Hundertdreiundvierzigste Geschichte

[135] geschah an einem, der heißt Rabbi Jehauschue, dem träumt ein Traum, wie er soll einen Chawer (Gesellen) haben im Gan Eden (Paradies), der heißt Ninus. Un wie er zu morgens früh aufstund, da gedacht er an seinen Traum, un ging von Stadt zu Stadt, bis er gewahr ward wo der Ninus wohnte. Wie nun der Rabbi Jehauschue dicht bei derselbigen Stadt kam, wo der Ninus wohnte, da kamen[135] all die ältesten Leut, die in der Stadt waren, ihm entgegen un ehrten ihn sehr un wollten ihm mit seinen Talmidim (Schülern) zu essen un zu trinken geben. Da sagt Rabbi Jehauschue zu ihnen: »Ich will nit essen noch trinken, oder (aber) ich muß erst zu einem gehn der heißt Ninus. Der soll mein Chawer sein in Gan Eden, den will ich vor sehen, was für gute Werke er an sich hat, daß er würdig is, im Gan Eden bei mir zu sein. Dernach will ich essen un trinken mit euch.« Da sagten die Ältesten wider den Rabbi Jehauschue: »Was habt ihr mit dem Ninus zu schicken? Er is nit wert, daß er bei euch stehn soll.« Da sprach Rabbi Jehauschue: »Noch gleichwol will ich ihn sehen, all verachtet ihr ihn so viel.« Da laufen die Leut zu dem Ninus un sagten zu ihm, er sollt zu Rabbi Jehauschue kommen, er wollt mit ihm reden. Da lacht der Ninus, denn er glaubt ihnen nit, un wollt nit kommen. Also gingen die Leut wieder zu Rabbi Jehauschue un sagten: »Lieber Rabbi, er will nit kommen, er meint wir spotten seiner.« Da stund Rabbi Jehauschue auf, mit all seinen Talmidim (Schülern) un mit all die köstlichen Leut, die in der Stadt waren un gingen zu dem Ninus in sein Haus. Un wie der Ninus den Rabbi Jehauschue sah, da derschrak er gar sehr, un ging dem Rabbi entgegen un fiel ihm auf seine Füß un sprach zu ihm: »Was bedeutet das, daß ein köstlicher Raw, der da is geglichen zu einem Melach (König), zu mir in mein Haus kommt? Un ich bin so gar schofel (gering) mehr als kein Mensch.« Da sagt Rabbi Jehauschue zu ihm: »Lieber, sag du mir, was sind deine Werke auf dieser Welt? Derhalben bin ich hierhergekommen, daß ich dasselbige will fragen.« Da sprach der Ninus: »Lieber Rabbi, ich bin ein großer Oni (sehr armer Mann). Ich hab nix mehr als einen Garten, da arbeit ich alle Tag drinnen. Un hab einen alten Vater un eine alte Mutter. Un sie sind beide so alt, daß sie alle beide nit können von der Statt gehn. Un ich wart sie alle beide auf mit Kleider un mit Essen un mit Trinken, un heb sie, un trag sie, wo es ihnen von nöten tut. Un aus dem Garten dernähr ich sie.« Da antwortet ihm Rabbi Jehauschue: »Wol mir, daß ich soll einen solchen Chawer haben im Gan Eden. Denn es is keine größere Mizwe (Guttat) als daß man Vater un Mutter ehrt. Da tut der Heilige, gelobt sei er, langes Leben bescheren, wie der Posuk (die Schrift) sagt: Ehrt Vater un Mutter um willen, daß du lang leben bleibst.«

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 135-136.
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