Hunderteinundsechzigste Geschichte

[164] geschah: Rabbi Jojsse ben Kimcha, dem waren seine zwei Kinder gefangen zu Jeruscholajim, bei einem Sar (Fürsten) der war gar underbarmig. So ging ihr Vater zu ihnen un sagt: »Meine lieben Kinder, seid getrost, ich will euch mit Geld auslösen.« Sie sollten niemand nix Böses tun. Un ging Rabbi Jojsse zum Sar, zu dem Rosche (Bösewicht), un sprach zu ihm: »Mein lieber Herr, gib mir meine zwei Kinder zu lösen. Ich will dir hundert Gulden darfür geben.« Da sprach der Sar: »Nein,[164] ich will es nit tun.« Da ging Rabbi Jojsse weg un hebt seine Augen auf gegen den Himmel un weint gar sehr. Da niedert der Engel Michoel vom Himmel herunter, un kränkt den Sar sehr mit großem Wehtag. Da sahen seine Jauezim (Räte) dem großen Sar sein Chelek. So sagten sie wider ihn: »Mein Herr, hast du auch den frommen Mann derzörnt?« Da sprach er, ja. Da sagten seine Jauezim (Räte): »Derhalben hast du auch solche Wehtage. Denn dieser Mann is gar ein heiliger Mann, un Gott der Allmächtige hat ihm seine Bitt derhört un is dich mezaar (kränkt dich).« Also schickt der Sar wieder nach Rabbi Jojsse. Un wie nun Rabbi Jojsse bei dem Sar kam, da hat der Sar Menuche (Ruhe). Da sprach der Sar wider Rabbi Jojssi: »Gib mir die hundert Gulden, un nimm dir deine Kinder mit dir heim.« Da sagt Rabbi Jojsse: »Ich hab wol zwanzig Gulden dervon ausgegeben, also hab ich nit mehr als achtzig Gulden. Nimm die von mir, un gib mir meine Kinder.« Da war der Sar sehr zornig un sprach zu seinen Knechten: »Heißt ihn bald von mir gehn, oder ich werd ihn auch bei seinen Kindern setzen.« Da ging Rabbi Jojsse wieder heraus. Un alsobald als Rabbi Jojsse wieder haußen war, so hebt dem Sar sein Schmerz wieder an. Da sprach der Sar zu seinen Räten: »Laßt den Rabbi Jojsse wieder zu mir herein kommen.« Wie nun Rabbi Jojsse wieder bei ihm kam, da hat er wieder Menuche (Ruhe). Da sprach der Sar wider Rabbi Jojsse: »Nun gib mir die achtzig Gulden her, un nimm dir deine Kinder mit dir heim.« Da sprach der Rabbi Jojsse wider den Sar: »Ich will dir sechzig Gulden geben.« Denn Rabbi Jojsse sah, daß der Sar gar sehr Schmerzen hat, un hat keine Menuche wenn er nit bei ihm war. Darum wollt ihm Rabbi Jojssi noch mehr Schmerzen machen. Da sprach der Sar: »Ja, gib mir her die sechzig Gulden un nimm deine Kinder.« Da sprach Rabbi Jojsse: »Ich will dir vierzig Gulden geben.« Lesof, (zum Schluß) sprach der Sar wider Rabbi Jojsse: »Nimm dir deine Kinder hin. Du bedarfst mir kein Geld zu Lohn geben. Denn ich seh wol, daß ich keine Menuche vor dir hab.« Da schwor Rabbi Jojsse bei der Awaudoh (so wahr ich Gott diene): »Ich will nit von dir gehn bis du mir Cheschbon (Rechenschaft) gibst, wie lang du meine Kinder gefangen hast, un was die Kinder versäumt haben, das sie hätten können verdienen.« Also rechneten sie mit einander aus, daß die Kinder derweil hätten können verdient haben. Da wollt Rabbi Jojsse das Geld haben, wollt anders der Sar Menuche haben. So hat er müssen die achtzig Gulden geben un ließ ihm seine Kinder bescholaum (in Frieden) heimgehn in sein Haus.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 164-165.
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