Hundertneunzehnte Geschichte

[111] geschah: Er sagt Schimen hazaddik: All mein Tag is mir kein rechter Nasir (Enthaltsamer, Asket) zuhanden gekommen, der mehr leschem Schomajim (um Himmels willen) getan hat, als ein Junger. Denn einmal kam ein hübscher, feiner Junger in das Land Doraum, der hat ein hübsches Angesicht, un hübsche Augen, un goldgele[111] Haar, die waren fein gekräuselt, daß es gar ein feiner, hübscher Jung war. Un er ging un ließ sich die Haar abschneiden, daß er derselbige Jung nit mehr gleicht. Un er hat kein Gestalt mehr. Da sagt ich wider den Jung: »Mein Sohn, warum hast du dein Haar lassen abschneiden, was hast du gesehen?« Da sagt der Jung: »Ich will euch es sagen. Ich bin meines Vaters Hirt gewesen un hab einmal die Schaf getränkt. So hab ich in den Brunnen gesehen. Da hab ich den Schatten von meinem Angesicht gesehen. Da hab ich gedacht, sieh, wie ein hübscher Jung bin ich. Ich will meiner Wollust nachgehn, weil ich so hübsch bin. Dernach hab ich mich wieder bedacht, wie es eine große Awere (Sünde) is, wenn sich einer so gar hoffärtig zeigt, un laßt sich verführen von dem Jezerhore (dem bösen Trieb).« Un hab wider den Jezerhore gesagt: »Sieh, du Rosche (Bösewicht), du willst mich jetzunder gar gern machen sündigen, so will ich dir doch nit folgen. Du willst mich gern verführen, daß ich von Jener Welt sollt verloren sein, wiewol der Mensch is nit mehr als Erd un Würmer. Also hab ich bei der Awaudoh (so wahr ich Gott diene) geschworen, daß ich mein Haar will lassen abschneiden, von wegen, daß du mich nit sollst verführen. Dernach bin ich nimmer so hübsch. Un wenn einer nit hübsch is, so verführt ihn der Jezerhore nit.« Alsobald ich solches von dem Jungen gehört hab, so bin ich aufgestanden un hab ihn auf sein Haupt geküßt un hab gesagt: »Mein Sohn, all so ein Nasir wie du bist, so sollen sich mehren unter Iisroel. Denn dein Nesirus (Enthaltsamkeit) is ganz leschem Schomajim un nit von Hoffart wegen, wie man manchen jetzunder unter uns findet, die es vonwegen den Leuten tun un nit vonwegen leschem Schomajim.«

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 111-112.
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