Zweihundertvierunddreißigste Geschichte

[313] geschah in König Salomos Zeiten. Da hat sich begeben, daß zwei tragendige Weiber in einer Nacht sind zu maseltow (zum Guten) gelegen, un ein Kind sah dem andern gleich, daß man eines vor dem andern nit derkennen konnt. Nun, wie es war gekommen die dritte Nacht, so hat eine Frau ihr Kind nebbich (wie bei euch) derdrückt zu tod. So stund die Frau lanzum aus ihrem Bett un ging zu ihrer Chaweres (Gesellin) Wiegen un nahm ihr lebendig Kind heraus un legt ihr das tote Kind wieder an den Platz un ging wieder nach ihrem Bett zu. Nun, jene Frau hat nebbich den ganzen Handel verschlafen, un wußt von keinerlei Sach nit. Wie nun die Frau zu morgens früh aufwacht un wollt ihrem Kind zu säugen geben, da sah sie das Kind tot in der Wiegen liegen. Da derschrack die Frau gar sehr, denn sie wußt gar wol, daß ihr Kind nit war krank gewesen. Un gedacht wol, daß das ihre Gesellin getan hat. Un lauft vor ihrer Gesellin Bett un sprach zu ihr: »Laß mich in deine Wiegen sehn, was du hier ein Kind hast[313] drinnen liegen, denn ich fercht mich, du hast mein lebendig Kind genommen un hast mir dein totes Kind, das du derdrückt hast, in den Platz für mein Kind geleget.« Die andere Frau sprach: Nein, es wär nit wahr, sondern allein das Kind wär ihr, un sagt, was hast du zu meiner Wiegen zu laufen. Nun, die zwei Weiber zankten sich gar sehr miteinander. Eine sagt gegen die andere, das lebendige Kind is mein un das tote is dein. Un die andere Frau sagt auch so. Endlich gingen sie vor den König Salomo un eine klagt über die andere, wie daß sie ihr lebendig Kind genommen hätt, un hätt ihr totes Kind wieder in den Platz gelegt. Die andere sagt es wär Scheker (Lüge), das tote Kind wär ihr un das lebendige is mein. Wie solches der König hört, da derschrack er gar sehr, derursachhalben er war noch ein junger König, der noch keinen Posuk (Vers, Urteil) hat ausgegeben, un bekam das erstemal so ein solches schweres Mischpot (Gericht, Urteil). Denn ein Kind sah wie das andere aus, so daß er nit sehen konnt, welches der Mutter gleich sah. So sprach der König wider seinen Knecht: »Geh hin, un ruf mir den Taljon (Henker) daher«. Da war der Taljon gerufen. Un wie er nun kam, so sprach König Salomo wider den Taljon: »Nimm dein bloß Schwert un teil die zwei kleinen Kinder mitten voneinander. Dann werden wir sehen, welches die rechte Mutter von Natur is. Denn die rechte Mutter wird solches nit können leiden, daß man ihr Kind soll zuschneiden, denn sie wird noch Barmherzigkeit über das Kind haben. Denn die Natur wird es nit eines zulassen, daß man ihr lebendig Kind soll zuschneiden.« Da sprach der Taljon wider die Weiber: »Kommt her, Ihr beide Weiber. Gott soll es dem Unrechten verzeihen. Das Urteil is von dem König Salomon so ausgegeben: dieweil eine jede von euch spricht, das lebendige Kind sei ihr, so kann man nit wissen, welche von euch wahr hat, dem das lebendige Kind zukommt. Derhalben soll man die zwei Kinder mitten voneinder schneiden. Un jegliche Frau soll die Hälfte von dem lebendigen Kind haben. Un von dem toten auch so. Dann hat eine soviel als die andere, daß keine bedarf darüber zu klagen.« Wie sie nun das Urteil gehört haben, da hebt die rechte Mutter an bitterlich zu schreien: »Laßt mir mein lieb Kind ungeschnitten, ich will eher bleiben sonder Kind. Un gebt es liebert der andern Frau, damit mein Kind bei dem Leben bleibt.« Damit hebt die andere Frau an: »Nein, man soll es durchschneiden mit einem Schwert, denn es soll keiner besser haben. Eine is so gut als die andere.« Wie das der König Salomo hört, daß die eine Frau wollt haben, man sollt die Kinder zuschneiden un hat kein Rachmones (Mitleid) über das lebendige Kind, un die andere Frau wollt es nit leiden, daß man ihr Kind sollt zuschneiden, un hat ja Rachmones über dem Kind, da sah der König Salomo, welches die rechte Mutter war. Da sprach er wieder den Tiljon: »Gib der Frau,[314] die da Barmherzigkeit hat über das lebendig Kind. Denn es kommt ihr zu. Sie is die rechte Mutter von dem Kind. Aber die andere derweil das Kind nit ihr is, so hat sie auch kein Rachmones über das Kind. Un sie hat ihr Kind derdrückt un jener Frau ihr Kind genommen. Derhalben soll man dieselbige Frau in das Wasser werfen«. Wie die Frau das Urteil hört, da macht sie Pleite (läuft fort). Da nahm ganz Iisroel Wunder wie der König Salomo das Urteil hat gefunden mit eitel Chochme (Weisheit) un sie freueten sich gar sehr.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 313-315.
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