103. Schneewittchen.

[156] Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten nur ein einziges Töchterchen, das war aber auch das schönste Kind im ganzen Reiche. Jeden Morgen wusch und kämmte es die Mutter und zog ihm schöne Kleider an, und wenn es fertig war, schickte sie es in die Schule. Die Lehrerin aber putzte und schniegelte es von neuem, wenn die Schule aus war, und dann ging das Mädchen zum Essen nach Hause. So ging es Tag für Tag, und das Kind wußte nicht, wen es lieber habe, seine Mutter oder die Lehrerin.

Eines Tags aber sagte die Lehrerin zu dem Kinde: »Höre, Marigo, willst du deine Mutter nicht umbringen und mich zu deiner Mutter machen, weil ich dich so schön schmücke und ziere und lesen lehre?« Da versetzte das Kind: »Wie soll ich es denn anfangen, um meine Mutter umzubringen?« – »Das werde ich dir schon sagen, denn[156] wenn du nur willst, kannst du das sehr gut. Komm also her und sage mir, ob du sie umbringen willst.« – »Erkläre mir zuerst, wie ich es anfangen soll, damit ich sehe, ob es geht, und dann sage ich dir schon, ob ich es tun will oder nicht.« – »Also gut,« sprach die Lehrerin, »wenn du nun nach Hause kommst, so sage zu deiner Mutter: Mutter, ich will Feigen und Mandeln aus der großen Marmorkiste haben; und da du ihr einziges Kind bist, so wird sie den Mägden befehlen, daß sie dir welche geben. Da mußt du aber sagen: Ich will sie nicht von den Mägden haben, sondern du sollst sie mir geben. Da wird sie aufstehn und zur Kiste gehn. Wenn aber der Deckel geöffnet wird, so darfst du ihn nicht von den Mägden halten lassen, sondern mußt ihn selbst halten, und wenn dann deine Mutter den Kopf in die Kiste steckt, dann laß den Deckel fahren, damit er zufällt und sie totschlägt, und dann laufe fort und komme zu mir.«

Als nun Marigo nach Hause kam, da verlangte sie von ihrer Mutter Feigen und Mandeln aus der großen Marmorkiste. Da stand die Mutter auf, um sie ihr zu geben, und als die Mägde den Deckel aufgehoben hatten, jagte sie Marigo weg und hielt den Deckel selber, und wie nun die Mutter den Kopf in die Kiste steckte, da ließ Marigo den Deckel fahren, und der fiel zu und schlug die Mutter tot. Darauf lief die Marigo zur Lehrerin und erzählte ihr, was sie getan hatte; der König aber ließ die Priester kommen und seine Frau begraben.

Nach einer Weile sprach die Lehrerin wiederum zu dem Mädchen: »Marigo, willst du nicht deinem Vater sagen, daß er mich zur Frau nehmen soll, damit du mich zur Mutter bekommst, weil ich dich besser putze und schmücke als deine eigene Mutter?« Als das Mädchen am Abend nach Hause kam, sprach es zu seinem Vater: »Willst du[157] nicht die Lehrerin zur Frau nehmen, die so hübsch ist und mich noch besser schmückt und putzt als meine eigene Mutter?« Der König aber versetzte: »Dann will ich deine Lehrerin zur Frau nehmen, wenn meine Schuhe rot werden.«

Als das Mädchen am andern Morgen zur Lehrerin kam, sagte sie zu ihr: »So und so hat mir der Vater geantwortet.« Darauf sprach die Lehrerin: »Wenn du am Abend nach Hause kommst, so nimm ein Stückchen rote Farbe und streiche damit die Schuhe des Königs an, bis sie rot werden, und dann sprich: ›Siehe, Vater, deine Schuhe sind rot geworden und nun nimm die Lehrerin zur Frau.‹«

Als nun das Mädchen am Abend nach Hause kam, da nahm sie heimlich die Schuhe des Königs weg und färbte sie rot, und am andern Morgen sagte sie zu ihm: »Siehe, Vater, wie rot deine Schuhe geworden sind, nun nimm die Lehrerin zur Frau.« Der König aber versetzte: »Dann will ich deine Lehrerin zur Frau nehmen, wenn mein Überrock voller Löcher ist.«

Das erzählte das Mädchen wiederum ihrer Lehrerin, und diese erwiderte und sprach: »Wenn du heute abend nach Hause gehst und dein Vater sich zu Bette legt, so nimm ihm heimlich seinen Überrock und schneide mit der Schere so viel Löcher hinein, als du kannst.«

Das Mädchen aber machte es, wie ihr die Lehrerin gesagt hatte. Sie schnitt in den Überrock ihres Vaters Loch an Loch und sprach am andern Morgen zu dem König: »Siehe, Vater, in deinem Überrock sitzt Loch an Loch, nun mußt du die Lehrerin nehmen.«

Was konnte nun der König machen? Übel oder wohl mußte er die Lehrerin heiraten; sie war aber auch eine sehr schöne Frau, doch Marigo war noch viel schöner. Als[158] nun ein paar Jahre um waren und Marigo von Tag zu Tag immer noch schöner wurde, da sprach die Stiefmutter zu dem König: »Du mußt die Marigo umbringen, und wenn du es nicht tust, so muß ich sterben.« Der König versetzte: »Wie kannst du verlangen, daß ich mein eigenes Kind umbringen soll?« Aber sie sprach: »Nein, du mußt es tun, entweder sie, oder ich, und dabei bleibe ich.«

Was sollte nun der arme König machen? Er widerstand lange Zeit, endlich aber sagte er zu seiner Frau: »Backe ein Brot und fülle eine Flasche mit Wein, die will ich mitnehmen und das Mädchen irgendwohin führen, um es umzubringen.« Da machte das böse Weib alles zurecht und steckte es in einen Tragsack. Der König nahm den auf die Schulter und das Mädchen an die Hand und wanderte mit ihr bald hierhin, bald dorthin, bis er endlich an einen breiten und tiefen Strom kam. Dort faßte sich Marigo ein Herz und fragte: »Sage mir, Vater, warum hast du mich in diese Einöde und diese Felsenklüfte geführt?« » Darum,« antwortete der Vater und bedachte sich unaufhörlich, ob er das tun sollte, wovor sein Herz zurückbebte, oder nicht. Endlich sprach er: »Höre, Kind, wenn ich dieses Brot und diese Holzflasche den Berg hinunterkollern lasse, willst du ihnen nachlaufen und sie wieder heraufholen?« Was sollte die Ärmste tun? Sie sprach also: »Ja, Vater, ich will sie wieder holen.«

Da ließ dieser das Brot und die Flasche den Abhang hinunterkollern, und das Mädchen lief ihnen nach, um sie wieder zu holen; der Vater aber sprach bei sich: »Es ist besser, sie leben zu lassen, mag daraus entstehen was da will, aber ich kann sie nicht töten,« und lief weg.

Nach einer Weile kam das Mädchen mit dem Brote und dem Weine wieder den Berg hinauf und sah sich nach dem Vater um, aber der war nirgends zu sehen.[159] Da rief sie, was sie konnte: »Vater, Vater, lieber Vater!« aber sie erhielt keine Antwort, und nun lief sie über Berg und Tal und jammerte in einem fort: »Mein Väterchen! mein Väterchen! Ach, ich Ärmste!« Aber der Vater war nicht zu finden. So trieb sie es, bis sie am Abend in einen Wald kam; da sprach sie bei sich: »Es wird Nacht, und ich weiß nicht, wo ich hin soll; ich will auf einen Baum steigen und dort übernachten, und am Morgen will ich den Weg nach Hause suchen. Da stieg sie auf einen Baum, und es dauerte nicht lange, so schlief sie ein, weil sie sehr müde war.«

In der Nacht kamen drei Mören vorüber. Da sprach die eine zu den andern: »Auf dem Baume sitzt ein Mädchen, wir wollen ihm sein Schicksal bestimmen.« Und die andern beiden versetzten: »Wollen wir ihm Gutes oder Böses wünschen?« Und jene sagte: »Nein, Gutes.« Da ging die älteste zum Baume und sprach: »Höre, Marigo da unten am Flusse liegt ein kleines Kind am Ufer, das sollst du aufheben, waschen und reinigen.« Darauf kam die mittlere heran und sprach: »Höre, Marigo, da unten an dem Flusse sitzt eine alte Frau mit ungekämmten Haaren, die sollst du kämmen und striegeln, bis sie glatt sind.« Endlich kam auch die dritte heran und sprach: »Höre, Marigo, wenn du da unten am Flusse noch eine Strecke weitergehst, so kommst du an ein Schloß, darin wohnen vierzig Drachen, die Brüder sind, dahin sollst du gehen und ihnen von morgen an die Stuben auskehren und ihr Geschirr abspülen; dann sollst du essen und trinken und dich verstecken, damit sie dich nicht sehen, wenn sie nach Hause kommen.«

Am andern Morgen machte sich das Mädchen auf und ging, bis es zu jenem Schlosse kam. Dort kehrte und wusch es die Stuben rein, spülte das Geschirr, und[160] nachdem es gegessen und getrunken hatte, versteckte es sich. Am Abend kamen die Drachen heim und fanden alles blank gescheuert. Da sprachen sie untereinander: »Wer hat uns den Gefallen getan? Wenn es eine Frau ist, so wollen wir sie zur Schwester annehmen, wenn es eine Alte ist, zur Mutter, und wenn es ein Mann ist, zum Bruder.« Aber das Mädchen traute sich nicht aus seinem Verstecke hervor, und jeden Morgen, nachdem die Drachen weggegangen waren, richtete es das Haus her und versteckte sich wieder. Da sprachen die Drachen eines Abends untereinander: »Es soll sich einer von uns verstecken, damit wir erfahren, wer das ist.« Am andern Morgen blieb also einer zu Hause und legte sich auf die Lauer, aber er konnte das Mädchen nicht zu Gesicht bekommen. Tags darauf versuchte es ein anderer, und so ging es Reih' um, bis am Ende der vierzigste daran kam. Der entdeckte das Mädchen, nahm es auf seinen Schoß, küßte es und rief: »Ach, nun haben wir auch ein Schwesterchen! Du sollst aber von jetzt an nicht mehr arbeiten, sondern dich unterhalten, denn wir haben große Schätze an Edelsteinen und Geld, und davon sollst du haben, soviel du nur wünschest.« Da blieb das Mädchen dort und hatte es sehr gut bei diesen vierzig Drachen.

Aber eines Morgens ging ihre Stiefmutter vor das Haus, sah in die Sonne und sprach: »Sonne, ich bin schön, und du bist schön, was um mich ist, ist schön, und was um dich ist, ist schön! Gibt es jemand in der Welt, der noch schöner wäre?« Darauf versetzte die Sonne: »Du bist schön und ich bin schön, deine Umgebung ist schön, und auch die meine, aber so schön wie die Marigo der vierzig Drachen ist niemand auf der ganzen Welt.«

Als das die Königin hörte, fing sie an, mit dem alten König zu hadern, und sprach: »Du hast deine Tochter[161] nicht umgebracht und mich angelogen.« Dieser versetzte: »Nein, ich habe sie wahrhaftig umgebracht.« Aber die Königin glaubte ihm nicht und rief: »Nein, nein! du hast sie nicht umgebracht, denn sie lebt bei den vierzig Drachen, und wenn du nicht willst, daß ich sterbe, so mußt du diese Haarnadeln nehmen und so lange suchen, bis du sie findest und ihr die Nadeln geben, denn die sind vergiftet und davon wird sie sterben.«

Was sollte der arme König tun? Er verkleidete sich als Handelsjude, nahm die vergifteten Haarnadeln, ging hierhin und dorthin, bis er endlich an den Fluß kam, an dem seine Tochter lebte, und wie er vor das Schloß der vierzig Drachen kam, rief er: »Kauft Haarnadeln! kauft Haarnadeln!« Als das Mädchen das hörte, kam es auf die Altane und rief dem Juden zu: »He! Händler!« ohne zu ahnen, daß das ihr Vater sei. Sowie der aber das Mädchen sah, erkannte er, daß das seine Tochter sei, und sprach daher: »Liebes Kind, kaufe mir eine von den Nadeln ab, denn sie sind sehr schön.« Das Mädchen erwiderte: »Was soll ich mit deinen Nadeln machen, ich habe viel schönere, denn die, welche mir die Drachen gegeben haben, sind von Diamanten.« Der Vater versetzte: »Jawohl, aber so schön wie die meinigen sind sie doch nicht. Komme, liebes Kind, und nimm mir eine Nadel ab, damit ich auch ein paar Kreuzer von dir löse.« Da ließ sich das Mädchen betören und ging hin und kaufte eine Nadel, und als sie wieder ins Haus kam, steckte sie sich dieselbe in ihre Zöpfe; kaum aber hatte sie das getan, so wurde sie ohnmächtig und fiel wie tot auf das Sofa.

Als am Abend die Drachen nach Hause kamen und das Mädchen leblos daliegen fanden, da fingen sie an, zu klagen und zu weinen, und schrieen in einem fort: »Ach, unser Schwesterchen, unser Schwesterchen!« Endlich erblickte[162] der eine von ihnen die neue Nadel in den Haaren des Mädchens und rief: »Was ist das für eine Nadel, die in ihren Haaren steckt? Die hat sie nicht von uns.« Darauf sprach ein anderer: »Bringe sie einmal her, damit wir sehen, wo sie sie her hat.« Da zog jener dem Mädchen die Nadel aus den Haaren, und sowie das geschehen war, machte das Mädchen die Augen auf und rief: »Ach, wo war ich denn so lange Zeit?« Da fragten sie die Drachen: »Was ist dir begegnet? Woher hast du diese Nadel?« Und jene erzählte ihnen nun den Hergang und sprach: »Ein Jude kam hier vorbei, von dem kaufte ich die Nadel, und sowie ich sie in die Haare steckte, wurde mir ohnmächtig.« Darauf erwiderten die Drachen: »Ei, ei, Marigo, haben wir dir nicht gesagt, daß wir dir alles geben wollen, was du nur wünschest, daß du aber ja nichts von irgend jemand anderem annehmen solltest? Siehst du nun? Ein andermal tue es nicht wieder.«

Nach einigen Tagen kam der König nach Hause zurück und da fragte ihn seine Frau: »Hast du sie vergiftet?« Und er antwortete: »Jawohl, und sie ist daran gestorben.« Als das die Königin hörte, freute sie sich sehr und ging am andern Morgen vor das Haus, sah in die Sonne und sprach zu ihr: »Sonne, Sonne! ich bin schön und du bist schön, was um mich ist, ist schön, und was um dich ist, ist schön. Gibt es jemand auf der Welt, der noch schöner wäre als wir?« Da sprach die Sonne: »Du bist schön und ich bin schön, was um dich ist, ist schön, und was um mich ist, ist schön, doch so schön wie die Marigo, welche bei den vierzig Drachen lebt, ist gar niemand auf der Welt.« Als das die Stiefmutter hörte, da wurde sie noch viel zorniger als das erstemal, und als der König am Abend nach Hause kam, empfing sie ihn jammernd und händeringend und rief: »Warum belügst du mich in[163] einem fort, daß deine Tochter tot sei? Denn sie lebt und ist frisch und gesund. Eine von uns muß sterben, entweder sie oder ich. Nimm also diese Ringe und gehe zu ihr und gib ihr den einen, denn sowie sie ihn an den Finger steckt, muß sie daran sterben.«

Da verkleidete sich der König von neuem, nahm die vergifteten Ringe, ging damit vor das Drachenschloß und rief so lange: »Kauft Ringe, kauft Ringe!« bis es das Mädchen hörte und auf den Balkon trat. Als er das Mädchen erblickte, rief er ihm zu: »Komme herunter, mein Kind, und kaufe dir einen von diesen schönen Ringen.« Das Mädchen aber antwortete: »Nein, ich will nicht, denn vor ein paar Tagen kam ein Jude hier vorüber, und von dem kaufte ich nur eine kleine Nadel und bin deswegen sehr gezankt worden; und dann haben wir selbst Ringe, so schön du sie dir nur wünschen kannst; ich mag keinen von deinen, gehe deiner Wege.« Darauf sprach der König: »Ei, mein Kind, ich sage ja nicht, daß ihr keine schönen Ringe hättet, ich bitte ja nur, daß du auch mir armen Wandersmann einen abnehmen mögest, kaufe einen und betrachte es als ein Almosen, das du mir gibst.« Durch diese Reden ließ sich das Mädchen abermals betören. Sie kam herunter, kaufte einen Ring von ihrem verkappten Vater; und als sie in das Haus zurückkehrte, zog sie ihre Ringe aus und steckte den kleinen Ring, den sie gekauft hatte, an den Finger und starb sogleich dahin.

Als am Abend die Drachen nach Hause kamen und das Mädchen leblos fanden, da riefen sie es an und schüttelten es, aber sie schlief nicht, sondern blieb leblos, und alle Mittel, die sie anwandten, waren vergeblich. Was war nun zu tun? Nachdem sie lange hin und her gesonnen, zimmerten sie einen Sarg, verzierten ihn ganz mit Perlen, setzten das Mädchen aufrecht hinein und[164] trugen sie in dem Sarge zu dem Garten eines benachbarten Königs. Dort war eine Quelle, aus der die Pferde getränkt wurden, und an dieser wuchs ein großer Baum. An diesen Baum hängten die Drachen den Sarg an vier silbernen Ketten, so daß er über die Quelle zu hängen kam.

Als nun am andern Tage die Knechte des Königs die Pferde an die Quelle zur Tränke führten, da fiel der Glanz der Perlen, mit welchen der Sarg geschmückt war, in das Wasser und blendete die Pferde so, daß sie nicht trinken wollten. Am zweiten Tage ging es ebenso und am dritten nicht besser. Da gerieten die Knechte in großen Schrecken und liefen zum Könige und sagten, daß heute der dritte Tag sei, an dem die Pferde nicht saufen wollten. Da ging der König zur Quelle, um sich selbst zu überzeugen, und als er sah, daß die Pferde nicht saufen wollten, da schaute er selbst in die Quelle und wurde von dem Glanze der Perlen geblendet, der ihm daraus entgegenstrahlte; als er nun nach oben schaute, um zu sehen, wo dieser Glanz herkäme, da erblickte er einen Sarg, der an vier silbernen Ketten hing. Er befahl also, ihn herunter zu nehmen, und nachdem das geschehen war, kamen die Pferde zur Quelle und soffen ohne Furcht.

Darauf ließ er den Sarg in sein Zimmer tragen und sobald er allein war, öffnete er ihn. Aber was sah er da! Nase und Mund blieb ihm offen vor Verwunderung über die Schönheit des Mädchens, das darin lag; aber von dem Tag an überfiel ihn ein solcher Trübsinn, daß er weder aß noch trank; wie man ihm die Speisen vorsetzte, so trug man sie wieder ab, und so ging es Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, und das nahm immer zu, so daß der Ärmste sich vor Leid vollkommen abzehrte.

Da erschien eines Tages seine Mutter vor ihm und[165] sprach: »Was ist das, mein Sohn? was fehlt dir? sagst du es nicht mir, deiner Mutter?« Er aber erwiderte: »Es fehlt mir nichts, laß mich in Frieden.« So ging es nun fast ein ganzes Jahr durch, ohne daß der König essen oder trinken wollte. Da ging endlich seine Mutter zu einem der jungen Großen des Reiches, welchen ihr Sohn besonders liebte, und sprach zu ihm: »Höre, mein Kind, mit meinem Sohne steht es so und so, und es ist nun fast ein Jahr her, daß er nicht aus seinem Zimmer gekommen ist. Gehe doch einmal zu ihm und versuche es, ob du ihn herausbringen kannst.«

Da ging der junge Mann zu dem König und sprach: »Ei, ei, Freund, was hast du denn? Was hat dich denn so heruntergebracht? Du hast ein großes Reich und ungeheure Schätze, und statt dich des Lebens zu freuen, machst du eine Miene, als ob du sterben wolltest? Und mit diesem Treiben bringst du nicht nur dich, sondern auch deine arme Mutter ums Leben. Komm, wir wollen ein bißchen ausgehen, damit du dich etwas zerstreuest.« Anfangs sträubte sich der König, aber der andere setzte ihm so lange zu, bis er ihn dazu brachte, mit ihm ein wenig auszugehen.

Kaum waren sie aus dem Schlosse, so sagte die Mutter zu ihren Mägden: »Nun kommt her, wir wollen die Stube des Königs durchsuchen, ob nicht etwas darin ist, was ihn so heruntergebracht hat.« Sie hatten damit kaum begonnen, da fanden sie auch schon den Sarg, der unter dem Sofa stand. Sie zogen ihn hervor und öffneten ihn und staunten über die Schönheit des Mädchens, welches darin lag. Darauf sprach aber die Mutter: »Also das ist es, was meinen Sohn so heruntergebracht hat; rasch, ihr Mädchen, heizt den Backofen, steckt die Leiche hinein und verbrennt sie, denn sonst stirbt mir der Sohn[166] ihretwegen.« Als nun der Ofen geheizt war und die Mägde die Leiche nehmen wollten, um sie hineinzuwerfen, da erblickte eine von ihnen den Ring, welchen sie an dem kleinen Finger hatte, und sprach: »Langsam, langsam, wir wollen ihr erst den Ring vom Finger nehmen, denn er scheint sehr kostbar zu sein.« Kaum aber hatte sie den Ring vom Finger gezogen, so richtete sich das Mädchen auf und sprach: »Ach! wo bin ich? Wo sind die vierzig Drachen, meine Brüder?« Als das die Königin hörte, befahl sie sogleich, dem Mädchen den Ring wieder an den Finger zu stecken, und sowie das geschehen war, fiel sie wieder leblos zurück. Da legten sie sie in den Sarg und stellten ihn wieder unter das Sofa.

Als der König von dem Spaziergange zurückkam, schloß er sich in seiner Stube ein, öffnete den Sarg und betrachtete das Mädchen. Nach einigen Tagen aber kam seine Mutter zu ihm und sprach: »Lieber Sohn, warum sagst du mir nicht, was dich so traurig macht?« Dieser versetzte: »Quäle mich nicht, denn du kannst mir ja doch nicht helfen.« Und sie sprach: »Wer weiß, ob ich dir nicht helfen kann,« und setzte ihm so lange zu, bis er endlich den Sarg hervorzog und sie fragte: »Kannst du das wiederbeleben, was darin ist?« »Ei, warum nicht?« antwortete die Mutter. Da öffnete der König den Sarg, und die Mutter zog der Jungfrau den Ring vom Finger, und sofort erwachte sie und richtete sich auf. Der König aber schloß sie in seine Arme und küßte sie. Da fragte sie: »Wo bin ich?« Und der König antwortete: »In einem Königsschlosse, und Königin sollst du werden.« Darauf erfolgte die Hochzeit, und der König lebt glücklich mit ihr bis auf den heutigen Tag.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 156-167.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Cardenio und Celinde

Cardenio und Celinde

Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon