Hundertvierundneunzigste Geschichte

[219] geschah: Es war einmal ein Mann, der spottet wenn man sollte Zdoke (Almosen) geben, denn er sprach: »Es nimmt niemand Zdoke, es sei denn, daß ihm seine Hoffnung von dieser Welt sei abgeschnitten. Derselbige hat von Nöten, daß man ihm sollt Zdoke geben.« Einmal ging derselbige Mann über die Gaß. So fand er einen armen Mann, der lag auf einem Misthaufen. Un derselbige Mann hat Kleider an, die waren gar sehr zerrissen. Da gedacht der selbige Mann,[219] dem Dasigen is eine Hoffnung von dieser Welt abgeschnitten, der bedarf, daß man ihm Zdoke soll geben. Un sprach zu demselbigen Mann, der auf dem Misthaufen lag: »Da hast du einen Gulden, zu Zdoke, denn ich seh wol, daß du es bedarfst. Denn ich seh auch wol, daß deine Hoffnung von dieser Welt is abgeschnitten.« Da antwortet der Arme dem Reichen: »Deine Hoffnung is dir abgeschnitten von dieser Welt un nit meine Hoffnung.« Da sprach der Reiche wider den Armen: »Warum fluchst du mich? Ich begehr dir Gutes zu tun.« Da sprach der Arme wieder: »Weißt du wol, daß geschrieben steht: ›Gott macht nieder die Hohen, die da hoffärtig sind, un macht hoch, die sich niedrig halten.‹ Un noch mehr, ob du schon meinst, weil ich auf dem Mist lieg, daß mir darum meine Hoffnung is abgeschnitten. Weißt du denn nit, daß geschrieben steht: ›Gott richtet auf von der Erden den Armen, von dem Mist, er erhöht den Gedrückten.‹« Da sagt der Reiche zu dem Armen: »So sag mir, wem is denn seine Hoffnung abgeschnitten von dieser Welt, der da bedarf, daß man ihm soll Zdoke geben?« Da sagt der Arme wider: »Das sind die Toten, die haben keine Hoffnung mehr auf dieser Welt.« Da sprach der Reiche: »Is es denn so, da will ich denen Zdoke geben, die auf dem Friedhof liegen.« Damit hat sich der Reiche versündigt, daß er hat gesagt wider den Armen, er könnt keine Hoffnung mehr haben auf dieser Welt. Nun, der Reiche ging hin auf den Friedhof un vergrabt hundert Gulden auf einem Kewer (Grab). Un sprach: »Sieh, du toter Mensch, ich hab dir hundert Gulden gegeben un halt dir's, denn du hast keine Hoffnung mehr in der Welt. Also bedarfst du, daß man dir soll Zdoke geben.« Un ging vor sich seiner Straß. Nun, es begab sich lang dernach, daß Gott der Allmächtige bedacht den armen Mann, der da hat auf dem Mist gelegen, un war sehr reich geworden, als einer in der ganzen Stadt möcht sein. Un jener Reiche, der war gar arm geworden, daß er nit Brot zu essen hat. Da gedacht er nebbich an die hundert Gulden, die er hat begraben auf dem Friedhof. Da gedacht er, die wären mir jetzunder gut in meinen Nöten. Ich will gehn, un will sie wieder aufgraben. Un ging auf den Friedhof un wollt dernach graben. Da derwischten ihn die Leut in der Stadt un meinten, er wollt den Toten die Tachrichim (Totenkleider) ausziehn. Un nahmen den Mann gefangen un brachten ihn vor den Obersten in der Stadt. Da war nun der Arme, der auf dem Mist gelegen hat, denn Gott hat ihn derhöht, daß der Sar (Fürst) von der Stadt war gestorben, un er war an seine Stelle gekommen. Un die Leut verklagen ihn, wie er hat wollen den toten Leuten die Tachrichim ausziehn. Also bald als der Arme den Reichen sah, da kennt er ihn un hebt an un redet gar hartiglich mit ihm. Da sprach er wider: »Gott behüte mich, daß ich solches sollt haben in meinem Sinn gehabt. Un hebt an, un sagt ihm[220] die ganze Geschichte, wie es ihm war gegangen mit dem armen Mann, wie er ihm geflucht hat un wie er hat hundert Gulden verborgen gehabt auf dem Friedhof. Die hat er jetzundert wollen holen.« Da fragt ihn der Sar: »Kennst du mich nit?« Da sagt der Arme, »wie soll ich meinen Herren kennen?« Da sagt der Sar: »Ich bin der arme Mann, der auf dem Misthaufen is gelegen, da du hast gesagt meine Hoffnung is abgeschnitten auf dieser Welt. Nun hat mich Gott derhöht, daß ich bin der Oberste in der Stadt.« Un stund auf von seinem Stuhl un küßt ihn un halst ihn un gebot gleich, daß man sollt den Mammon aufgraben un sollt es ihm wieder zustellen. Dernach sagt der Sar: »Sieh, mein lieber Freund, es soll sich keiner auf seinen Mammon verlassen. Aber weil du hast ja wollen Zdoke geben, so sollst du all dein Tag bei mir in meinem Haus sein un an meinem Tisch essen un in meinem Bett sollst du schlafen.« Derhalben, ihr Leut, seht, was die Geschichte beteut: ob einer schon is verschmäht un sehr verachtet, seht wie bald Gott ihn wieder reich macht. Un ob einer schon jetzund mit seinem Gut is wolgemut, wie bald ihn Gott der Allmächtige bringt in Armut. Derhalben nehmt die Geschichte für gut, daß ihr, Gott bewahre, auch nit kommt in Armut.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 219-221.
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