Hundertneununddreißigste Geschichte

[132] geschah: Es fährt ein Schiff voll mit Kaufleuten über See. Un sie hatten das Schiff voll mit Sechore (Ware). Un es fährt mit den Kaufleuten ein großer Talmidchochom (Schriftgelehrter). Nun, die Kaufleute kamen zu reden miteinander, was ein jeglicher für Ware bei sich hat. So sagt er wider sie: »Ich hab meine Sechore bei mir.« Da suchten die Kaufleute im ganzen Schiff nach der Ware, denn sie meinten, daß er eitel Edelsteine bei sich hat. Aber sie konnten nix bei ihm finden. Da spotten sie den Talmidchochom aus, un daß er keine Sechore bei sich hat. Da sagt der Talmidchochom: »Warum spottet ihr meiner? Meine Sechore, die ich bei mir hab, die is viel besser als euere Sechore, die ihr in dem Schiff habt.« Nun, es begab sich, daß sie weiter in das Meer fahren, so kamen Gaslonim (Räuber) über sie un nahmten ihnen all ihre Ware, die sie im Schiff hatten. Da sie nun auf das Land kamen, da waren sie ganz arm geworden un hatten nix zu essen un zu trinken un hatten auch keine Kleider anzutun. Was tät aber der Talmidchochom? Er ging in die Stadt un ging in das Bethhamidrasch (Lehrhaus) hinein. Da hörten die Leut, wie er so ein köstlicher Mann wär. Da gingen sie flugs hin un kleideten ihn un gaben ihm auch viel Geld. Un die guten Leut, die in der Stadt waren, die gingen mit dem Talmidchochom heraus. Un wie nun die Kaufleute sehten, wie man dem Jehudi so einen großen Kowed (Ehre) antut, so gingen sie wieder un beteten ihn um Mechile (Verzeihung), derweil sie ihn so gespottet haben. Un baten ihn, daß er doch für sie sollt beten bei den Stadtleuten, daß man ihnen sollt eppes zu essen geben, um daß sie nit sollten Hunger sterben.[132] Denn er hat doch wol gesehen, daß man das ihrige hat weg genommen. Da sagt der Talmidchochom: »Hab ich es euch nit vor gesagt, daß meine Sechore is besser als euere Sechore? Denn euere Sechore habt ihr verloren, un meine Sechore hab ich noch. Un noch mehr, einer der mit Sechore handelt, der gewinnt nit allzeit. Einmal gewinnt er, einmal verliert er. Un wenn er schon gewinnt, so weiß er nit ob ihm der Gewinn bleibt oder nit. Aber die Thauroh bleibt ewig, sie bleibt auf der Welt un auf Jenem Aulom (Welt). Derhalben hab ich wahr gehabt mit meiner Sechore, die ich bei mir hab.«

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 132-133.
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