutter, heute will ich gehen und[144] die Fäden verkaufen«. »Es sei, mein Sohn, geh hin, verkaufe die Fäden und kaufe Brot«. Der Knabe gieng hin, die Fäden zu verkaufen, und verkaufte sie für drei Kazill. Während er nun hin gieng, um Brot zu kaufen, traf er einige Landstreicher, die einen Hund tödteten. Er sprach zu ihnen: »Erbarmen, tödtet ihn nicht, denn das ist Sünde«. »Geh, du Narr!« sagten die Landstreicher zu ihm. Da sprach jener: »Wollt ihr ihn mir verkaufen?« Sie sagten: »O ja, wir verkaufen ihn dir.« »Und wieviel verlangt ihr für ihn?« Sie sprachen: »Zwei und ein halb Kazill«. »Gut.« Er gab ihnen zwei und ein halb Kazill und für einen halben Kazill kaufte er eine Leber für den Hund. Dann kehrte er nach Hause zu seiner Mutter zurück und sprach zu ihr: »Mutter, ich habe einen Hund gekauft«. Da rief die Mutter: »Der Schlag soll dich treffen, Sohn, was soll ich mit dem Hunde?« Und die arme Mutter nahm wieder ihren Spinnrocken, um zu spinnen. Als sie fertig war, schickte sie ihren Sohn wieder, um die Fäden zu verkaufen. Er verkaufte sie, und wieder traf er Leute beim tödten einer Katze, und auch diese Katze kaufte er wie den Hund und kaufte ihr einen Fisch. Als er zur Mutter kam, sprach er: »Mutter, ich habe eine Katze gekauft«. »Möge dir die Katze deine Ohren abfressen; denn wir haben selbst nichts zu essen, geschweige dass wir der Katze zu fressen geben sollten«. Sie begann wieder zu spinnen, und als sie fertig war, gieng der Knabe wieder und verkaufte es. Er traf wieder Leute, die einen Esel tödteten, und sprach zu ihnen: »Tödtet diesen Esel nicht, sondern verkauft ihn mir«. Und sie tödteten ihn nicht, sondern der Knabe kaufte ihn um fünfzig Para, und für zehn Para kaufte er ihm Spreu. Dann ritt er auf dem Esel nach Hause. Die Mutter erwartete, dass diesmal gewiss Brot kommen würde, und sieht ihren Sohn auf dem Esel. Der Knabe sprach zu ihr: »Ich habe einen Esel gekauft«. Da die arme Mutter von Hunger entkräftet war, spann sie rasch wieder Flachs und gieng selbst hin und verkaufte ihn.

Der Sohn gieng mit dem Esel nach Holz; als er das Holz geschnitten hatte, lud er es auf den Esel, und auf dem Heimwege kam er an einem brennenden Garten vorbei. Er blieb stehen und schaute zu. Nun sass auf der Spitze eines Feigenbaumes[145] eine Schlange und wusste nicht, wie sie entkommen sollte. Da sprach sie zu dem Knaben: »Mensch befreie mich aus diesem Feuer«. Er antwortete ihr: »Du bist eine Schlange und wirst mich fressen, ich traue dir nicht«. Die Schlange sprach: »Wenn du mich aus dem Feuer befreit, will ich dich glücklich machen«. Da gieng der Knabe in den Garten und zog die Schlange heraus. Diese sprach hierauf: »Komm mit mir zu meiner Höhle, dort ist meine Mutter und meine Brüder«. Er gieng mit ihr, und unterwegs sagte sie zu ihm: »Nimm von meiner Mutter nichts andres an als das Siegel, welches sie unter der Zunge trägt«. Als sie zur Höhle gelangten, kam ihnen die Mutter der Schlange entgegen, um den Knaben zu fressen; aber die Schlange rief ihr zu: »Mutter, rühre diesen Knaben nicht an; denn er hat mich aus dem Feuer errettet«. Da rührte sie ihn nicht an. Und die Schlange sprach zu ihr: »Mutter, gib ihm irgend etwas dafür, dass er mich aus dem Feuer errettet hat«. Und sie sprach: »Was willst du von mir?« Da sagte der Knabe: »Ich will nichts andres als das Siegel, welches du unter der Zunge hast«. Und sie gab es ihm und sprach: »Alles, was du von diesem Siegel verlangst, wird dir zu Theil werden; aber verlier es nicht.«

Der Knabe gieng nach Hause und sprach zu seiner Mutter: »Mutter, komm, iss!« »Wir haben nichts zum essen, mein Sohn!« »Komm, komm, denn der Tisch mit tausend guten Sachen wird gleich kommen.« Die Mutter gieng aus Neugierde, um zu sehen, was für einen Tisch er habe, dass er sie rief. Er sagte zu dem Siegel: »Siegel, bringe mir einen Tisch mit allen Arten von Speisen«; und er kam sogleich. Nachdem sie gegessen hatten, sprach der Knabe zu seiner Mutter: »Ich will die Tochter des Sultans zur Frau haben. Geh und sage zum Sultan: mein Sohn verlangt dein Mädchen«. Die Mutter gieng zum Sultan und sprach zu ihm: »Mein Sohn will deine Tochter zur Frau«. Der Sultan antwortete ihr: »Wenn er einen Palast baut, der schöner ist als der meinige, soll er meine Tochter bekommen«. Die Mutter gieng nach Haus und berichtete ihrem Sohne: »Der Sultan hat gesagt, wenn du einen Palast baust, der schöner ist als der seinige, will er dir seine Tochter geben«. Da sprach der Knabe zu dem Siegel: »Ich will einen Palast,[146] der schöner ist als der des Sultans«. Sogleich entstand ein Palast, der viel schöner war als der des Sultans. Die Mutter gieng wieder hin und verlangte das Mädchen, indem sie sprach: »Der Knabe hat den Palast gebaut und will jetzt das Mädchen«. Der Sultan erwiderte: »Er muss vorher noch einen Weg machen, ganz gepflastert mit Silberplatten, der beim Palaste des Sultans beginnt und bis zu dem eurigen führt; dann kann er das Mädchen bekommen«. Die Mutter erzählte das ihrem Sohne, und dieser sprach zu dem Siegel: »Siegel, ich will einen Weg, der mit Silberplatten gepflastert ist«; und der Weg war da. Nun gieng die alte zum Sultan und sprach: »Ich will das Mädchen«. Wieder sagten sie ihr: »Wenn dein Sohn sein Haus schöner einrichten wird als das des Sultans, dann geben wir ihm das Mädchen«. Und er schaffte auch die Einrichtung und liess dem Sultan sagen: »Ich will das Mädchen; denn ich habe alles fertig gemacht«. Der Sultan liess nachschauen und, als er erfuhr, dass die ganze Einrichtung hergestellt war, gab er ihm seine Tochter. Nach einigen Tagen stahl ihm die Frau das Siegel und sagte zu demselben: »Siegel, bringe mich über das schwarze Meer und lass diesen hier in seiner früheren Hütte wohnen«. Und sogleich kam sie mitsammt dem Siegel auf das jenseitige Ufer, und er blieb in der Hütte. Er suchte hier, er suchte da, aber er fand nirgends Hilfe. Da sprachen der Hund und die Katze: »Wir wollen gehen und es dir wiederbringen«. »Gut, gehet ihr,« antwortete er.

Die Katze und der Hund machten sich auf und kamen über das schwarze Meer, indem die Katze auf den Hund stieg. Auf dem Weiterzuge überfiel sie die Nacht, und sie machten halt, um in einem Hause zu schlafen. Die Katze und der Hund traten dort ein. Um Mitternacht nun hörte die Katze ein Geräusch von Mäusen; sie erhob sich und spähte hinter einem Vorhange. Dort war eine Mäusehochzeit, und zwar heiratete die vornehmste der Mäuse. Wie nun die Braut der Maus ins Zimmer trat, trat auch die Katze ein, und die Mäuse erschraken. Da sprach die Katze: »Fürchtet euch nicht, denn ich rühre euch nicht an; aber ich verlange von euch, dass ihr mir dieses Siegel findet; wenn ihr es nicht finden könnt, fresse ich euch«. Die Mäuse machten sich geschwind auf und suchten[147] hier und dort, bis sie die Tochter des Sultans im Schlafe fanden. Aber sie hatte das Siegel in ihrem Nasenloch verborgen, und es war schwierig, dasselbe heraus zu ziehn. Was machte nun eine von den Mäusen? Sie gieng hin, steckte ihr den Schwanz in die Nase und kitzelte die Nase, so dass jene niesen musste; dabei fiel das Siegel aus der Nase, und sie überbrachten es der Katze. Die Katze und der Hund machten sich auf, das schwarze Meer zu überschreiten, indem die Katze auf den Hund stieg. Als sie in die Mitte des Meeres kamen, sprach der Hund: »Ich will das Siegel haben«. Die Katze sagte: »Ich gebe es dir nicht«. Da begannen sie mit einander zu streiten, und dabei fiel ihnen das Siegel ins Meer. Als sie das Meer überschritten hatten, blieb die Katze am Ufer stehen. Da kam ein kleiner Fisch heraus, und die Katze fieng ihn und fand das Siegel im Leibe desselben. Sie gieng hin und gab es ihrem Herren. Der Knabe nahm das Siegel und sprach: »Siegel, bringe mir meinen Palast mitsammt der Einrichtung, aber meine Frau lass auf der andern Seite des Meeres«. – Das Märchen in Wolle, Gesundheit für uns.


Man vergl. die von mir im Archiv für slavische Philologie V, 27 und 40 (in meinen Anmerkungen zu den südslavischen M. Nr. 41 und 47) besprochenen M. und ausserdem noch Dozon Nr. 9 und 10, das von Dozon S. 219 im Auszug mitgetheilte cyprische M., Brugman, Litauische M., Nr. 29, wozu Wollner in der Anm. auf zahlreiche slavische Parallelen verweist, und das von A. Socin in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft XXXVI, 29 im arabischen Original und in Uebersetzung mitgetheilte M. aus Märdin.

R.K.[148]

Quelle:
Meyer, Gustav: Albanische Märchen. In: Archiv für Litteraturgeschichte, 12 (1884), S. 144-149.
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